Paul McCartney - Die Biografie. Peter Ames Carlin
Eingriff fand am 30. Oktober statt. Mary blieb ein Tag Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Sie machte den Jungen Frühstück und putzte danach von oben bis unten das Haus. Sie wusch ab, fegte alle Böden, machte die Betten der Jungen, wusch und bügelte die Schulkleidung für den nächsten Morgen, bevor sie die Sachen wie immer ans Fußende der Betten legte. Ihre Schwester Dill brachte sie am Nachmittag ins Krankenhaus und schüttelte den Kopf, als sie sah, dass Mary so geschuftet hatte, obwohl die Ärzte sie angewiesen hatten, sich vor der Operation auszuruhen. Mary zuckte nur die Achseln. Es musste alles in Ordnung sein, sagte sie, „für den Fall, dass ich nicht wiederkomme.“16
Am Abend wurde Mary in den Operationssaal gebracht. Der Eingriff dauerte mehrere Stunden, bevor die Ärzte schließlich erklärten, dass alles gut gegangen sei. Aber die Krankheit hatte ihren Körper bereits zu sehr geschwächt, und sie hatte nicht mehr die Kraft zur Genesung. Mary erwachte am Morgen, aber die dunklen Ringe um die Augen sprachen eine deutliche Sprache. Am nächsten Tag fiel ihr Blutdruck, und die Ärzte wussten, dass es mit ihr zu Ende ging.
Beide Familien, die McCartneys und die Mohins, versammelten sich an ihrem Bett. Jim fuhr zurück in die Forthlin Road und sagte seinen Söhnen, sie könnten ihre Mutter besuchen, müssten sich aber erst Hände und Gesicht waschen und ihre Schuluniform anziehen. Er war sich darüber im Klaren, was ihnen bevorstand, und es kostete ihn große Mühe, sich auf dem Weg zurück ins Krankenhaus zusammenzureißen. Dort angekommen, nahm er seine Schwägerin Dill Mohin beiseite und bat sie nachzuschauen, ob Fingernägel und Ohren der Jungen wirklich sauber waren. Anschließend wurden Paul und Mike den Flur entlang in Marys Krankenzimmer geführt. Sie stützte sich auf einen Ellenbogen, um sie zu begrüßen.
Mike sprang auf ihr Bett, um sie zu umarmen, und sie versuchte zu lächeln. Beide küssten ihr Gesicht, und sie griff nach ihren Händen. Aber Paul entdeckte einen beängstigenden roten Fleck auf den weißen Laken, und ihm dämmerte allmählich die grauenhafte Wahrheit. „Es war schrecklich“, erinnerte er sich.17
Mary versuchte nicht zu weinen. Sie sprachen einige Minuten miteinander. Noch mehr Küsse und ein schneller Abschied. Paul und Mike berührten ein letztes Mal das Gesicht ihrer Mutter mit ihren Lippen und wurden dann wieder nach Hause gebracht. Eine Stunde später legte ihr der Priester, der das Krankenhaus geleitet hatte, in dem sie gearbeitet hatte, einen Rosenkranz ums Handgelenk und gab ihr die Letzte Ölung. Mary wandte sich zu ihrer Schwester und flüsterte: „Ich hätte die Jungen so gern erwachsen werden sehen.“18
Pauls lebhafteste Erinnerung an diesen Tag war, dass er im schlimmsten Moment etwas völlig Unpassendes sagte. Die Worte kamen einfach aus seinem Mund, und er konnte sie nicht wieder zurücknehmen. Sie hingen in der Luft und schwelten wie die Trauer in der Tiefe seiner Magengrube.
Er hatte es nicht so gemeint. Er hatte nicht gewusst, was er hatte sagen sollen. Was konnte man denn auch sagen? Alles andere war wie verschwommen: seine Onkel und Tanten blass und verweint, sein Vater, der so erschüttert war, dass er seinen Söhnen nicht einmal gegenübertreten konnte.
Eure Mutter … die Ärzte haben getan, was in ihrer Macht stand … ich muss euch leider sagen, dass sie letzte Nacht gestorben ist. Sie ist nun im Himmel bei Gott …
Keiner der Jungen weinte oder schrie auf. Sie blinzelten vielleicht und nickten. Sie verstanden. Sie würden ein paar Tage bei Onkel Joe und Tante Joan bleiben, weil ihr Vater etwas Zeit brauchte, um allein zu sein. Wollten sie heute noch in die Schule? Ja, das wollten sie, das war ihnen recht. Was hatte ihnen ihr Vater immer gesagt, wenn das Leben hart zuschlug: Weitermarschieren. Und genau das taten sie. Sie stopften sich das Hemd in die Hose und machten sich bereit zum Aufbruch. Und plötzlich fand Paul dann doch einige Worte.
Was tun wir jetzt bloß ohne ihr Geld?19
Hatte das jemand gehört? War es jemandem aufgefallen? Wahrscheinlich nicht. Der Einzige, der sich überhaupt daran erinnerte, diese Worte gehört zu haben, war Mike. Der Schock der Ereignisse hatte den jüngsten McCartney so sehr mitgenommen, dass er jahrelang dachte, er selbst hätte es gesagt. „Es war ein blöder Witz“, erinnerte er sich zehn Jahre danach. „Wir haben es beide monatelang bereut.“20
Es gab so viel zu bedauern. So vieles, das sie vermissten. Marys Abwesenheit ließ das kleine Haus in der Forthlin Road plötzlich riesengroß erscheinen. Der verlockende Duft ihrer Hefebrötchen stieg nicht mehr in die Morgenluft. Das vertraute Klappern des Geschirrs im Spülstein, der Geruch ihres Tees und ihrer Zigaretten, der Klang ihrer Stimme, wenn sie die Treppe hinaufrief, all das fehlte. Es war verschwunden, zusammen mit den Umarmungen, den kleinen, heimlich zugesteckten Leckereien, der sanften Kraft ihrer Arme, wenn sie die Jungen an sich zog.
Die Tragödie erschütterte die Grundfesten all dessen, was sie einmal für selbstverständlich erachtet hatten. Ihr Vater, einst der Inbegriff bodenständiger Kraft, brach nun sichtbar zusammen. „Das war für mich das Schlimmste“, sagte Paul. „Man erwartet, Frauen weinen zu sehen … aber wenn plötzlich dein Vater weint, dann weißt du, dass irgendetwas wirklich nicht stimmt, und es erschüttert deinen Glauben an alles.“21
Das Schlimmste war, dass Paul selbst so dringend glauben wollte. Auch wenn er manchmal frech gewesen war, er hatte im Unterricht immer aufgepasst und die Erwachsenen respektiert. Er erinnerte sich an das, was sie ihm gesagt hatten, und nahm es sich zu Herzen. Ebenso wie Mike weinte Paul nur in der Dunkelheit seines Zimmers, wenn er im Bett lag und fühlte, wie die Leere um ihn herum nach ihm griff. Zunächst versuchte er es mit Gebeten, er faltete die Hände und flehte Gott an, doch wieder alles zu richten; er schwor, dass er alles tun, dass er immer ein guter Junge sein würde, wenn Er sie nur wieder zu ihnen zurückschickte. Alles. Alles! Als Erwachsener erinnerte er sich mit einem gewissen Zynismus daran. „Wie man sieht, haben die Gebete nicht geholfen!“, bemerkte er gallig. „Obwohl ich das damals so sehr gebraucht hätte.“22
Am nächsten Morgen ging Paul wieder ganz normal zur Schule, marschierte geradewegs in das Klassenzimmer 32, in dem Alan „Dusty“ Durband englische Literatur unterrichtete, und nahm seinen üblichen Platz am Fenster ein. Dennoch sackten Pauls Leistungen in der Schule in den folgenden Wochen merklich ab. Zuerst machte es den Anschein, als ob der Vierzehnjährige stets mit den Gedanken woanders sei und aus dem Fenster guckte. Im November zeigte sich dann, dass er nicht mehr wie früher seine Aufgaben erledigte und die Noten der Klassenarbeiten schlechter wurden. Seine Witze wurden bitterer, sein Ton schärfer. „Er machte eine ziemlich harte Zeit durch“, erinnerte sich Durband. „Ich glaube, das hat ihm wirklich einen harten Schlag versetzt.“23 Dennoch gab Paul sich Mühe, so zu tun, als sei nichts geschehen. Als der erste Schock allmählich verebbte, merkte er, dass er sich durch den Verlust älter und härter fühlte. „Ich war entschlossen, es nicht an mich herankommen zu lassen“24, sagte er über den Tod seiner Mutter. „Ich lernte, mich mit einer harten Schale zu umgeben.“
Er lernte auch, dass er den Mantel anbehalten musste, wenn er und Mike am Nachmittag in das leere Haus zurückkehrten. Das waren die schwersten Stunden, wenn sie ein Heim betraten, das einmal so voller Leben und Wärme gewesen und nun so kalt und dunkel und leer geworden war. Es gab sofort etwas zu tun. Paul musste die Asche aus dem Ofen kehren, ein neues Feuer aufschichten und anzünden. Mike hatte dann schon den Kessel aufgesetzt, und wenn der pfiff, setzten sich Paul und Mike zum Essen an den kleinen Küchentisch der Familie und wärmten sich die Finger an den dampfenden Tassen. Erfrischt stapelten sie dann die leeren Teller auf der Spüle, nahmen die Hausaufgaben in Angriff und wandten sich dann ihren Comicheften zu. Vielleicht schalteten sie auch den Fernseher ein und guckten Abenteuerserien oder die Children’s Hour, die täglich um fünf Uhr nachmittags auf BBC lief.
Die Monate vergingen, und bei den McCartneys kehrte langsam eine andere Normalität ein. Jim kam am späten Nachmittag von der Baumwollbörse nach Hause, und dann setzten sich die drei zusammen, der Geruch von Würstchen mit Kartoffelbrei zog durchs Haus und vermischte sich mit dem Gläserklappern und dem unermüdlichen Witz und positiven Lebensgeist der McCartneys, der sich einfach nicht unterkriegen ließ. Wenn jemand einen schlechten Witz erzählte, winkte Jim ab und versprach in alter Vaudeville-Manier: Das klappt in der zweiten Vorstellung besser.25 Ein beliebter Witz, der gern so vorgetragen wurde, dass ein Hauch vorgetäuschten Selbstbewusstseins mit einem Hauch vorgetäuschter Panik kollidierte, lautete: Hier sind wir