Die Anarchisten. John Henry Mackay

Die Anarchisten - John Henry Mackay


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mußten, was es wohl gäbe, das sie noch in Erstaunen und Entrüstung zu setzen vermochte. -

      Auban sah, wie die Hände des Alten zitterten, in denen er einen grauen, abgetragenen Hut hielt, und wie er dieses leichte Zittern, in dem sich seine ganze innere Erregung kundgab, dadurch zu verbergen suchte, daß er nachlässig mit ihm spielte.

      - Sie glauben, den Anarchismus ins Herz zu treffen, wenn sie einige seiner Vertreter hängen, sagte er nun. Auban merkte, daß er jetzt nicht näher auf das Gespräch eingehen wollte, und schwieg.

      Aber er dachte weiter: Was ist »Anarchismus«? -

      Die in Chicago Verurteilten? - Ihre Ansichten waren teils sozialdemokratisch, teils kommunistisch; nicht zwei hätten auf irgendeine ihnen vorgelegte und die Grundideen betreffende Frage gleichlautend geantwortet - und doch nannten sich alle und wurden alle »Anarchisten« genannt; aber wann hatte der Individualismus trotziger gesprochen als aus den Worten jenes jungen Kommunisten, welcher seinen »Richtern« zugedonnert hatte: »Ich verachte Euch, ich verachte Eure Gesetze, Eure 'Ordnung', Eure 'Gewaltherrschaft'« - und: »Ich bleibe dabei: Wenn man uns mit Kanonen bedroht, werden wir mit Dynamitbomben antworten!« -

      Und weiter der Greis, der neben ihm saß! Auch er nannte sich »Anarchist«... Und was predigte er immer und immer wieder in seinen zahllosen Flugschriften? Die Liebe. »Was ist Anarchie?« fragte er. Und antwortete: - »Es ist ein Gesellschaftssystem, in welchem keiner die Handlungen seines Nachbarn stört; wo Freiheit frei von Gesetz ist; wo Vorrecht nicht existiert; wo Gewalt nicht der Ordner menschlicher Handlungen ist. - Das Ideal ist das zweitausend Jahre früher von dem Naza-rener verkündete: die allgemeine Brüderlichkeit der ganzen menschlichen Familie.« - Und schmerzlich rief er immer wieder aus: »Rache ist die Lehre, gepredigt von der Kanzel, von der Presse, von allen Klassen der Gesellschaft! - Nein, Liebe! Liebe! Liebe! predigt!…«

      Auban, der sich dieser Worte erinnerte, dachte daran, wie gefährlich es doch war, so allgemein. so verschwommen, to obenhin zu denen zu sprechen, die noch so wenig verstanden, den Sinn und den Wert der Worte zu prüfen. So ballte sich mehr und mehr das Unvereinbare und das Fronde zu einem Knäuel zusammen, vor dessen Lösung viele zurückschreckten, die sonst gerne den einzelnen Fäden nachgegangen wären ...

      Auban hatte den alten Herrn erst vor kurzem kennengelernt. Es war bei einer Debatte gewesen, in welcher über die Unterschiede des individualistischen und des kommunistischen Anarchismus disputiert wurde. Mr. Marell war der einzige gewesen, welcher - wie er selbst glaubte - den ersteren vertrat Seine Darlegungen hatten Auban interessiert. Er hatte in ihnen trotz ihrer Inkonsequenz manches seinen eigenen Ergebnissen Verwandte gefunden. So waren sie miteinander bekannt geworden und hatten sich einige Male gesehen, bevor jener nach Amerika zurückkehrte, um dort, wie er sagte, noch zu tun, was in seinen Kräften stand. Da er nie über sich sprach, wußte Auban nicht, welcher Art diese Bemühungen sein sollten, und nach dem, was er heute abend von ihm gehört hatte, konnte er sehen, daß auch sie erfolglos geblieben waren. Jedenfalls schien dieser Mann ein sehr verzweigtes Netz von Verbindungen aller Art in der Hand zu haben, denn er kannte sowohl alle bei dem Prozeß der Acht beteiligten Persönlichkeiten, wie er auch über die Ausdehnung der anarchistischen Lehren in Amerika anscheinend genau unterrichtet war.

      Seine Flugblätter waren sämtlich mit »Der Unbekannte« unterzeichnet. - In London fiel der Alte wenig auf. Er sprach selten öffentlich, und die Flut der revolutionären Bewegung Londons treibt zu viele Persönlichkeiten heute an die Oberfläche, um sie morgen wieder zu verschlingen, als daß in diesem beständigen Kommen und Gehen dem flüchtig Vorüberziehenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden könnte.

      Er fragte den Engländer jetzt nach einigen der Anwesenden.

      Auban lehnte sich zurück.

      - Wer ist das?

      Er zeigte auf eine Frau in einfachem, dunklem Kleide, welche in ihrer Nähe saß. Ihre ausgeprägten Züge verrieten lebendigstes Interesse an allem, was um sie her vorging, und sie sprach lebhaft und lachend mit ihrer Nachbarin.

      - Ich weiß nicht, antwortete der Engländer. Aber dann erinnerte er sich, sie einmal in einem der deutschen Klubs gesehen zu haben, und er fügte hinzu:

      - Ich weiß nur, daß sie eine Deutsche ist, eine deutsche Sozialistin. Ehrgeizig, aber ein gutes Herz. Sie hat lange in Berlin für die Abschaffung der ärztlichen Untersuchung der Prostituierten gewirkt.

      Der wißbegierige Alte fragte weiter:

      - Und wer ist das, mit dem sie jetzt spricht?

      Der Engländer sah hin. Es war ein junger Mann, den er ebenfalls nur flüchtig kannte.

      - Ich glaube, das ist ein Dichter, sagte er. Sie lächelten beide.

      - Er hat ein soziales Gedicht geschrieben.

      - Haben Sie es gelesen?

      - O nein, ich lese nicht deutsch.

      - Er sieht weder aus wie ein Dichter noch wie ein Sozialist Glaubt er, mit seinen Gedichten die Welt verbessern zu können? - Er wird eines Tages sehen, wie nutzlos sie sind, und daß die Menschen zuerst Brot haben müssen, ehe sie an anderes zu denken imstande sind. Wenn man nichts zu essen hat, hört die Poesie auf.

      Der Jüngere lächelte über den Eifer des Alten, welcher ungestört fortfuhr, während Auban die Menge musterte:

      - Man kann die zartesten Liebesgedichte schreiben und wie ein Metzgermeister den blutigsten Scheußlichkeiten zusehen. Und man wird hingehen und eine Jubelhymne auf die »tapferen Krieger« dichten, die Mörder, welche bluttriefend aus den Schlachten kommen. Man kann die »Leiden der Völker« besingen und in der nächsten Stunde der »gnädigen Frau « im Ballsaale die Hand küssen, die kurz vorher den Bedienten geohrfeigt hat. Aber worüber sprechen wir denn? Sagen Sie mir lieber, wer jener Mann dort ist?

      - Einer von unseren Parlamentskandidaten. Ein Charakter, loser Lump. Ein Schreier. Wenn er die Macht hätte, würde er ein Tyrann sein. Aber auch so verdirbt er genug.

      - Sie wandten jetzt beide ihre Aufmerksamkeit der Versammlung zu. Auban war noch immer in Gedanken versunken. Die Stuhlreihen auf der Empore füllten sich mit den Vertretern und Abgesandten aller Vereinigungen, welche das Massenmeeting einberufen hatten.

      Man sah einige Frauen unter ihnen. - Den Chair hatte ein blasser, etwa vierzigjähriger Mann in der Tracht eines Priesters der Hochkirche eingenommen. Er wurde mit Beifall begrüßt, als seine Wahl zum Chairman mitgeteilt wurde. Auban kannte ihn, es war ein christlicher Sozialist, der seit langen Jahren unter den Armen des East End wirkte. Wegen seiner Gesinnung war ihm das Recht der Ausübung seines Berufes entzogen worden. Die Kirche ist der größte Feind jedes Charakters.

      Er eröffnete jetzt die Versammlung. Er sagte, daß diese aus Menschen der verschiedensten Lebensanschauungen zusammengesetzt sei, aus Radikalen und Antisozialisten so gut wie aus Anarchisten und Sozialisten, die aber in dem einen Wunsche sich geeinigt hätten, gegen die Unterdrückung des Rechtes der freien Rede zu protestieren. Er sei kein Anarchist, wie die in Chicago Verurteilten, er habe eine starke Abneigung gegen ihre Doktrinen, aber er fordere für ihre Ausleger und Anhänger genau dieselbe oder eine noch größere Freiheit, wie er sie selbst - der Priester einer christlichen Kirche - für die Kundgebung seiner eigenen Ansichten für sich in Anspruch nehme. Allen stehe das gleiche Recht zu, dem, was sie als Wahrheit erkannt hätten und für Wahrheit hielten, zu dienen, und darum verlange er im Namen seines Gottes und im Namen der Menschlichkeit die Freilassung dieser Männer. Als er geendet hatte, wurde eine große Anzahl von Telegrammen, Zustimmungsadressen und Briefen aus allen Gegenden Englands verlesen. Viele von ihnen wurden mit Jubel aufgenommen.

      Auban wußte, daß manche dieser Vereinigungen ihre Mitglieder nach Tausenden zählten; er hörte unter den verlesenen Namen einige von größtem Einfluß. Männer der Feder, deren Werke jedermann las - was taten sie alle, die ebenso wie er selbst von der Ruchlosigkeit jenes Urteils überzeugt waren? Sie beruhigten ihr Gewissen mit einem Protest. Was hätten sie tun können? Ihr Einfluß, ihre Stellung, ihre Macht - sie wären vielleicht stark und eindringlich genug gewesen, die Ausübung jener Tat unmöglich zu machen, einer zum Bewußtsein gekommenen und allgemeinen Entrüstung gegenüber.


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