Die Anarchisten. John Henry Mackay

Die Anarchisten - John Henry Mackay


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schien ihm seine Zeit die entstellteste Seite ihres Gesichtes zu zeigen.

      Vor ihm gingen zwei junge Engländerinnen. Sie waren kaum älter als sechzehn Jahre. Ihre aufgelösten und von der Nässe feuchten blonden Haare hingen lang über den Nacken hinab. Als sie sich umwandten, zeigte ihm ein Blick in ihre müden, blassen Züge, daß sie schon lange so gewandert waren - immer dieselbe kurze Strecke, Abend für Abend... An einer Straßenecke erzählte eine Deutsche im Kölner Dialekt einer anderen mit weitschallender Stimme - alle Deutschen schreien in London -, sie habe seit drei Tagen nichts Warmes und seit einem überhaupt nichts gegessen: die Geschäfte würden immer schlechter; und an der nächsten entstand ein Zusammenlauf von Menschen, in den Auban hineingestoßen wurde, so daß er die Szene mit ansehen mußte, die sich nun abspielte: eine Alte, welche Streichholzschachteln verkaufte, war mit einem der Frauenzimmer in Streit geraten. Sie schrieen einander an. »Da« - brüllte die Alte und spie in das Gesicht der vor ihr Stehenden, aber in derselben Sekunde hatte sie die Beschimpfung zurückempfangen. Einen Augenblick standen beide sprachlos vor Wut. Die Alte steckte zitternd ihre Schachteln in die Tasche. Dann schlugen sie sich gegenseitig unter dem Beifallsgebrüll der Umstehenden die Nägel in die Augen und wälzten sich schimpfend auf dem Boden umher. Bis einer der Zuschauer sie auseinanderriß, worauf sie ihre Sachen - die eine ihren zerbrochenen Schirm und die andere ihren Fetzen von Hut - auflasen und der Haufen sich lachend nach allen Seiten zerstreute.

      Auban ging weiter, dem Piccadilly Circus zu. Diese Szene - eine unter unzähligen -: was war sie weiter, als ein neuer Beweis dafür, daß die Methode, das Volk in Roheit zu erhalten, um dann von dem »Mob« und seiner Verkommenheit zu sprechen, vortrefflich anschlug?

      Musikhallen und Boxereien - sie füllen die paar freien Stunden der ärmeren Klassen Englands aus; an den Sonntagen Gebete und Predigten -: vortreffliche Mittel gegen das »gefährlichste Übel der Zeit« - das Erwachen des Volkes zu geistiger Selbsttätigkeit.

      Auban stieß unwillkürlich heftig mit dem Stock, dessen Griff er fest umspannt hielt, auf den Boden.

      Der Square, den er eben verlassen, Piccadilly und Regents Street - sie sind allabendlich und allnächtlich die belebtesten und frequentiertesten Märkte lebendigen Fleisches für London. Hierhin wirft die Not der Weltstadt unterstützt von den »zivilisierten« Staaten des Festlandes, ein Angebot das sogar eine unersättliche Nachfrage übersteigt. Von dem Anbruch der Dämmerung bis hinunter zum Aufflimmern des neuen Tages beherrscht die Prostitution das Leben dieser Zentralpunkte des Verkehrs und scheint die Achse zu sein, um welche es sich ausschließlich dreht.

      Wie wundervoll bequem - dachte Auban - machen es sich doch die Herren Leiter unseres öffentlichen Lebens! Wo ihre Vernunft vor dem Scheunentor steht und sie nicht weiter können, gleich heißt es: ein notwendiges Übel. Die Armut - ein notwendiges Übel; die Prostitution - ein notwendiges Übel. Und doch gibt es kein weniger notwendiges und kein größeres Übel als sie selbst! Sie sind es, die alles ordnen wollen und alles in Unordnung bringen; alles leiten wollen und alles von den natürlichen Wegen ablenken; alles fördern wollen und alle Entwicklung hemmen ... Sie lassen dicke Bücher schreiben, das sei immer so gewesen und müsse immer so sein, und um doch etwas zu tun, wenigstens scheinbar, begeben sie sich an die »Reformarbeit«. Und je mehr sie reformieren, desto schlimmer wird es ringsumher. Sie sehen es, aber sie wollen es nicht sehen; sie wissen es, aber sie dürfen es nicht wissen! Weshalb? Sie würden sonst unnütz - und heutzutage muß sich doch jedermann nützlich machen. Mit dem »materiellen Dahinleben« ist es nicht mehr getan. - Betrogene Betrüger! vom ersten bis zum letzten, sagte Auban lachend vor sich hin; und es lag fast keine Bitterkeit mehr in seinem Lachen.

      Aber dieser Mann, welcher wußte, daß es nie und nirgendwo Gerechtigkeit auf der Erde gab, und der den Glauben an eine himmlische Gerechtigkeit als die bewußte Lüge erkaufter Priester verachtete, oder als die bewußt- und gedankenlose Hingabe an diese Lüge fürchtete, ahnte, sooft er die Hand an die eiternde Wunde der Prostitution legte, mit Schaudern, daß hier ein Weg war, auf welchem langsam, unendlich langsam, eine träge Gerechtigkeit von den Leidenden zu den Lebenden hinaufkroch. Was ist dem Besitzenden das Volk - das Volk, welches »nicht zu gut behandelt werden darf«, damit es nicht übermütig wird? Gleichberechtigte Menschen mit den gleichen Wünschen an das Leben wie sie selbst? Törichte Schwärmereien! Eine Arbeitsmaschine, die versorgt werden muß, damit sie ihren Dienst tun kann. Und es fiel Auban die Strophe aus einem englischen Liede ein: »Unsere Söhne dienen ihnen bei Tage, unsere Töchter dienen ihnen bei Nacht—«. Ihre Söhne - gut genug zur Arbeit. Aber in der Entfernung - in der Entfernung. Ein Druck der Hand, die für sie arbeitet? Arbeit ist ihre Pflicht. Und diese Hände sind so schmutzig - von der Arbeit eines ewig währenden Tages.

      Ihre Töchter - gut genug, als Abzugskanal für den trüben Strom ihrer Lüste zu dienen, der sich sonst über die unbefleckten und reinerhaltenen Seelen der eigenen Mütter und Töchter ergießen würde. Ihre Töchter - bei Nacht! Was kauft das Geld vom Hunger und der Verzweiflung nicht?!...

      Aber hier - hier allein! - zieht die so Geopferte ihre Mörder hinein in den Strudel ihres Verderbens.

      Wie eine dunkle, drohende Wolke breitet sich über unser ganzes geschlechtliches Leben - das hier zügellos rasende, dort in die Unnatur der Ehe gepferchte - ein Heer furchtbarer Krankheiten aus, bei deren Namen jeder erbleicht, der sie hört, da keiner vor ihnen sicher ist. Und wie es einen bereits unübersehbaren Teil der Jugend unserer Tage durchfressen hat, so steht es schon wie die Erfüllung eines unausgesprochenen Fluches über einer noch im Schlummer liegenden Generation.

      Auban wurde gezwungen aufzusehen. Aus dem Restaurant des London Pavilion, dessen Gasfackeln ihre Lichtströme über Piccadilly Circus hinwarfen, taumelte eine Schar von jungen Männern der Jeunesse dorée. Auf ihren geistlosen, brutal- verlebten Gesichtern stand ihre ganze Beschäftigung nur allzudeutlich: Sport, Weiber und Pferde. Sie waren natürlich in Full dress: aber die Zylinderhüte waren eingedrückt und aus dem schwarzen Fräcken sahen von Whisky und Zigarrenasche beschmutzte und zerknitterte Hemden hervor. Unter rohem Gelächter und zynischen Ausrufen umstellten die einen einige der Halbweltlerinnen, während die anderen nach Hansoms schrieen, die eilfertig angefahren kamen; die sich kreischend wehrenden Frauenzimmer wurden hineingeschoben, und das Singen der Trunkenen erstarb in dem Fortrollen der Wagen.

      Auban überschaute den Platz. Dort vor ihm - Piccadilly hinunter - dehnte sich eine Welt des Reichtums und des Wohllebens aus: die Welt der aristokratischen Paläste und der großen Klubs, der luxuriösen Läden und der fashionablen Kunst - das ganze übersättigte und raffinierte Leben der »großen Welt«... das Trugleben des Scheins ... Der Blitz der kommenden Revolution muß hier zuerst einschlagen. Es kann nicht anders mehr sein.

      Als Auban die Straße überschritt fiel ihm die zerlumpte Gestalt eines Mannes auf, der unablässig, so oft der Wagenverkehr es zuließ, den Übergang von den Spuren der Wagen und Pferde reinigte, und jedesmal, wenn sein Besen die Arbeit getan, bescheiden auf die Aufmerksamkeit derer wartete, deren Füße er vor einer Berührung mit dem Schmutze bewahrt hatte: und es kam Auban die Lust an zu sehen, wie viele diesen Dienst überhaupt bemerken würden. Er lehnte sich etwa fünf Minuten an den Laternenpfahl vor dem Eingangsbogen von Spiere und Ponds Restaurant am Criterion und schaute der unermüdlichen Arbeit des Alten zu. In diesen fünf Minuten überschritten etwa dreihundert Personen trockenen Fußes die Straße. Den Alten sah keiner.

      Ihr macht keine guten Geschäfte? fragte er ihn, als er ihm näher kam.

      Der Alte griff in die Tasche seines zerfetzten Rockes und zeigte ihm vier Kupferstücke:

      Das ist alles in drei Stunden!...

      Und nicht einmal genug für Euer Nachtlager, sagte Auban und legte ein Sixpencestück hinzu.

      Der Alte sah ihm nach, wie er langsam mit seinen mühsamen Schritten über den Platz ging.

      Hinter Auban versanken die Lichter des Platzes, die hellen gleichmäßigen Häuser des Quadrant von Regents Street; und während sich die Weite hinter ihm verengerte und der brausende Lärm sich verlor, schritt er sicher weiter und immer weiter hinein in das dunkle, geheimnisvolle Straßengewirr von Soho...

      Um dieselbe Stunde - die neunte war nicht mehr fern - kam von Osten aus der Richtung


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