Die Räuberbande. Leonhard Frank
nachdenklichem Gesicht, worin die klugen, guten Augen über Last und Sorgen und Auswegen nachsannen. Unvermittelt konnten die Furchen der Sorge in ihrem Gesicht sich in Linien der Güte verwandeln.
Sie schleppte einen großen Henkelkorb, dessen Deckel klaffte, so daß die Kleider, die der Korb barg, zu sehen waren. „Sechs Mark waren diesmal drauf. Und siebenundzwanzig Pfennig Zinsen hat er mir abgenommen . . . Fünf Mark muß ich dem Vater geben, für Vesper- und Ausgehgeld, bleiben mir von seinem Lohn drei Mark für die ganze Woche. Und damit soll ich Essen für vier Kinder und einen Mann auf den Tisch stellen . . . Die Hausmiete ist auch schon fällig. Wenn ich nur einmal nimmer leben tät.“
Oldshatterhand schwieg eine Weile und fragte dann, was es heute abend gäbe.
„Für’n Vater hab ich a Täuble“, sagte die Mutter und stellte ihren Korb ab. „Er ißt’s doch so gern . . . Ja no, er muß ja die ganze Woche hart arbeiten . . . Und wir, wir trinken halt unsern Kaffee. Trägst mir e bißle helf? . . . Siehst, das ist für dich.“ Sie holte aus dem Korb ein Stückchen Kuchen und legte Oldshatterhand die Hand auf die Schulter. Ihr Gesicht wurde tiefrot, sie lachte, daß ihre Schultern schütterten, und konnte sich gar nicht beruhigen, weil sie ihren Sohn mit Kuchen überrascht hatte.
Mutter und Sohn faßten den Henkel: der Korb schwebte zwischen den beiden nahe dem Boden die Domstraße hinunter und über die alte Brücke.
„Mutter, schau mal die Wolke an über der Festung. Sie sieht aus wie Rom.“
Die Mutter lachte in sich hinein. „Was bist du für einer . . . Wie Rooom!“
Es war elf Uhr nachts.
Der vierzehnjährige Buchbinderlehrling und Hauptmann der Räuberbande, Sohn der vermögenden Gastwirtswitwe Benommen, stand nackt in seiner Dachkammer am offenen Fenster und hielt in jeder Faust ein Bügeleisen. An einem Strick, der um seine Lenden gebunden war, hing vorne ein handgroßes, zinnoberrotes Tüchlein. Sein weißer Körper war vom Mondlicht getroffen. Hinten in der Kammer war tiefschwarze Nacht.
Von der Bierkneipe unten im Hause, die der ältere Bruder des Hauptmanns betrieb, klang der Gesang der Soldaten herauf:
„Ich wollte sie verführen,
Dazu hat sie kein Mut.“
Der Hauptmann, genannt der bleiche Kapitän, fing an zu üben: er reckte den Brustkasten heraus, sog ihn voll mit Luft und zog die ausgebreiteten Arme mit den Bügeleisen kraftvoll zum Körper, schnellte sie auseinander, zog sie an, und so fort. Dabei blickte er, den Kopf zurückgezogen, daß sich ein spärliches Doppelkinn bildete, die Unterlippe vorgeschoben, hinunter auf das Spiel seiner Armmuskeln.
Unten wurde, von Mädchenlachen begleitet, die Wirtschaftstür zugeknallt, und eine Wolke Bierdunst schlug in des Hauptmanns Kammer.
Ein Schakalruf ertönte in die Nachtstille. „U . . . u!“ klang es düster, „U . . . u!“
Der bleiche Kapitän horchte, fuhr in Hose und Rock und schlich, die Schnürstiefel in der Hand, strümpfig die Treppe hinunter.
Vor dem Hause, unter der Gaslaterne, stand ein Junge, elegant auf sein dünnes Spazierstöckchen gestützt, das sich fast zum Halbkreis bog: der Schreiberlehrling des Rechtsanwalts Karfunkelstein.
Die zwei Knaben schlichen dicht an den altersschiefen Häuschen eine enge Gasse aufwärts, die bis an den Fuß des dunklen Schloßberges führte. Auf dem steilen Bergrasen standen mächtige, alte Linden, durch die sich ein Sandweg hinauf zur Festung zog. Achtzehnhundertsechsundsechzig war die Festung von den Preußen genommen und geschleift worden. Seitdem lag eine Kompagnie Trainsoldaten im Schloß, und am äußersten Rand des Berges, bei einem Auslughäuschen, stand eine alte Kanone, die abgefeuert wurde, um Bürger und Feuerwehr zu alarmieren, wenn unten in der Stadt Würzburg ein Brand ausbrach.
Die Knaben standen im schwarzen Schatten, den die Linden warfen. Es war vollkommen still. Der Schreiber sah sich ängstlich um. „Horch . . . hörst du nichts?“
„Da herauf kommt kein Mensch um diese Zeit“, sagte der bleiche Kapitän, sah sich auch um und zog die Schuhe an.
„Es ist eigentlich gar nicht unheimlich . . . Wenn man nur keine Angst hat.“
„Das ist schon wahr . . . Schau, in der Elefantengaß gibt’s Gummiabsätz. Das Paar nur zehn Pfennig. Da hab ich mir fünfzehn Paar kauft.“ Sitzlings streckte der bleiche Kapitän das Bein zum Schreiber in die Höhe. „Die andern vierzehn Paar hat mei Mutter glei’ wieder zurückgetragen und hat g’sagt, die brauchet ich nit . . . Ich trau mich gar nimmer an dem G’schäft vorbei. Als ob man in seinem Leben nit fünfzehn Paar Gummiabsätzli aufbrauchen könnt. Es ist wirklich ganz unglaublich.“
„Das hätt ich mir nit g’fall laß.“
„Gott, was willst denn mach.“ Er stülpte die dicken Negerlippen mürrisch nach außen. „No, lang dauert’s ja nimmer. Die wenn wüßt, was wir vorham . . . Heiliger Gott!“
„Mei Vater hat heut zu mir g’sagt, wenn ich noch einmal mit Oldshatterhand und mit dir und den andern verkehre, könnte ich was erleben . . . Grün und blau wollt er mir ihn schlagen. Er weiß aber ganz genau, daß ich mir das nit g’fall laß.“
„Ja no.“
„Das eine weiß ich“, sprach der Schreiber hochdeutsch, „so saudumm würde ich nicht sein, wenn ich Vater wäre.“
„Gott, die ham ja keine Ahnung. Aber Augen werden die noch machen.“ Der bleiche Kapitän erhob sich und trat prüfend von einem Fuße auf den andern. „Es ist wahrhaftig so, wie wenn man überhaupt keine Schuh anhätt. Ich versteh absolut nit, warum mei Mutter mir die andern vierzehn Paar wieder zurückgetragen hat.“
„So sind sie halt. Da kannst wirklich nix mach. Gehn wir jetzt.“
„Ja, aber leis.“
Sie stiegen den Schloßberg hinauf, bis vor das eisenbeschlagene, wuchtige Bohlentor, durch das man in die Festung gelangt. Um diese Zeit war das Tor geschlossen.
Gebückt schlichen sie auf dem Bergrücken nach links, bis an den Rand vor, von wo aus man tief unten die Stadt liegen sieht, hoben wie auf Kommando die Arme, schüttelten die Fäuste, riefen: „Weh dir!“ zur Stadt hinunter und sprangen in den Festungsgraben.
Von allen Seiten kamen jetzt kleine, dunkle Gestalten den Schloßberg heraufgeschlichen, bis an den Rand vor, riefen: „Weh dir!“ und sprangen, den bequemen Weg verachtend, die hohe Mauer hinunter in den Festungsgraben.
Die Räuberbande, eine Schar vierzehnjähriger Lehrjungen, war versammelt.
Es war eine wunderbar klare Mondnacht im Herbst.
Oben stand dunkel das Schloß. Tief unten lagen die alte Brücke, die Häuser und krummen Gassen von Würzburg. Die dreißig Kirchtürme bebten im Mondlicht. Der Main, der die Stadt in zwei Teile trennt, glänzte. Jeder Stern stand klar und scharf am grünlichen Himmel. Die ganze alte Stadt war aus purem Silber.
Die Räuber saßen im Kreis im Festungsgraben und rauchten ernst die Friedenspfeife: ein langes Stück Schilf, derart viel im Graben wuchs.
Knapp vorbei am Räuberkreis, der noch im Mondlicht saß, fiel der tiefschwarze Schlagschatten, den die Schloßmauer warf.
Ein Vogel erwachte und flatterte im Brombeerbusch. Die Räuber saßen reglos und starrten auf das Lagerfeuer, das in ihrer Mitte flackerte.
Oben auf dem Feuer brannte und rauchte ein gerahmter Straminhaussegen, auf dem „Bet’ und arbeit’, so hilft Gott allzeit“ gestickt war. Die Worte rollten sich zusammen, und Gott und Arbeit gingen in Flammen auf. Winnetou hatte den Haussegen daheim gestohlen.
Er verschluckte den ätzenden Speichel, den auszuspucken als Schande galt, und sprach: „In Südamerika sind die Indianer klein, falsch und furchtsam.“
„Südamerika!“ sagte verächtlich der bleiche Kapitän.
„Und arbeiten sogar für die Weißen. Ich habe nachgesehen.“