Die Anarchisten. John Henry Mackay

Die Anarchisten - John Henry Mackay


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Zeit, sie, die ihre wahren Herrscher hätten sein können.

      Aus seinen Gedanken wurde Auban durch eine Stimme aufgerüttelt, welche er oft vernommen hatte. Neben dem Tische auf der Plattform stand eine kleine, schwarzgekleidete Frau. Unter der Stirne, welche halb von dichtem, kurzgeschnittenem Haar wie von einem Kranze bedeckt war, leuchteten schwarze, begeisterte Augen. Die weiße Halskrause und das überaus einfache, fast mönchische, 1angniederwallende Gewand schienen einem vergangenen Jahrhundert anzugehören. Wohl nur wenigen aus der Versammlung war sie bekannt; wer sie aber kannte, der wußte, daß sie die treueste, tätigste und leidenschaftlichste Vorkämpferin des Kommunismus in England war. Auch sie nannte sich Anarchistin.

      Sie war keine hinreißende Sprecherin; aber in ihrer Stimme lag jener Stahlklang unerschütterlicher Überzeugung und Ehrlichkeit, der den Hörer oft mehr packt als die glänzendste Vortragskunst.

      Sie gab ein Bild aller jener Ereignisse, welche in Chicago der Verhaftung und Verurteilung der Genossen vorhergegangen waren. Klar - Schritt für Schritt- zogen diese Ereignisse an den Augen der Hörer vorüber ...

      Sie erzählte von dem Entstehen und Wachsen der Achtstundenbewegung in Amerika, von den Bemühungen früherer Jahre, den achtstündigen Arbeitstag bei der Regierung durchzusetzen; von deren Erfolgen... Sie erklärte, wie es gekommen war, daß die Revolutionäre von Chicago sich der Bewegung angeschlossen hatten, ohne sich über ihre Bedeutung und ihren eigentlichen Wert zu täuschen; von den unermüdlichen Bestrebungen der Internationalen Arbeiterassoziation; und wie jene Männer, welche jetzt ihren Tod vor Augen sahen, an die Spitze der Bewegung getrieben wurden ...

      Sie versuchte dann, jene ungeheure Aufregung zu schildern, welche den Maitagen des vorigen Jahres voranging: die fieberhafte Spannung in den Kreisen der Arbeiter, die erwachende Angst in denen der Ausbeuter ... Die reißende Zunahme der Streikenden bis zu jenem Tage, dem ersten Mai, der, von allen erwartet, die Entscheidung herbeiführen sollte ...

      Dann ließ sie diese Maitage selbst vor den Augen der Versammlung emporsteigen:

      - Mehr als 25 000 Arbeiter legen an ein und demselben Tage ihre Arbeit nieder, in der Zeit von drei Tagen hat sich ihre Zahl verdoppelt. Der Streik ist ein allgemeiner. Die Wut der Kapitalisten ist nur mit ihrer Angst vergleichbar. Allabendlich werden an vielen Orten der Stadt Meetings abgehalten. Die Regierung entsendet ihre Büttel und läßt in eine dieser friedlichen Zusammenkünfte feuern: fünf Arbeiter bleiben auf der Stelle...

      Wer hat die Mörder dieser Männer zur Rechenschaft gezogen? - Niemand!

      Die Rednerin machte eine Pause. Man hörte ihre innere Erregung aus dem Klange ihrer Stimme heraus, als sie fortfuhr.

      Am folgenden Abend wird von den Anarchisten auf dem Haymarket ein Meeting einberufen. Es verläuft ordentlich; die Ansprachen der Redner sind trotz dem Vorhergegangenen so wenig aufreizend, daß der Mayor von Chicago - bereit, bei dem ersten ungesetzlichen Wort die Versammlung aufzulösen - dem Polizeiinspektor bedeutet, er könne seine Leute nach Hause schicken. Aber statt dessen läßt dieser sie abermals gegen die Versammelten anrücken. In diesem Augenblick fliegt von unbekannter Hand eine Bombe in die Reihen der Angreifer. Die Polizei eröffnet ein mörderisches Feuer ...

      - Wer hat die Bombe geworfen? - Vielleicht die Hand eines Verzweifelten, der sich so gegen die neue Niedermetzelei verteidigen wollte; vielleicht - es war die in den Arbeiterkreisen Chicagos vorherrschende Meinung - einer der beauftragten Agenten der Polizei selbst: denn wer kennt nicht die Mittel, zu denen unsere Gegner greifen, um uns zu vernichten? - War es so, dann hat er seine Sache wohl besser gemacht, als man selbst erwartet hatte ...

      Wer hat die Bombe geworfen? - Wir wissen es so wenig, wie jene acht Männer es wissen, die in dem ungeheuren Entsetzen, welches sich nach dieser Stunde über Chicago breitete, aufs Geratewohl herausgegriffen wurden, da sie die bekanntesten Namen in der Bewegung trugen, obwohl mehrere von ihnen überhaupt auf der Versammlung nicht zugegen gewesen waren. Aber was tat das? Es hinderte den Gerichtshof ebensowenig, sie gefangenzunehmen, wie es ihn hinderte, sie der geheimen Verschwörung für schuldig zu erklären, trotzdem sich einige unter ihnen nie vorher gesehen hatten.

      Weshalb sind sie verurteilt? schloß sie. - Nicht weil sie ein Verbrechen begangen haben - nein, weil sie die Anwälte der Armen und Unterdrückten gewesen sind! Nicht weil sie Mörder sind - nein, weil sie es gewagt haben, dem Sklaven über die Gründe seiner Sklaverei die Augen zu öffnen. Diese Männer, deren tadelloser Charakter sogar nicht von den gehässigsten Angriffen der »Organe der öffentlichen Meinung« beschmutzt werden konnte, werden gehängt, weil sie selbstlos, wahr und treu ihren Überzeugungen gedient haben in einer Zeit, in welcher unangetastet nur der bleibt, der als Lügner mit den Lügnern geht!

      Sie schwieg. Alles hatte gespannt zugehört. Jetzt klatschten viele.

      Auban verfolgte sie mit seinen durchdringenden Blicken, wie sie die Treppe der Empore in den Saal hinunterstieg und sich, als sie alle Bänke besetzt fand, unbekümmert und gleichgültig auf den Stufen niederließ. Es war, als wollte er durch die Hand, welche sie wie in körperlichen Schmerzen vor die Augen breitete, hindurchsehen in die Tiefe ihrer Seele, um auch hier die Bestätigung seiner tiefsten Überzeugung zu finden, welche die letzte war, die zu erwerben ist: die Selbstsucht alles Seienden. Und auch hier scheute er sich nicht einen Augenblick, sich zu gestehen, daß diese Frau glücklicher sein mußte in diesem Leben voll Mühe, Aufopferung und Entsagung, als sie es gewesen wäre, wenn sie jenes weitergelebt hätte, welches sie in Wohlhabenheit und Sorglosigkeit hatte aufwachsen lassen, und das sie verlassen hatte, um - wie sie und alle anderen glaubten - der »Sache der Menschheit« zu dienen, während sie auch dann nur, wenn auch völlig unbewußt, dem Rufe ihres eigenen Glückes gefolgt war.

      Das minutenlange Rauschen und Sprechen im Saale legte sich, und Aubans Blicke und Gedanken wandten sich wieder der Tribüne zu, von welcher die Stimme des Chairman den Namen des nächsten Redners herabrief.

      Sehen Sie dort, sagte Mr. Marell zu Auban. Dieser junge Mann kommt aus Chicago. Er wird Ihnen einiges von dort erzählen. Er ist erst heute von Liverpool hier eingetroffen.

      Auban hörte gespannt zu: der Amerikaner erzählte einige der wenig bekannten Details des Prozesses, die das ganze Verfahren gegen die Angeklagten besser kennzeichneten als alles andere. Er beschrieb die Vorgänge bei der Zusammensetzung der Jury, indem er die Worte des Bailiff anführte: »Ich habe diesen Fall in Händen und weiß, was ich zu tun habe. Diese Leute werden auf alle Fälle gehängt. Ich lade solche Männer zur Wahl, welche die Verteidiger verwerfen müssen - bis sie bei denen angelangt sind, welche sie wahllos annehmen müssen«... Er schilderte die Persönlichkeit des Staatszeugen, jenen verlogenen Schuft, der von der Polizei Geld erhalten hatte, um alles zu sagen, was diese wollte ... ; die beiden andern Belastungszeugen, die man vor die Wahl gestellt hatte, entweder mitgehängt zu werden oder frei auszugehen und die »Wahrheit« zu sagen.

      - Werden solche Menschen nicht alles sagen, was man von ihnen verlangt, wenn sie Tod oder Freiheit vor Augen haben? rief der Redner, und laute Zustimmungsrufe aus allen Teilen des Saales folgten seinen Worten. Als er dann die Worte jenes brutalen und berüchtigten Polizeihauptmanns wiedergab: »- Wenn ich nur tausend dieser Sozialisten und Anarchisten gleichzeitig in einem Bündel zusammen hätte, mit ihren verdammten Weibern und ihrer Brut, ich würde kurzen Prozeß mit ihnen machen«; und als er von jener ehrlosen »paid and packed jury«,welcher für ihre »Dienste« von den Geldprotzen Chicagos durch den Mund eines ihrer Organe die Belohnung von hunderttausend Dollar angeboten war, sprach, brach ein ungeheurer Sturm von Entrüstung und Verachtung los. Zwischenrufe wurden laut, Drohungen hörbar.

      Noch wogte die Aufregung zwischen den Reihen der Versammlung, als schon der junge Amerikaner abgetreten war und einem kleinen Mann, gekleidet in langen Gehrock, mit dichtem und langem Vollbart, sich lichtendem Haupthaar und unverkennbar slawischem Typus, Platz gemacht hatte, und die Rufe der Entrüstung und des Unwillens verwandelten sich plötzlich in jubelnde Zurufe des Erkennens und der Verehrung, der Begeisterung und der Zuneigung.

      Gewiß waren unter den Tausenden nicht viele, welche diesen Mann nicht kannten, der vertrauter begrüßt wurde als irgendeiner der englischen Leader; die nicht schon vernommen hatten von seinen merkwürdigen Schicksalen, seiner wunderbaren Flucht aus den Festungen


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