Gleich knallt's. Eva Encke

Gleich knallt's - Eva Encke


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orthopädische Arztpraxis von Dr. Henrichs war hoffnungslos überfüllt. Charlotte stand an eine Wand gelehnt, einen Sitzplatz hatte sie nicht mehr ergattert. Ihr Rücken schmerzte mittlerweile unerträglich und sie verspürte eine zunehmende Übelkeit in sich aufsteigen.

      „Die Luft ist hier drin so schlecht“, sagte Lotte zu der Arzthelferin am Empfang, doch die zuckte nur mit den Schultern. „Wenn wir ein Fenster öffnen, beschweren sich andere Patienten sofort, dass es zieht“, antwortete eine andere Kollegin, ohne von ihrem PC aufzublicken.

      Lotte presste die Hände in ihren Rücken.

      Eine beleibte Dame in einem knallroten Kostüm berichtete von ihrer Knieoperation.

      „Eigentlich setzt man in meinem Alter noch kein künstliches Gelenk ein, aber bei mir ging es einfach nicht anders“, erfuhr der Herr zu ihrer Rechten, dem man an seinem Gesicht ablesen konnte, dass ihn diese Information eigentlich nicht so recht interessierte. „Na, so jung sind Sie ja auch nicht mehr“, antwortete er jetzt und die Rotgekleidete drehte sich beleidigt um.

      „Ich habe zwei neue Kniegelenke und jetzt soll noch die linke Hüfte gemacht werden“, meldete sich eine hutzlige Oma von der gegenüberliegenden Stuhlreihe.

      „Dass die Krankenkasse so was noch finanziert“, wunderte sich ein Herr mittleren Alters im dunkelblauen Anzug. „Na hören Sie mal, ich habe doch ein Anrecht auf ein schmerzfreies Leben, auch wenn das nur noch ein paar Jahre sind“, regte die Oma sich auf und mehrere grauhaarige Köpfe ringsum nickten dazu.

      „Lohnt doch nicht mehr, Geldverschwendung“, murmelte der Herr in Blau.

      Zum Glück hatten die betagten Patienten wohl kein so gutes Gehör mehr.

      Trotz ihrer Schmerzen musste Lotte lächeln.

      Die Hutzeloma wurde jetzt aufgerufen und humpelte an einem Stock Richtung Behandlungszimmer. Lotte wollte sich auf den freigewordenen Stuhl setzen, aber eine junge Frau, die Kaugummi kauend neben ihr gestanden hatte, war schneller.

      Lotte seufzte. Wenn sie noch lange warten musste, würde sie wahrscheinlich …

      Lotte gelang es nicht mehr, den Gedanken zu beenden. Das Wartezimmer mit den vielen verschiedenen Gesichtern wurde dämmerig, irgendjemand musste wohl das Licht ausgemacht haben, jetzt war es plötzlich stockdunkel und wunderbar ruhig.

      Als Lotte wieder wach wurde, lag sie auf einer Liege in einem steril wirkenden Zimmer mit blanken Stahlmöbeln. Ein weiß gekleideter Herr beugte sich über sie und fragte lächelnd: „Na, kehren die Lebensgeister langsam zurück?“

      Lotte nickte, obwohl sie nicht so genau wusste, was der Mann von ihr wollte. Lebensgeister? Zurückkehren? Wo waren die denn?

      „Ich bin Dr. Henrichs“, stellte der Mann im weißen Kittel sich jetzt vor. „Sie sind umgekippt. Wahrscheinlich die schlechte Luft in unserem Wartezimmer, aber manche Patienten regen sich sofort auf, wenn wir mal ein Fenster …“

      Lotte nickte. Das hatte sie ja schon erfahren.

      „Haben Sie Schmerzen?“, erkundigte sich Dr. Henrichs nun und Lotte stellte überrascht fest, dass das nicht der Fall war. Sie schüttelte den Kopf.

      „Hatten Sie vor der Ohnmacht Schmerzen?“

      Lotte nickte und begann nun etwas stockend, Dr. Henrichs von ihren Beschwerden zu berichten.

      Dr. Henrichs war ein gründlicher Arzt. Das Röntgenbild von Charlottes Lendenwirbelsäule hatte ihm eine ausgeprägte Bandscheiben-Degeneration gezeigt.

      Deshalb ordnete er eine CT-Untersuchung in den städtischen Kliniken an und hielt nun den Befund in der Hand.

      An Lottes angstvoll aufgerissenen Augen erkannte Dr. Henrichs, dass sie den Bericht, der der Patientin in einem verschlossenen Umschlag für den behandelnden Arzt mitgegeben worden war, ebenfalls gelesen hatte. Immer das Gleiche!

      Formulierungen wie „Spondylarthrose L4/5 und L3/4, sowie Höhenminderung des Bandscheibenraumes L2/3 und L5/S1 mit rezidivierenden Lumbalgien“ jagten dem Laien Angst ein.

      Dr. Henrichs lächelte, tätschelte Lotte die linke Hand und sagte: „Keine Sorgen, Frau Reinermann, wir kriegen das schon wieder hin.“

      „Sie haben“, fuhr er dann fort, „zur Akutbehandlung ja bereits zwei medikamentöse Infiltrationen bekommen.“ Lotte brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass damit die beiden Spritzen gemeint waren, die Dr. Henrichs ihr gegeben hatte. „Aber nun müssen wir an eine dauerhafte Lösung ihres Problems denken.“

      Lotte merkte, wie ihre Hände feucht wurden. Gleich würde er ihr bestimmt eine Operation vorschlagen, man würde ihr den Rücken aufschneiden, die Wirbelsäule freilegen, die Bandscheiben … Lottes Stimme klang rau, als sie zaghaft fragte: „An, an was haben Sie denn gedacht, Dr. Henrichs?“

      „Ich würde Ihnen dringend empfehlen, einen Wirbelsäulen-Gymnastikkurs zu besuchen.“

      „Einen was?“ Lotte glaubte, sich verhört zu haben.

      „Begleitend werde ich Ihnen noch eine Akupunkturbehandlung, ein paar Massagen und Fango-Packungen verordnen. Aber das Wichtigste zum Aufbau der Rückenmuskulatur ist der Gymnastikkurs.“

      Lotte nickte. „Mehr kann man nicht machen?“, flüsterte sie leise.

      „Oh, damit tun Sie schon eine ganze Menge“, erklärte Dr. Henrichs.

      „Bei entsprechendem Training kann ein flexibler und starker Körper erzielt werden. Die Muskeln werden aufgebaut und geben der geschädigten Wirbelsäule Halt. Selbstverständlich werde ich Ihnen ein Attest über die medizinische Notwendigkeit ausstellen, damit Ihre private Krankenkasse die Kosten des Kurses übernimmt. Das Einzige, was Sie tun müssen ist, sich einen schicken Gymnastikanzug zu besorgen.“

      Dr. Henrichs lachte schelmisch.

      „Na …“, stotterte Lotte und versuchte dabei, ihre Gedanken etwas zu sortieren. Offensichtlich war sie schwer krank, sie hatte es doch selbst in dem Befundbericht gelesen. Und nun sollte alles durch einen Gymnastikkurs, ein paar Nadeln und etwas Massage geheilt werden? Das konnte doch nur ein Witz sein! Schließlich litt sie unter schier unerträglichen Schmerzen!

      Gerade öffnete Lotte den Mund, um Dr. Henrichs die Unerhörtheit seines Vorschlages vorzuhalten, als der Orthopäde ihr ein Rezeptformular mit ein paar Kritzeleien hinhielt und sich erhob, um das Ende der Behandlungseinheit zu signalisieren.

      „Am besten erkundigen Sie sich beim Gesundheitszentrum Vitafit in der Chemnitzer Straße, wann der nächste Wirbelsäulen-Gymnastikkurs beginnt. Vielleicht können Sie auch in einen bereits laufenden Kurs noch hineinkommen. Termine für die Akupunktur und die Massagen bekommen Sie vorn an der Rezeption. Ich wünsche Ihnen gute Besserung, Frau Reinermann.“

      Lotte spürte Tränen in sich aufsteigen, als sie hilflos mit dem Rezept in der Hand wieder vor der Anmeldung stand. Die Arzthelferin nahm ihr die Verordnung ab, warf einen kurzen Blick darauf und begann dann mit ihren Anweisungen:

      „Das Attest reichen Sie zusammen mit der Bestätigung über die Entrichtung der Kursgebühr bei ihrer Krankenkasse ein. Dann bekommen Sie das erstattet. Hat er gesagt, dass Sie zum Vitafit gehen sollen? Wenn Sie wollen, rufe ich da mal an. Der letzte Kurs hat erst vergangene Woche angefangen, vielleicht können Sie da noch rein.“ Lotte nickte matt. Die Arzthelferin flötete zwischenzeitlich schon ins Telefon und meldete Lotte beim Kurs an. Na prima, wo sie doch im Sport immer nur eine Vier gehabt hatte!

      Lottes Schritte waren schleppend, als sie die Arztpraxis verließ. Nein, auf einen Gymnastikkurs hatte sie eigentlich gar keine Lust.

      „Trotzdem, du musst etwas für dich tun. Reinhard macht doch auch diese Hopserei in der Kur mit. Und der ist ganz begeistert davon.“

      Erschrocken sah Lotte sich um, weil sie sich nicht sicher war, ob sie ihr Selbstgespräch laut geführt hatte.

      „Ich zieh das durch“, machte Lotte eine innere Kehrtwende. „Jetzt gehe ich erst mal ins Sporthaus und kauf mir den teuersten


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