Wenn Hitler 13 Minuten länger geblieben wäre. Heiner Welter

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Göring, Herr Gauleiter?“

      Wagner rieb sich durch das verschmutzte Gesicht: „Göring? ... Ich habe ihn weder gesehen noch begrüßt ...“

      2. In der Schorfheide

      Am frühen Nachmittag desselben Tages fuhr Generalfeldmarschall Hermann Göring in einem Kübelwagen – einem ersten Prototypen, der ihm persönlich von VW zur Verfügung gestellt worden war – vor dem Eingang zu seinem Landsitz Carinhall in der Schorfheide, nördlich von Berlin, vor. Seiner an diesem Tage auffallend kleinen Jagdrunde verkündete der Reichsjägermeister fast wie zur Entschuldigung: „Na, meine Herren, beim nächsten Jagdausflug werde ich Ihnen ein besseres Wetter präsentieren. Das war ja heute sau...“

      Mehr sagte er nicht, während der japanische Botschaftsvertreter sich inzwischen vor dem Wagen stehend tief vor ihm verneigte. „Und immerhin“, fuhr Göring belustigt fort, „haben wir neben dem kapitalen Hirsch noch fünf Stück Rotwild geschossen. Und das nicht einmal zur Schonzeit!“

      Der japanische Botschafter verneigte sich erneut, verstand aber nicht den Hintergrund von Görings Bemerkung.

      Göring zeigte auf die Bronzeplastik eines Kronenhirschen, die seit 1937 am Ende der Kastanienallee von Carinhall stand. „Das war er, der Raufbold!“ Er klopfte sich mit beiden Handflächen auf den Bauch und lachte schallend. Sein Adjutant Karl-Heinrich Bodenschatz flüsterte dem Japaner zu: „Das war die Sache mit der Schonzeit ... Erklär’ ich Ihnen später genauer ...“

      Göring warf seinem Adjutanten einen bösen Blick zu. Dieser nahm sichtbar Haltung an.

      „Nun, dann mal hinein in die gute Stube“, verkündete der Generalfeldmarschall und wies seinen Gästen den Weg in die geräumige Eingangshalle.

      Ein Kellner im Frack – unbeweglich in der Mitte der Eingangshalle stehend – servierte Champagner in ungewöhnlich hohen, schweren Kristallgläsern. Die anwesenden Japaner verbeugten sich tief, ehe sie den übrigen Gästen kichernd zuprosteten. Bodenschatz glaubte, jedenfalls erklärte er dies später seinem Ordonanzoffizier Hönighausen, die fernöstlichen Gäste seien nur das Trinken aus Porzellanschalen gewöhnt und hätten sich wohl über die deutschen Trinkgefäße ziemlich amüsiert.

      Hermann, wie ihn alle Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand nannten, suchte die Nähe zum Geschäftsträger der japanischen Botschaft in Berlin, Usami Uzohiko, der erst zum Jahresende durch einen „bevollmächtigten Botschafter“ abgelöst werden sollte. Göring hatte den Antikominternpakt von 1936 immer als eine Vorstufe zum „Weltpolitischen Dreieck“ Berlin – Rom – Tokio gesehen. Dem schien bis zum Sommer 1939 auch Ribbentrop zuzustimmen. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 war diese Konstellation jedoch zunächst auf Eis gelegt.

      Hermann Göring sah es nun als seine Aufgabe an, die Beziehungen zu den Japanern trotz der eher prochinesischen Haltung großer Teile der deutschen Bevölkerung zu pflegen und zu verbessern. Seine Jagdgesellschaften waren aus seiner Sicht ein ideales Mittel der Kontaktpflege. So fehlten selten japanische Gäste. Heute war sogar der ehemalige Botschafter Tokios, Oshima Hiroshi, der im Sommer 1939 in die Heimat zurückbeordert worden war, auf Besuch in Berlin und von Göring eingeladen.

      Da es naturgemäß üppige Portionen vom Wildbret gab, wollte Göring den Essgewohnheiten seiner japanischen Gäste entgegenkommen und ließ als Vorspeisen Fischsuppe und Lachs servieren.

      Hermann Göring rülpste nach der Fischsuppe genussvoll, erinnerte an die Tischsitten Luthers und verkündete befriedigt, nun sei genügend Platz für das Hauptgericht.

      Der Hirschbraten schwamm in schwerem Bordeaux – und diesen wollte der Gastgeber nämlich in zweifacher Form sehen: im Glas und auf dem Teller – während die japanischen Gäste mit riesigen bayrischen Semmelknödeln kämpften.

      Es wurde bereits der Nachtisch – Vanilleeis mit Lychees, was der Gastgeber für die Krönung asiatischer Nachspeisen hielt – serviert, als Bodenschatz von seinem Ordonanzoffizier nach draußen gebeten wurde. Kaum zwei Minuten später kehrte der Adjutant zurück und eilte mit erstarrter Mine und weiten Schritten auf Göring zu, der sich soeben mit einer übergroßen Serviette über das ganze Gesicht fuhr.

      „Herr Generalfeldmarschall, Herr General ... Hermann ...“ Ihm brach die Stimme weg. Nur noch leise flüsternd näherte er sich dem Reichsjägermeister: „Auf den Führer ist in München ein Attentat verübt worden. Er ...“ Göring erhob sich langsam und wandte sich Bodenschatz zu, aus dem es nur noch stammelnd hervorbrach: „Ja ... der Füh..., der Führer ... ist tot.“

      Göring flüsterte scheinbar noch gefasst: „Ja, heute im Bürgerbräukeller, ja, da musste er reden, der Führer ... auch ich hätte dort sein sollen!“ Sein Gesicht wurde innerhalb weniger Augenblicke puterrot. Man merkte, er rang nach Fassung, wand sich in seinem deutlich zu engen weißen Luftwaffenrock, dann nahm er seine Dessertgabel und schlug gegen seinen großen Rotweinkelch. Das Glas gab einen hellen Klang von sich, der zunächst verheimlichte, dass es unter dem heftigen Schlag zerbrach.

      Göring erhob sich schwerfällig und sprach zum Publikum, das sich zunächst nur widerwillig in seiner lebhaften Unterhaltung stören ließ. Er fuhr sich mit seiner Serviette über das Gesicht: „Meine Damen und Herren, es ist etwas Schreckliches passiert ...“

      Sofort entstand ein eisiges Schweigen, als ob die Anwesenden eine wichtige Kriegsnachricht erwarteten, immerhin befand sich das Reich im Krieg, und auch die Japaner standen nach dem Grenzkonflikt mit der Sowjetunion in der Mandschurei unter Waffen.

      „ ... meine Damen und Herren“, Göring übersah dabei, dass keine Damen anwesend waren. „ ... meine Damen und Herren, der Führer ist tot. Die genauen Umstände sind noch unklar, es hat bei einer Veranstaltung in München, auf der Hitler sprach, wohl eine Explosion gegeben. Es ist unklar, ob es sich um ein technisches Problem oder aber eine Höllenmaschine handelte ... Die Kriminalpolizei ermittelt ...“. Görings Gesicht war erneut puterrot, deutlich sichtbar liefen von seiner Stirn große Schweißtropfen über die Wangen.

      Bodenschatz zupfte am rechten Ärmel der Generalsuniform: „Hermann, wir müssen sofort zur Reichskanzlei! Der Fahrer wartet bereits.“

      „Meine Damen und Herren,“ setzte der Generalfeldmarschall gestelzt fort, „als Nachfolger unseres Führers muss nun ich ... sofort ... die Staatsgeschäfte übernehmen ... und handeln ... Leider ... leider muss ich daher diese Gesellschaft verlassen und in die Reichskanzlei eilen. Ich bitte um Ihr Verständnis. Bitte bleiben Sie aber noch hier und lassen Sie sich von meinen Leuten bewirten!“

      Einige Anwesende behaupteten später, Göring sei mit Bodenschatz hinausgewankt und habe sich nur mühsam auf den Beinen halten können.

      Ein aufgeregtes Tuscheln machte sich breit, kaum dass der Hausherr die Halle verlassen hatte. In jeder Ecke stand einer der Kellner, weiterhin salzsäulenhaft unbeteiligt. Im mächtigen Kamin knisterte und spritzte verbrennendes Holz. Hiroshi wandte sich seinem Sohn mit einem süffisanten Lächeln zu: „Da brennt kein Buchenholz, das kann nur Fichte sein.“

      3. Die Übernahme der Macht

      Nachdem Göring es ihm befohlen hatte, fuhr sein Fahrer Willi Schulz vor dem Hintereingang der Reichskanzlei vor.

      „Besser zum Lieferanteneingang hinein, als später dort hinausgeworfen werden“, brummte Generalmajor Bodenschatz seinem Freund aus Weltkriegstagen zu.

      Da keine Wache vor diesem Eingang stand, versuchte der neue „Führer“ unbeholfen, selbst den Schlag der Limousine zu öffnen. Bodenschatz gelang dies schneller und konnte so seinem Chef zuvorkommen. Er versuchte, die schwere Eichentüre zur Reichskanzlei mit Brachialgewalt zu öffnen. Aber diese war verschlossen. Wütend trat Bodenschatz gegen das Holz, entsicherte seine Dienstpistole und feuerte auf das eisenbeschlagene Schloss. Ein lauter Schrei folgte dem Schuss, Bodenschatz umfasste seinen rechten Unterarm mit der linken Hand und ging zu Boden. Sein blutiger Ärmel verdeutlichte, dass ihn das zurückprallende Geschoss verletzt haben musste.

      „Arbeite ich denn nur mit Dilettanten? Kann man dem Reichskanzler nicht einmal den Eingang zur Reichskanzlei offen halten? Schulz, rufen Sie einen Sanitäter und fahren Sie


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