Wenn Hitler 13 Minuten länger geblieben wäre. Heiner Welter
zum Bürgerbräukeller blieb ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ermattet stehen. Wie sollte ich in diesem Schneckentempo die Straße überqueren? Immer wieder schossen große Limousinen – alle vorschriftsmäßig verdunkelt mit schlitzförmigen Öffnungen der Scheinwerferabdeckungen – an mir vorbei. In dieser Dunkelheit und mit meiner Behinderung hätte ich alle Chancen, überrollt zu werden.
In einem ruhigeren Moment fasste ich Mut und überquerte humpelnd die Straße. Ich schaute auf meine Uhr. Der Polizist vor mir musterte mich belustigt: „Na, Volksgenosse, Sie werden aber nicht mehr viel von der Rede des Führers mitkriegen ...“
„Weshalb denn das? Die Rede müsste doch mindestens bis 9 Uhr dauern?“, entgegnete ich verunsichert.
„Der Führer muss heute Abend mit dem Zug nach Berlin fahren. Ursprünglich war ein Flug vorgesehen, aber bei diesem Sauwetter mit Nieselregen und Nebel war kein Fliegen möglich. Seine Wagen für die Fahrt zum Hauptbahnhof stehen schon bereit.“
Dann musste ich mich aber wirklich beeilen! Der Polizist geleitete mich zum Festsaal. Während wir uns dem Eingang näherten, vernahm ich einen lauten, eher dumpfen Knall, den ich sogleich am ganzen Leibe als Druckwelle verspürte. Der Helm des Polizisten traf mich an der Stirn, dann stürzte der Beamte selbst auf mich und riss mich zu Boden. Mit dem Hinterkopf schlug ich auf die steinerne Umrandung des kiesbedeckten Gehwegs und merkte schon nach Sekunden, dass mir eine warme Flüssigkeit in den frisch gestärkten Hemdkragen floss. Kurzfristig wurde mir schwarz vor Augen, in meinem rechten Ohr vernahm ich einen hochfrequenten Pfeifton, die Geräusche um mich herum konnte ich jedoch nur wie durch Watte registrieren.
Einige Menschen schrien vor Schmerzen, andere riefen um Hilfe. So stellte ich mir ein Gefecht an der Front vor, das ich wohl nie erleben würde.
Was wäre nun zu tun, war mein nächster Gedanke, wenn ich aufstehen könnte? Aber der auf mir liegende Polizist rührte sich nicht. Sein Gewicht belastete mich nicht zu sehr, sodass ich beschloss, zunächst einmal liegen zu bleiben. So glaubte ich mich halbwegs geschützt.
Später berichteten Augenzeugen, dass außerhalb des Saales, in dem der Führer gesprochen hatte, niemand verletzt worden sei, man eine Explosion nicht einmal gehört habe. Dies aber muss ich energisch dementieren!
Die Schreie wurden immer lauter und verzweifelter: „Sanitäter, Sanitäter ... Ist denn kein Arzt da?“
Allmählich drehte ich mich auf die rechte Seite und befreite mich von dem leblosen Körper auf mir. Mit der rechten Hand fasste ich in meinen Nacken: Blut. Ich konnte es sogar riechen ... Stammte es von mir oder ... Am Hinterkopf waren meine Haare verklebt, meine Kopfhaut schmerzte, ich glaubte, einen Riss zu ertasten. Als ich den Polizisten zur Seite rollte, vernahm ich ein kurzes Stöhnen, insgesamt aber erschien er steif, leichensteif. Es fror mich, während ich mich langsam in eine sitzende Position brachte. Die Luft um mich herum war voller Staub, Nebel und Pulverschwaden, die ich nicht zuordnen konnte. Ein wenig roch es nach Silvester-Knallern, dann aber auch wie ein Schwelbrand. Aus dem nur wenige Meter entfernten Haupteingang des Bürgerbräukellers quoll eine Menschenmasse: kriechend, gebückt, aufrecht, humpelnd, springend und laufend, ohne dabei auf die am Boden liegenden Menschen zu achten. In panischer Angst versuchte man, dem Inneren zu entkommen, wo wohl ein Brand oder eine Explosion stattgefunden hatte.
Sanitäter und Polizisten rückten an: „Hier muss sofort abgesperrt werden!“
Jemand rief: „Wir müssen zunächst die Verletzten bergen!“
Ein Ruf elektrisierte mich und drängte meine eigene Situation in den Hintergrund: „Wo ist der Führer? Wo ist Doktor Goebbels?“
Hustend und nach Luft schnappend stand plötzlich Gauleiter Wagner neben mir: „Ja, Herr, Herr ..., wie war denn bloß Ihr Name?“
Ich schluckte, sagte lieber nichts. „War doch letzte Woche noch in Ihrer Redaktion ...“
„Ja, Herr Gauleiter, selbstverständlich ... Was ist denn nur passiert?“
„Ja, das kann ich auch nicht sagen, wurde von meinem Sekretär dringend nach draußen gerufen ... dann ein großer Knall, meinen guten Hinterleithner hat es einfach weggerissen, ich konnte mich gerade noch an einer Laternenstange festhalten, sonst hätte es mich auch zu Boden geworfen.“
„Aber, was war denn die Ursache?“, insistierte ich.
„Wahrscheinlich ist ein Ofen in der Küche explodiert. Etwas Ähnliches soll in der letzten Woche auch in Nürnberg passiert sein, Herr Gauleiter“, vernahm ich aus dem Hintergrund, bevor ein Polizist nahe an uns herantrat. Er schrie verzweifelt auf: „Jessas, der Seppi, ja, Seppi, wie schaugst denn du aus?“ Er kniete plötzlich neben mir und inspizierte den Polizisten, der auf mich gestürzt war.
„Ja mei, da is fei nix mehr zum macha!“ Er sprang auf, schüttelte verzweifelt seinen Kopf und nahm ihn anschließend fassungslos in seine Hände, gerade so, als würde dieser anderenfalls zu Boden stürzen. „Na ... nix mehr zum macha ...“
„Da am Buckel ...“
Tatsächlich befand sich auf dem Rücken des Polizisten eine blutgetränkte Öffnung in der Uniformjacke.
„Wohl ein Granatsplitter“, konstatierte ich ungefragt und registrierte sogleich einen vorwurfsvollen Blick des Gauleiters: „Wie wollen Sie das denn beurteilen? Haben Sie eigentlich gedient? Woher soll denn hier ein Granatsplitter herkommen, aus der Küche vielleicht?“
„Vielleicht war das auch ein Schuss ...“ Weiter kam ich nicht, denn der neben mir stehende Polizist riss mich am Jackett in die Höhe und schrie: „Du bist jetzt staad. Für dich hol ich den nächsten Sanitäter, der dir das Hirn verbind! Du bluts ja wie a Sau ...!“
Der nächste vorbeieilende Rot-Kreuzler wurde zwar von meinem Helfer angehalten, riss sich aber sogleich los und verkündete nach einem verächtlichen Blick, der mir galt: „Für solche Bagatellen haben wir heute keine Zeit, dort im Bierkeller gilt es Menschenleben zu retten. Vielleicht sogar den Führer selbst ...“.
Gauleiter Wagner fasste sich an die Stirn: „Was? Der Führer? Ich dachte, ihn hätte seine Leibstandarte längst in Sicherheit gebracht? Außerdem stand er doch weit genug von der Küche entfernt.“
Der Sanitäter, deutlich älter als ich, entgegnete mit ängstlichem Blick: „Herr Gauleiter, hier geht es nicht um einen Küchenbrand ... es geht um den Führer! Er ist keinesfalls in Sicherheit gebracht worden, er muss noch im Festsaal sein ...“
„Sie Karbolpinsler! Wenn den Führer schon nicht seine Leibstandarte schützen kann, dann aber die Vorsehung! Das wurde uns doch schon mehrfach bewiesen! Kommen Sie, wir schau’n nach! Folgen Sie mir ...“
Und so ließen sie mich, da ich noch immer heftig am Kopf blutete, einfach am Boden sitzen. „Volksgenossen ...“, dachte ich nur und sank ermüdet zurück.
Kaum konnte ich abschätzen, wie lange ich vor mich hin gedöst hatte. Aber sollte es wirklich länger als eine Viertelstunde gewesen sein?
Wie lange mochte der Gauleiter mit seinen Helfern gesucht haben, bis ein gellender Schrei über den Hof des Bürgerbräukellers schallte: „Der Führer ist tot!“
Ich fuhr vom Boden hoch. Was soll nun aus uns werden? Der Krieg, der Lebensraum im Osten? „Nein, nein, nein ... alles umsonst“, stammelte ich vor mich hin.
Während ich mein orthopädisch versorgtes Bein langsam an meinen Körper zog, ging mir der nächste Gedanke durch den Kopf: Wer wird der Nachfolger des Führers? ... Generalfeldmarschall Göring, natürlich, der Reichsminister der Luftfahrt war doch erst am 1. September, am Tag des Kriegsbeginns, in der Reichstagsrede des Führers expressis verbis für den Fall seines Todes zu seinem Nachfolger bestimmt worden. Außerdem gab es bereits das Gesetz von 1935, in dem der Führer seine Nachfolge entsprechend geregelt hatte. – Aber, war der Generalfeldmarschall nicht auch im Saal?
Oder sollte er nicht hier gewesen sein? Immerhin ist Jagdsaison.
Ich müsste möglichst schnell in die Redaktion zurück, dort könnte ich in Ruhe telefonieren ...