Die Anarchisten. John Henry Mackay

Die Anarchisten - John Henry Mackay


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Radikale, Freidenkerische, Liberale - alles mögliche. Sie werden sehen, die meisten Redner werden sich dagegen verwahren, Sympathie mit dem Anarchismus zu hegen.

      - Haben Sie Trupp nicht bemerkt?

      - Nein, der wird wohl nicht kommen. Ich habe ihn noch nie auf einer dieser Versammlungen gesehen.

      Auban sah sich um. Der Saal war bereits zum Ersticken gefüllt; die Gänge zwischen den Bänken dicht besetzt; um die große Gruppenphotographie der Chicagoer Verurteilten, welche im breiten Goldrahmen unter dem Rednertische hing, drängte sich eine Anzahl von Arbeitern. An dem Tische daneben machten sich mehrere Zeitungsreporter ihre Papierpausen zurecht.

      An den Eingängen wurde das Gedränge immer lebhafter. Die Türen waren weit geöffnet. An dem Schieben und Stoßen konnte man sehen, daß große Massen noch Einlaß begehrten. Einzelne drängten sich glücklich bis zu den vordersten Sitzen vor, wo noch Raum war, wenn man zusammenrückte. Als Auban dies sah, sicherte auch er sich schnell einen Platz, denn sein lahmes Bein erlaubte ihm kein stundenlanges Stehen.

      Er stemmte seinen Stock auf und kreuzte die Füße. So blieb er den ganzen Abend sitzen. Er konnte den ganzen Saal übersehen, da er auf einer der seitlichen Bänke saß; die Rednerbühne lag dicht vor ihm.

      Er zog die Resolution aus der Tasche und las sie aufmerksam und langsam durch, wie auch die Namenliste der Sprechen: »mehrere der hervorragendsten Radikalen und Sozialisten«. Er kannte die Namen und ihre Träger sämtlich, obwohl er kaum einen von ihnen im letzten Jahre wiedergesehen hatte.

      »Das Recht der freien Rede« stand auf der Tagesordnung. »Sieben Männer wegen Abhaltung einer öffentlichen Versammlung zum Tode verurteilt.« Die Resolution lautete:»- Daß die englischen Arbeiter in dieser Versammlung eindringlich ihre Mitarbeiter in Amerika auf die große Gefahr für die öffentliche Freiheit aufmerksam zu machen wünschen, welche entsteht, wenn sie zugeben, daß Bürger für den Versuch des Widerstandes gegen die Unterdrückung des Rechtes auf öffentliche Versammlungen und der freien Rede bestraft werden, da ein Recht, für dessen Erzwingung das Volk bestraft wird dadurch offenbar zu keinem Recht, sondern zu einem Unrecht wird. - Daß das Schicksal der sieben Männer, über welche das Todesurteil für Abhaltung einer öffentlichen Versammlung in Chicago, auf der mehrere Polizisten bei dem Versuch der gewaltsamen Vertreibung der Menge und der Unterdrückung der Sprecher getötet wurden, gefällt ist, die größte Wichtigkeit für uns englische Arbeiter besitzt, da ihr Fall heute der Fall unser Kameraden in Irland und vielleicht morgen der unsere ist, wenn nicht die Arbeiter auf beiden Seiten des Atlantik einstimmig erklären, daß alle, welche sich in die Rechte der Abhaltung öffentlicher Versammlungen und der freien Rede mischen, ungesetzlich und daher auf ihre eigene Gefahr hin handeln. Wir können nicht zugeben, daß die politischen Ansichten der sieben verurteilten Männer mit dem hineingezogenen Prinzip irgend etwas zu tun haben, und wir protestieren gegen ihre Verurteilung, welche, wenn sie in Kraft tritt, in Wirklichkeit das Abhalten von Versammlungen durch die Arbeiter in ihrem eigenen Interesse zu einem Hauptverbrechen in den Vereinigten Staaten von Amerika stempeln wird, da immer die Möglichkeit für die Machthaber gegeben ist, eine Menge durch Gefährdung ihres Lebens zum Widerstand zu reizen. Wir erwarten von unsern amerikanischen Kameraden, daß sie, seien auch ihre politischen Ansichten noch so verschieden, die unbedingte Freilassung der sieben Männer, in deren Personen die Freiheiten aller Arbeiter jetzt gefährdet sind, verlangen ...«

      Als Auban zu Ende gelesen hatte, sah er neben sich einen alten Herrn mit langem, weißen Bart und freundlichen Gesichtszügen.

      Mr. Marell, rief er sichtlich erfreut - Sie sind wieder hier?

      Welche Überraschung!

      Sie schüttelten sich herzlich die Hände.

      - Ich wollte Sie nicht stören - Sie lasen.

      Sie sprachen englisch zusammen.

      - Wie lange sind Sie wieder hier?

      - Seit gestern.

      - Und waren Sie in Chicago?

      - Ja, vierzehn Tage; dann in New York.

      - Ich hatte Sie nicht erwartet…

      - Ich konnte es nicht mehr ertragen, so kam ich wieder.

      - Sie sahen die Verurteilten?

      - Gewiß, oft.

      Auban beugte sich zu ihm und fragte leise:

      - Es ist keine Hoffnung?

      Der Alte schüttelte den Kopf.

      - Keine. Die letzte Entscheidung liegt beim Gouverneur von Illinois, aber ich glaube nicht an ihn.

      Leise sprachen sie weiter.

      - Wie ist die Stimmung?

      - Die Stimmung ist gedrückt. Die Knights of Labour und die Georgianer halten sich zurück. Es ist überhaupt manches anders, als man es sich hier vorstellt. Die Aufregung ist stellenweise groß, aber die Zeit ist noch nicht reif.

      - Man wird wohl alles versuchen -

      - Ich weiß nicht. Jedenfalls wird alles vergeblich sein ...

      Sie schwiegen beide. Auban sah noch ernster aus als gewöhnlich. Aber was für ein Gefühl es war, welches seine Seele beherrschte, war auch jetzt nicht zu erkennen.

      Wie sind die Verurteilten?

      - Sehr ruhig. Einige wollen keine Begnadigung, und sie werden in diesem Sinne sich aussprechen. Aber ich fürchte, die andern hoffen immer noch ...

      Es war nach acht Uhr. Die Versammlung begann, ungeduldig zu werden; die Stimmen wurden lauter.

      Auban fragte weiter, und der Alte antwortete in seiner ruhigen, traurigen Weise.

      - Sie werden sprechen, Mr. Marell?

      - Nein, mein Freund. Es ist ein anderer, jüngerer, da; er kommt auch aus Chicago, und er will einiges von dort erzählen.

      - Sind Sie morgen zu Hause?

      - Ja, kommen Sie. Ich werde Ihnen die Verhandlungen geben und die neuesten Zeitungen. Ich habe viel mitgebracht. Alles, was ich auftreiben konnte. Viel. Sie werden, wenn Sie alles lesen wollen, ein gutes Bild unserer amerikanischen Zustände bekommen.

      - Ein neuer Prozeß wird nicht bewilligt werden?

      - Hoffentlich nicht. Es würde ja nichts nützen, die Qual, die so schon unerträglich ist, würde nutzlos verlängert werden, es müßten neue, ungemessene Mittel vom Volke aufgebracht werden - noch einmal 50 000 Dollar, aus Arbeiterpfennigen zusammengehäuft - und wozu? - nein, die Hyäne will Blut …

      - Und das Volk?

      Das Volk weiß selbst nicht, was es will. Einstweilen glaubt es noch nicht an den Ernst der Sache, und wenn der Elfte da ist, ist es zu spät!

      In ihr Gespräch mischte sich ein junger Engländer, der Marell von der Socialist League her kannte. Auban sah auf. Jener sagte finster:

      - Nein, ich glaube noch immer nicht daran. Man mordet nicht am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Angesicht der Völker öffentlich sieben Menschen, deren Unschuld so klar erwiesen ist wie der Tag; man schlachtet Tausende und aber Tausende hin, aber man hat nicht mehr den Mut, in einem Lande mit den Institutionen der Staaten einzig und allein auf die Gewalt zu pochen und die Gesetze zu verhöhnen. Nein, sie tun es deshalb nicht, weil es von ihrem Standpunkt aus ein Wahnsinn wäre, das Volk auf solche Weise aufzuklären und aufzurütteln. Nein, sie werden es nicht wagen! Sehen Sie hin, hier allein diese vielen - und so täglich in allen freieren Ländern, hier und drüben: diese Versammlungen, diese Zeitungen, diese Flut von Flugschriften! Wo ist der Mensch, der noch Vernunft und Herz hat und sich nicht empört - sind die Scharen zu zählen, die drüben sich erheben? Ihr Wille sollte nicht stark genug sein, um jenen erkauften Schurken Furcht einzujagen, daß sie abstehen von ihrer Freveltat? Nein, sie werden es nicht wagen, Comrade! Es wäre ihr eigenes Verderben!

      Die beiden, zu denen er sprach, zuckten die Achseln. Was sollten sie ihm antworten? -

      Sie hatten


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