Die Anarchisten. John Henry Mackay
diese Hoffnung, beteuerte Trupp hartnäckig.
Auban fiel ein:
- Was macht euer Blatt?
- Es geht langsam. Liest du es?
- Ja. Aber doch nur selten. Ich habe das wenige Deutsch verlernt, das ich auf der Straße hörte.
- Wir redigieren es auch gemeinsam. Ohne Kommission, ohne Redakteur. An einem Abend der Woche kommen zusammen, die Lust und Zeit haben, und das Eingelaufene wird verlesen, besprochen und zusammengestellt.
- Deshalb ist der Inhalt aber auch so merkwürdig verschieden und uneinheitlich. Nein, hinter einem Blatte muß eine Persönlichkeit stehen, eine volle, interessante Persönlichkeit - Trupp unterbrach ihn ungestüm.
- Ja, und dann hätten wir wieder das »Führertum«. Aus einem Verwalter wird immer ein Regierer (er sah nicht das beistimmende Nicken Aubans), hier im Kleinen, dort im Großen! Unsere ganze Bewegung hat darunter furchtbar gelitten, unter diesem Zentralismus. Wo im Anfang reine Begeisterung war, ist sie in Selbstgefälligkeit aufgegangen; wirkliches Mitgefühl und Liebe in dem Streben, selbst die Retter zu spielen. So haben wir denn überall schon Oben und Unten, die Herde und den Leithammel; auf der einen Seite den Dünkel, auf der andern Seite gedankenlose und fanatische Nachbeterei der Parteilehren …
- Aber du hast mich in der Tat völlig mißverstanden. Als ob ich je etwas anderes geglaubt hätte! Ich mißtraue überhaupt einem jeden, der sich anmaßt andere vertreten, für andere sorgen und die Verantwortung für die Angelegenheiten ander» auf seine eigenen Schultern nehmen zu wollen. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten und laß mich für die meinen sorgen - das ist ein gutes Wort. Und wirklich Anarchismus.
- Ich bin auch Anarchist.
- Nein, mein Freund, das bist du nicht. Du vertrittst in jeder Beziehung das Gegenteil der wirklich anarchistischen Ideen. Du bist durch und durch Kommunist, nicht nur deinen Ansichten, sondern deinem ganzen Empfinden und Wünschen nach.
- Wer will mir das Recht bestreiten, meine Ansichten anarchistisch zu nennen?
- Niemand. Aber ihr bedenkt nicht, welche unheilvolle Verwirrung entsteht durch das Zusammenwerfen so völlig verschiedener Begriffe. Indessen, warum jetzt über die alte Frage streiten! Komm am Sonntag. Wir können wieder einmal diskutieren. Weshalb nicht?
- Meinetwegen! Du bist und bleibst ja doch der Individualist, zu dem du geworden bist, seitdem du die soziale Frage »wissenschaftlich« studiert hast! Ich wollte, du wärst noch derselbe, der du warst, als ich dich in Paris sah, damals, mein Lieber!
- Nein, ich nicht, Otto! sagte Auban und lachte laut auf. Trupp war gereizt.
Du weißt nicht was du verteidigst! Ist der Individualismus nicht etwa die Entfesselung aller schmutzigen Eigenschaften des Menschen, des Egoismus vor allem, und hat er nicht all dies Elend geschaffen - die Freiheit auf der einen ...
Auban blieb stehen und sah den Sprechenden an.
- Heute Freiheit des einzelnen? Heute, wo wir im kompliziertesten und brutalsten Kommunismus stecken, wie nie vorher? Heute, wo der einzelne von seiner Geburt an bis zu seinem Tode vom Staat von der Gemeinschaft mit Beschlag belegt wird? - Geh die Welt zu Ende und sage mir, wo ich diesen Verpflichtungen entgehen und Ich sein kann. Ich will zu ihr, zu dieser Freiheit, die ich vergebens gesucht habe, solange ich lebe!
- Aber deine Ansichten geben der Bourgeoisie nur neue Waffen in die Hand ...
- Wenn ihr die Waffen nicht selbst gebraucht, die einzigen überhaupt, an die ich noch glaube. Nur dann. - Denn sicherlich: sie. diese langsam reifenden Ideen des Egoismus (mit Absicht brauche ich dies Wort) - sie sind in gleicher Weise gefährlich den heutigen Zuständen, wie sie es sein werden, wenn wir in den Hafen des alle beglückenden Volksstaates, in den verdichteten Kommunismus, eingelaufen sind - gefährlicher als all eure Bomben und alle Bajonette und Mitrailleusen der heutigen Machthaber.
- Du hast dich sehr verändert, sagte Trupp ernst.
- Nein, Otto. Ich habe mich nur selbst gefunden.
- Wir müssen darauf zurückkommen. Es muß sich entscheiden …
- Ob ich noch zu euch gehöre oder nicht? Das ist doch wohl nur eine Redensart Denn der Freie - und du willst doch die ganze, unbeschränkte Autonomie des Individuums - kann nur sich selbst gehören.
Sie waren jetzt in Charlotte Street eingetreten, die in ihrer Länge und trüben Dunkelheit vor ihnen lag.
Sie bogen in eine der Nebenstraßen ein, in einen der fast menschenleeren und halbhellen Durchgänge, welche sich östlich nach dem Lärm von Tottenham Court Road hinziehen.
- Wir müssen jetzt deutsch sprechen, sagte Auban in dieser Sprache, die aus seinem Mund ungeübt und fremd klang.
Sie standen still vor einem schmalen, hellangestrichenen Hause.
Über der Tür, auf der durch das dahinter flackernde Licht erhellten Scheibe, stand der Name des Klubs.
Trupp stieß schnell die Tür auf, und sie traten ein.
Zweites Kapitel: Die elfte Stunde
Am Abend des Freitags in der nächsten Woche fuhr Carraid Auban die endlos lange City Road mit dem Omnibus hinunter. Er saß neben dem Kutscher - einem Gentleman mit Seidenhut und tadellosem Äußern - und verfolgte ungeduldig die allmähliche Abnahme der Entfernung, welche ihn von seinem Ziele trennte. Er war erregt und mißgestimmt. Als der Wagen am Finsbury Square hielt, sprang er schnell ab, eilte das Pavement bis zur nächsten Querstraße hinunter, nachdem er einen orientierenden, prüfenden Blick auf die Lage der Straßen geworfen hatte, und befand sich nach wenigen Minuten an den Treppen von South Place Institute.
Schon von weitem war eine ungewöhnlich starke Menschenansammlung bemerkbar. In Entfernungen von je einigen Schritten standen Polizisten. Die Türen des dunklen, kirchenartigen Gebäudes waren weit geöffnet; während Auban sich mit dem Strom langsam hineindrängte, wechselte er mit einigen Bekannten, die sich dort aufgestellt hatten und die Zeitungen ihres Vereins oder ihrer Richtung verkauften, flüchtige Worte des Grußes. Aus den Antworten sprach öfters Erstaunen oder Freude, ihn zu sehen.
Er nahm mit, was er von den feilgebotenen Blättern erlangen konnte: »Commonweal«, das interessante Organ der Socialist League; »Justice«, das Parteiorgan der Socialdemocratic Federation; und einige Nummern der neuen deutschen Zeitschrift »Londoner Freie Presse«, dem Unternehmen einer Anzahl deutscher Sozialisten verschiedenster Richtung, weichet ein Zentralorgan fiir ihre Ansichten bilden und der Propaganda unter dem deutschredenden Teil der Londoner Bevölkerung dienen sollte. Auban kehrte nie von diesen Meetings zurück, ohne die Brusttasche mit Zeitschriften und Pamphleten angefüllt zu haben.
An der inneren Eingangstür wurde die Resolution des Abends verteilt; große, klar bedruckte Quartblätter.
Der Saal war von ziemlich gleicher Breite und Tiefe; an den Wänden zog sich eine breite Galerie hin, die bereits fast gefüllt war. Im Hintergrund befand sich eine mannshohe Empore, auf der eine Anzahl von Stühlen für die Sprecher aufgestellt war. Sie war noch leer. Der Saal machte den Eindruck einer zu kirchlichen Zwecken bestimmten Halle. Darauf deutete auch die Form der Bänke hin.
An diesem Abend jedoch war nichts bemerkbar von dem gleichgültigen, mechanisch-stillen Treiben einer religiösen Versammlung. Eine aufgeregte, lebhaft bewegte, ihre Gedanken laut austauschende Menge nahm die Bänke ein. Auban übersah sie schnell. Er erblickte zahlreiche bekannte Gesichter. An der Ecke des Saales, in der Nähe der Plattform, standen einige der Redner des Abends. Auban durchschritt die Reihen der sich stetig füllenden Bänke und ging auf die Gruppe zu. Mit einzelnen wechselte er einen stillen Händedruck; anderen nickte er zu.
- Nun, Sie werden doch auch sprechen, Mr. Auban? wurde er gefragt.
Er schüttelte abwehrend den Kopf:
- Ich mag nicht englisch reden, überhaupt nicht reden. Das ist vorbei. Und was sollte ich sagen? Was man sagen möchte, darf man nicht aussprechen. - Es ist ein gemischtes Meeting? - fragte