Evolution und Schöpfung in neuer Sicht. Hans Kessler

Evolution und Schöpfung in neuer Sicht - Hans Kessler


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Regionen“ handelt. „Klar ist heute, dass möglicherweise nur eine kleine Anzahl von Mutationen in entscheidenden Genen zum Teil große morphologische Veränderungen hervorrufen“, also „große entwicklungsbiologische Effekte“ haben kann (Meyer 2008, Z3)12 – wobei freilich nie vergessen werden darf, dass sich die Abwandlungen nur erfolgreich fortpflanzen können, wenn sie in die bereits vorhandenen organismischen Strukturen passen, diese also nicht behindern oder zerstören.

      Darüber hinaus gibt es einen zwingenden Grund für die Annahme von Evolution: Wenn Organismen als lebende Systeme auf Stoff- und Energiewechsel angewiesen sind und zugleich ihre Fortpflanzung mit störanfälliger Vererbung verbunden ist (was beides nicht zu bestreiten ist), dann ist Evolution unausweichlich. Denn die durch zufällige Mutation im Erbgut bewirkte Variation führt zu Unterschieden der Beschaffenheit und Leistungsfähigkeit der Organismen (in Nahrungsbeschaffung, Energiewandel, Mobilität, Fortpflanzungsfähigkeit), somit zu Konkurrenz und zu natürlicher Selektion (Peters 1984).

      Der Ausdruck Evolutionstheorie ruft nicht selten Missverständnisse hervor. Denn in der Alltagssprache wird oft abwertend gesagt „das ist nur eine Theorie“, und man will damit sagen, dass die Erkenntnisse nur sehr unsicher seien; eine Theorie wäre dann kaum besser als eine Spekulation. In den Wissenschaften versteht man unter Theorie jedoch etwas anderes: Theorie bezeichnet eine einheitliche Formulierung des Wissens, die alle bekannten Beobachtungen zu einem bestimmten Thema so zusammenfasst, dass sie die fraglichen Sachverhalte überprüfbar erklärt, und die so lange gültig bleibt, bis neue Beobachtungen sie widerlegen oder zu neuen Interpretationen zwingen. In den Wissenschaften sind Theorien also das Beste, was möglich ist; sie sind gut gesichert, aber falsifizierbar, daher keine endgültigen Wahrheiten.

      In diesem Sinne ist die Evolutionstheorie eine heute besonders gut bestätigte und gültige wissenschaftliche Theorie. Sie ist die zentrale und wichtigste Theorie der Biologie überhaupt (Dobzhansky 1973, 125: „Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution“) und zugleich eine der erfolgreichsten naturwissenschaftlichen Theorien, die inzwischen weit in andere Disziplinen (von der Kosmologie bis zur Gesellschaftsforschung) ausstrahlt. Sie erklärt das Entstehen der Dinge und Lebewesen aus schon vorhandenen Dingen. Aber sie erlaubt keine Vorhersagen über das künftige Entstehen im Einzelnen, sondern kann lediglich sagen: Wenn sich irgendwelche neuen organismischen Bildungen entwickeln, werden sie es nach den Gesetzmäßigkeiten tun, die die Evolutionstheorie formuliert.

      Die Evolutionstheorie versucht die Evolution zu erklären; sie versucht zu erklären, wie die kausalen Zusammenhänge zu sehen sind, welche Faktoren eine Evolution ermöglichen und begrenzen usw. Und da gibt es seit Darwins epochemachendem Ansatz vielfache Weiterentwicklungen der Evolutionstheorie (sozusagen eine Evolution der Evolutionstheorie), die zunehmend mehr und vieles besser erklären. Wir wissen noch lange nicht alles über die Mechanismen der Evolution, und das ist es, was die Forschung vorantreibt. Die Evolutionstheorie ist also nicht abgeschlossen, sie wird ständig weiterentwickelt.

      Eine solche Fortentwicklung stellt auch die Frankfurter Kritische Evolutionstheorie dar, die einen weithin vernachlässigten Aspekt ins Spiel bringt, indem sie Lebewesen zwar – analog zum Funktionieren einer Maschine – als mechanisch kohärente und operational geschlossene, aber energiewandelnde und damit für den Energiefluss (In-put und Out-put) offene hydraulische Gesamtgefüge versteht, die sich aber – ganz anders als eine Maschine – durch ihre eigene Tätigkeit selbst als Ganzes zusammenhalten (auch gegen Störungen von außen), sich selbst versorgen, fortpflanzen und somit selbst intentionale Akteure (Mitspieler) bzw. Subjekte der Evolution sind; sie treiben die Transformation (als selbstkreativen Wandel ihres Bauplans) ebenso voran, wie sie dieser Transformation auch unterliegen.13

      M. a. W.: Die Organismen als ganze sind die eigentlichen Akteure (nicht die Gene, wie Dawkins in seiner Hypothese vom „egoistischen Gen“ meint, für den die Henne bzw. der Mensch nur die Methode, nur die „blind darauf programmierte Überlebensmaschine ist, um diese egoistischen Moleküle zu erhalten“). Die Ganzheit der lebendigen Zelle bzw. des Organismus ist es, die als eigene, die molekularen Prozesse ausrichtende Instanz wirkt; diese Ganzheit des Lebendigen wirkt als Zielvorgabe für die Auswahl informationsrelevanter DNA-Sequenzen (alle Einflüsse – ob innere der Gene oder äußere der Umwelt – werden diesem Ziel der Selbsterhaltung der Zelle bzw. des Organismus gemäß interpretiert und bewertet). Deshalb kann man sagen, dass die Organismen als biologische Systeme sich des Genoms bedienen, um ihre Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten, nicht umgekehrt. Die Gene „machen“ nichts, genauso wenig wie Texte von sich aus etwas machen; allenfalls wird mit ihnen etwas gemacht, wenn sie „gelesen“ werden (vgl. Lewontin 2002).

      Darwins Evolutionstheorie bzw. manche ihrer Weiterentwicklungen liefern gegenwärtig die beste Erklärung für die vorhandenen Befunde. Es gibt keinen Grund, sie nicht anzuerkennen.14 Doch schließt das nicht grundsätzlich aus, dass sie irgendwann in der Zukunft von der Wissenschaft revolutioniert werden könnten. Das gibt selbst Dawkins, wo er wissenschaftlich und unvoreingenommen bleibt, unumwunden zu: „Wir müssen die Möglichkeit einräumen, dass neue Tatsachen auftauchen könnten, die unsere Nachfolger aus dem 21. Jahrhundert dazu zwingen könnten, den Darwinismus hinter sich zu lassen oder bis hin zur Unkenntlichkeit zu modifizieren.“ (Dawkins 2003, 81)

      1) Alles, was wir heute überprüfbar wissen können, nötigt dazu, Evolution als eine Gegebenheit und unbestreitbare Realität anzunehmen. Evolution ist ein Grundmerkmal aller Weltwirklichkeit, ein Grundmerkmal unseres Universums und aller Gestalten und Lebewesen in ihm.

      Deshalb können alle möglichen Sachverhalte auch evolutionstheoretisch betrachtet werden: nicht nur die Entstehung der Vielfalt des Lebendigen und des Menschen, sondern auch die Entstehung von geistiger Erkenntnis, von Sprache, Psyche, Moral, Ästhetik, Musik, Kultur, Religion usw. (vgl. H.A. Müller 2008). Und deshalb kann man auch an einer verallgemeinerten Evolutionstheorie arbeiten (vgl. Schurz 2008).

      Aber Evolution ist nicht das oberste Erklärungsparadigma (gleichsam die „theory of everything“), nicht das Paradigma schlechthin, von dem her alles in der Welt der Natur und Kultur vollständig zu verstehen ist. Evolution sagt, wie Dinge entstanden sind. Wenn man weiß, wie etwas entstanden ist (z. B. auch ein Kind), weiß man eben noch nicht, was es ist (was sein Wesen ist, welche Bedeutung, welchen Sinn es hat, warum es ist usw.).

      Wo also Evolution – weit über den naturwissenschaftlichen Geltungsbereich hinaus – zum Universalprinzip erhoben wird, wo das Paradigma der Evolution weltanschaulich überhöht und umgebogen wird zur Totaldeutung der Wirklichkeit, da hat dies mit Wissenschaft nichts mehr zu tun, sondern wir haben einen pseudo-wissenschaftlichen Neo-Mythos vor uns. Evolution ist weder ein Subjekt (als ob „die Evolution“ dies und jenes gemacht habe) noch der grundlegende Begriff zur Erfassung der Welt, vielmehr ein abgeleiteter Begriff.

      2) Für Evolutionstheoretiker gibt es aufgrund ihres methodischen Naturalismus (und damit methodischen Agnostizismus!) keine grundsätzliche Alternative zur natürlichen Kausal-Erklärung durch zufällige Mutation sowie Selektion im zwangsläufigen Überlebenskampf. So kann es für sie nur darum gehen, den kausalen Wirkmechanismus hinter der scheinbaren Zweckgerichtetheit möglichst genau aufzuklären. Wo dieser noch nicht gefunden ist, heißt es intensiv weiterzuforschen. Wenn Naturwissenschaft – etwa im Sinn von Albertus Magnus – ein überprüfbares Unternehmen des menschlichen Erkennens von Naturvorgängen bleiben soll, dann kann man bei biologischen Phänomenen, die momentan noch nicht erklärt werden können, nicht mit naturwissenschaftlichem Recht einen intelligenten Designer ins Spiel bringen.

      Umgekehrt überschreiten aber Evolutionsbiologen die Grenzen der Naturwissenschaft und ihrer Aussagekraft, wenn sie aus dem methodischen Naturalismus (und Agnostizismus) unversehens einen weltanschaulich-ontologischen Naturalismus (und dogmatischen


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