Paul McCartney - Die Biografie. Peter Ames Carlin

Paul McCartney - Die Biografie - Peter Ames Carlin


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erzählten Geschichten, einfachen musikalischen Strukturen und sozialistischen Untertönen ein Revival erlebte. Musik war in Liverpool etwas ganz Selbstverständliches. Die Stadt war „mehr als nur ein Ort, an dem Musik entsteht“, schrieb der dort aufgewachsene Journalist Paul Du Noyer einmal sehr treffend. „Liverpool ist ein Grund, weshalb Musik entsteht.“1

      Genau so war es im Haus der McCartneys. Dort entstand ständig Musik. Jedes Lied hatte eine Geschichte, und jede Geschichte kam mit einem Lied daher. Das war schon bei dem Patriarchen Joe McCartney so, der das alte englische Basshorn spielte. Er wurde 1866 hier in Liverpool geboren, im Stadtteil Everton, um genau zu sein. Man stelle sich das Leben zu dieser Zeit nur einmal vor: Pferde und Kutschen, endlose harte Arbeit und kaum nennenswerter Lohn. Heute noch macht es den Anschein, als sei Everton nicht gerade die feinste Gegend, aber damals wusste jeder, dass es der schlimmste Slum in ganz England war. Dennoch fand Joe Arbeit in Cope’s Tabak­lager und schuftete dort jahrelang. Er schnitt Tabakblätter, schob sie zusammen und rollte sie. Manchmal verfing sich eine ordentliche Portion davon in den Aufschlägen seiner Hosen. Keine Ahnung, wie der Tabak dort hingelangt war (na, ihr wisst schon), aber irgendwie war er wohl dort hineingerutscht. Was sollte Joe machen, er hob ihn auf. Manchmal hatte er am Ende der Woche so viel zusammen, dass er ein oder zwei Zigarren daraus rollen konnte, um sie einem Freund an der Ecke zu verkaufen und ein paar Pennys zusätzlich für den Unterhalt der Familie zusammenzubekommen.

      Es war eine bemerkenswerte Familie. 1896 hatte Joe Florrie Clegg geheiratet, und es dauerte nicht lange, bis sich Nachwuchs einstellte. Joe und Florrie hatten neun Kinder, von denen sieben das Säuglingsalter überlebten, und das bedeutete, dass eine Menge kleiner McCartneys in Everton herumliefen. Und sie waren dabei nicht gerade leise. Egal, wie voll es im Haus sein mochte, die Tür der Familie stand meistens offen, und wenn das der Fall war, dann drang Musik heraus. Joe spielte Basshorn in der Bläsergruppe seines Viertels, und deshalb schauten öfter Freunde und Bandkollegen vorbei, um ein wenig zu musizieren und Tee zu trinken – oder auch etwas Stärkeres, wenn sie richtig in Stimmung kamen. Joe selbst bevorzugte Limonade, aber er hielt nie andere davon ab, sich zu amüsieren. Florrie hielt die Küche in Gang, begrüßte die Gäste, goss Tee auf und machte Welsh Rarebit, Toast mit Käsesoße, zur Stärkung. Abends standen die Türen meist weit offen. Die Musik war bis auf die Straße zu hören, Freunde und Nachbarn unterhielten sich auf dem Hof und tanzten.

      So war das bei den McCartneys in der Solva Street in Everton. Mochte ja sein, dass die männlichen McCartneys dazu bestimmt waren, ihr Leben als Tagelöhner zu fristen oder als Arbeiter in der Fabrik eines reichen Mannes für ein paar Pennys zu malochen. Aber vielleicht konnte man mit einem bisschen Glück und harter Arbeit etwas Besseres finden. Und vielleicht war es auch in Ordnung, wenn man währenddessen ein bisschen Spaß hatte.

      Das waren Weisheiten, wie Joe McCartney sie an seine Kinder weitergab, und sein Zweitältester, James, der am 7. Juli 1902 zur Welt kam, nahm sie in sich auf. Er war ein gutaussehender, liebenswerter Junge, der mit einer Adlernase und schmalen Augenbrauen gesegnet war, deren auffällige Bogenform ihm den Anschein gab, er sei ständig über irgendetwas erfreut, was bei seiner lustigen Art auch meist zutraf. James – oder Jim, wie er genannt wurde – passte im Unterricht an der Steer Street School in Everton gut auf und folgte dem Vorbild seines alten Herrn, indem er Trompete lernte. Als ein Nachbar der Familie ein ramponiertes, altes Klavier überließ, das aus dem NEMS-Musikgeschäft der Familie Epstein stammte, fühlte sich Jim von den Tasten magisch angezogen. Er brachte sich genug Noten und Akkorde bei, um etwas beitragen zu können, wenn die Türen offen standen und die Hausmusik begann. Als es an der Zeit war, dass sich der Schuljunge nebenher eine Arbeit suchte, um auch finanziell etwas zum Unterhalt beizusteuern, nahm Jim einen Job am nahe gelegenen Theatre Royal, einem Vaudeville-Theater, an. Er verkaufte vor den Vorstellungen Programme, um dann später, wenn die Show im Gange war, oben auf dem Balkon die Bühnenbeleuchtung zu betreuen. Wenn der Vorhang gefallen war, suchte der Junge die Gänge nach weggeworfenen Programmen ab, die er dann mit nach Hause nahm, um sie wieder aufzupolieren (feucht abwischen und einmal bügeln reichte in der Regel) und am nächsten Abend erneut zu verkaufen.

      Jim verließ die Schule mit vierzehn und kam dann beim Baumwollkontor A. Hannay & Co. unter, brachte Stoffproben vom Markt zum Lager und zurück und verdiente sechs Schilling die Woche. Es war ein reiner Laufburschenjob, aber Jim McCartney zeigte dabei so viel Eifer und Initiative, dass er seinen Chefs auffiel. Vielleicht taugte dieser Junge doch zu etwas Besserem als zu den niedrigsten Jobs im Betrieb. Jim biss sich durch, kletterte die Karriereleiter beharrlich weiter hinauf und wurde schließlich, vierzehn Jahre später, von der Geschäftsführung aus dem Lager in den Verkauf befördert. Es kam höchst selten vor, dass ein Arbeiterjunge in die Schlips-und-Kragen-Ränge aufsteigen durfte. Für einen Jungen aus der Unterschicht ohne besonders viel Bildung war das ein ziemlich großer Sprung. Die Familie war äußerst erfreut.

      Kleinvieh macht auch Mist! Mäßigung und Toleranz! Für Jim lag der Schlüssel zum Leben in zwei ganz einfachen Dingen: gesundem Menschenverstand und guter Laune. Er machte seine Arbeit, erfüllte seine Pflichten und hatte nebenbei so viel Spaß wie möglich. Er war gewitzt und lustig und genoss es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Jim McCartney war in seinem Viertel, in Everton, sogar eine Art Legende, denn dort kannten ihn die Jazzfreunde als den Kopf von Jim Mac’s Band, der es faustdick hinter den Ohren hatte. Bei Jim Mac’s Band handelte sich um eine lockere Gruppe von Musikern, nicht besonders geschliffen, aber durchaus in der Lage, einen Tanzsaal oder einen Arbeiterverein aus der Nachbarschaft schwungvoll mit den gerade aktuellen Schlagern und Ragtime-Nummern zu unterhalten.

      Jim McCartney war dabei alles andere als ein Waisenknabe. Er trank gern mal etwas, vor allem, wenn er zum Pferdewetten ging („ein paar Münzen auf die Gäule setzen“, wie er das nannte). Aber er wusste auch, wann es an der Zeit war, sich zusammenzureißen. Als Jim in die Büroetage bei Hannay’s aufstieg, hatten Jim Mac’s Band und auch sein gelegentliches Spaßprojekt der Masked Melody Makers, der maskierten Musikmacher, bald das letzte Mal zum Tanz aufgespielt.

      Aber wollte der charmante Mr. McCartney sich denn gar keine Frau suchen und eine Familie gründen? Jim war lange Zeit damit zufrieden, um die Häuser zu ziehen und Fünfe gerade sein zu lassen. Aber Ende der Dreißigerjahre schlug die Stimmung in Liverpool um. Der düstere Schatten des Zweiten Weltkriegs fiel auf die Stadt, und die Angst vor einer bevorstehenden Katastrophe war allgegenwärtig. Jim ging bereits auf die vierzig zu. Er hatte sich bei einem Unfall als Kind das Trommelfell verletzt; daher wurde er nicht eingezogen. Aber die Baumwollindustrie wurde während des Krieges unter staatliche Kontrolle gestellt, woraufhin Hannay’s seine Pforten schloss und Jim arbeitslos wurde. Er ergatterte schließlich eine schlecht bezahlte Stelle in der Rüstungsindustrie und arbeitete als Dreher in der Maschinenfabrik Napiers. Dann fielen die Bomben auf Liverpool.

      Vom August 1940 bis Anfang 1942 war die Stadt das Ziel deutscher Luftangriffe, bei denen mehr als zweitausendsechshundert Einwohner ums Leben kamen und beinahe ebenso viele mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Mehr als zehntausend Wohnungen wurden zerstört, und zahllose weitere Häuser wurden schwer beschädigt. Jeder Tag brachte neue Prüfungen. Das Heraufziehen der Nacht, dann die Sirenen, die Flugzeuge und das ständige Wissen darum, dass zwischen Leben und plötzlichem Bombentod nur das Schicksal stand – und vielleicht ein bisschen Glück.

      Jim verbrachte die Tage in der Napiers-Fabrik und arbeitete nachts freiwillig als Ausguck für die örtliche Feuerwehr. Eines Tages, das wusste er, würde Hannay’s wieder im Geschäft sein, und dann würde er die Karriere fortsetzen, die er vor dem Krieg begonnen hatte. Aber war das wirklich alles, was ihm das Leben bieten sollte? Jim war aufgefallen, dass bei den Familienfeiern seit einiger Zeit eine neue Generation rotwangiger McCartneys um ihn herumsprang. Er sah ihnen beim Spiel zu und hörte, wie sie mit hellen Stimmen nach ihren Eltern riefen. Irgendwo in seinem Hinterkopf bewegte Jim die Frage, was er bisher aus seinem Leben gemacht hatte. Würde er je einen eigenen Sohn haben, den er auf seinen Schoß heben konnte, wenn es spät wurde und man langsame, romantische Lieder sang?

      Vielleicht waren es solche Gedanken, die Jim durch den Kopf gingen, als er im Juni 1940 pfeifend die Straße entlangging und an die Tür des Hauses klopfte, das seine Schwester Jin kurz zuvor mit ihrem frischgebackenen Ehemann Harry bezogen hatte. Die beiden wohnten an einer von Bäumen gesäumten Straße im Vorort


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