Paul McCartney - Die Biografie. Peter Ames Carlin
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Obwohl er sauber gekämmt und in gebügelten Sachen in der Schule erschien, fühlte sich Paul dennoch sehr zu den eher unkonventionellen Schülern hingezogen. Die bedeutsamste Freundschaft dieser Art war wohl die zu Ivan Vaughan, einem Klassenkameraden, der in Woolton wohnte, einem grünen Stadtteil mit Einfamilien- und Doppelhäusern, gar nicht weit entfernt von der bezuschussten Reihenhaussiedlung der McCartneys. Ivan war von eher durchschnittlichem Aussehen, hatte jedoch abstehende Ohren und lockiges, dunkles Haar, das er auf dem Kopf dick und buschig wachsen ließ, während er sich die Seiten sehr kurz geschnitten hatte. Das Auffälligste an seiner Erscheinung war das Funkeln in seinen Augen und das schiefe Lächeln, das sein Gesicht erhellte, wenn ihn etwas amüsierte. Und das war oft der Fall, denn Ivan plante meist irgendwelche schrägen Dinge. Er wohnte mit seiner Mutter in einer ruhigen Straße, nur wenige Meter von der Mauer entfernt, die das Heilsarmee-Gelände von Strawberry Field umfasste. Das Haus der Vaughans war recht groß und gemütlich, aber das hielt Ivan nicht davon ab, seinen Namen in riesigen Buchstaben über die Fenster seines Zimmers zu malen. Bei einer anderen Gelegenheit tauchte er in der Schule zwar mit den schwarzen Schuhen auf, die zur Uniform gehörten, allerdings hatte er sie quittegelb angemalt. „Ivan fiel immer auf“, erzählte 1997 ein weiterer Klassenkamerad, der später in Großbritannien als Nachrichtensprecher sehr bekannte Peter Sissons, dem Sunday Mirror27. „Der war ein echtes Original.“
Für den autoritätsgläubigen Paul war Ivan eine Offenbarung. Sie hatten sich schon zu Anfang ihrer Schulzeit am Liverpool Institute kennengelernt und festgestellt, dass sie beide am 18. Juni 1942 geboren waren. Sie wurden Freunde und teilten ihre Begeisterung für Gedichte und Humor – vor allem für die Fernseh-Comedy The Goon Show – sowie später für Rock ’n’ Roll.
Wann hatte Paul zuerst mit dieser neuen Musik Bekanntschaft gemacht? Im Winter 1957 hatte sich der neue, raue Sound aus Amerika schon seit einigen Monaten in seinem Bewusstsein festgesetzt. Dafür war vor allem der Schotte Lonnie Donegan verantwortlich, dessen Interpretation des amerikanischen Standards „Rock Island Line“ Anfang 1956 erstmals den Skiffle in die britischen Hitparaden brachte, eine dynamische Mischung aus Rock, Folk und Jazz. Dieser heimische Sound war zwar allenfalls ein Echo seiner Vorbilder, aber die Originalmusik war äußerst schwer aufzuspüren und wurde im Radio so gut wie gar nicht gespielt. Rock ’n’ Roll. Schon allein dieser Begriff konnte einem wohlige Schauer über den Rücken rinnen lassen. Rock ’n’ Roll! Selbst wenn man den sexuellen Beiklang dieses Begriffes einmal beiseite ließ (der Ausdruck stammte aus einem Rhythm & Blues-Song von Trixie Smith aus dem Jahr 1922 mit dem Titel „My Man Rocks Me With One Steady Roll“; ein Song, der mit Sicherheit verboten worden wäre, wenn ihn irgendjemand, der etwas zu sagen hatte, je gehört hätte), so klang diese Wortschöpfung für sich schon ungemein verlockend. Man musste gar nicht wissen, welche sexuelle Anspielung sich dahinter verbarg, um instinktiv zu begreifen, was damit gesagt werden sollte.
Kein Wunder, dass diese Musik in dem vierzehnjährigen Paul ein kleines Feuer entzündete. Schon allein der Sound. Die unterschwellige Hysterie von „Tutti Frutti“ oder „Long Tall Sally“. Das Kneipenklavier von „Whole Lotta Shakin’ Goin’ On“. Der Rhythmus von „Twenty Flight Rock“. Paul war mit Musik aufgewachsen, mit den Jazz- und Ragtime-Platten seines Vaters und dessen begeistertem Klavierspiel. Aber das hier war etwas ganz anderes. Das hier war reiner Spaß. Mehr als das, es war jung und voller Energie. Rock ’n’ Roll klang nach Mädchen, Partys, nach Leben. Diese Musik war wild und gefährlich, wie Elvis Presley, der nicht nur wie eine sexuell aufgeladene Revolte klang, sondern auch noch so aussah. Paul und Mike guckten sich seine Fotos auf den Plattenhüllen an, staunten über die Motorradkleidung aus Leder, das hochgekämmte Haar und dieses verächtliche Lächeln mit leicht offenem Mund. Wenn seine Platten aufgelegt wurden, dann sah man Jugendliche tanzen und kreischen, Hemden rutschten aus den Hosen, und die Schulkrawatten flogen. Es war einfach unglaublich. Auch für Paul, der endlich etwas gefunden hatte, woran er glauben konnte. „Er ist es! Er ist es!“, dachte er. „Der Messias ist gekommen!“28
Die BBC gab sich allerdings keinerlei Mühe, die neue Gottheit und sein Gefolge gebührend anzuerkennen. Es war den Verantwortlichen ohnehin nicht gestattet, allzu viel Musik aus der Konserve, also von Schallplatten, zu spielen, und deshalb hielt sich Großbritanniens einzige Sendeanstalt an Big Bands und Jazzcombos mit leichtem Programm. Falls man in den heiligen Hallen der BBC überhaupt schon etwas von Rock ’n’ Roll gehört hatte, dann beabsichtigten die ältlichen Programmchefs ganz sicher nicht, irgendetwas davon in die ruhigen Wohnzimmer des Britischen Empires zu übertragen.
Und so mussten alle Rock-Interessierten selbst herausfinden, wie sie an ihre Musik herankommen konnten. Vielleicht war schon das der halbe Spaß – Rock ’n’ Roll war nicht nur mitreißend, er war auch schwer zu fassen. Die richtig entschlossenen Fans nahmen die Mühe auf sich, nach Einbruch der Nacht den Mittelwellenempfänger ihres Radios auf das 208 Meter-Band einzustellen, bis endlich das knisternde Signal von Radio Luxemburg zu hören war. Die auf Englisch moderierten Sendungen, in denen populäre Musik gespielt wurde, gab es nur nachts, und die Übertragung hing vom Wetter und den Unwägbarkeiten der Radiowellen ab. Dennoch waren Paul und Mike bald besessen von den späten Sendungen, und oft blieben sie auf, nachdem Jim sie schon längst aufgefordert hatte, ins Bett zu gehen, und drängten sich beide um das Radio. Schließlich bastelte Vater McCartney seinen Jungs zwei provisorische Kopfhörer mit Kabeln, die lang genug waren, dass sie bis in die Kinderzimmer reichten, sodass die beiden das Programm im Bett verfolgen konnten, und der schwach aus dem Äther dringende Sound aus jaulenden Gitarren, treibendem Schlagzeug und heulenden Gesängen wurde zur Brücke zwischen ihrem Alltag und ihren Träumen. „Ich liebte Musik“, erinnerte sich Paul einmal an diese frühen, von Elvis-Begeisterung durchdrungenen Tage. „Wenn es uns dreckig ging, dann gingen wir nach Hause und hörten ‚Don’t Be Cruel‘, und dann ging’s uns wieder gut. Das konnte jede miese Stimmung vertreiben.“29
Aber Paul hörte nicht nur zu. Er wollte diese Musik in Händen halten, diesen Sound selbst produzieren und ihn selber fühlen. Da kam ihm die kleine Akustikgitarre, die er im Sommer zuvor zum Geburtstag bekommen hatte, gerade recht. Es war eine billige Massenproduktion namens Zenith, mit hohem Steg und einem Hals, der stets so aussah, als würde er jeden Augenblick durch die Saitenspannung abbrechen. Zunächst fand Paul es beinahe unmöglich, das Instrument zu spielen; die Finger seiner linken Hand irrten über das Griffbrett und weigerten sich, die Geschicklichkeit zu entwickeln, die auch nur für die einfachsten Griffe nötig war. Er wusste nicht, wie er etwas daran ändern sollte, bis er in einer Zeitschrift ein Foto des Countrymusikers Slim Whitman sah, der seine Gitarre andersherum hielt als alle anderen Instrumentalisten auf der Bühne. Natürlich! Er war auch Linkshänder! Paul erkannte, dass er alles umbauen musste – die Saiten andersherum aufziehen und die Gitarre drehen, damit er mit der rechten Hand greifen konnte. Von diesem Augenblick an wurde die Zenith das Zentrum, um das sich sein ganzes Leben drehte. Stundenlang hielt er die Gitarre im Arm, den Kopf über den geschwungenen Korpus gebeugt, während seine Fingerspitzen über die Saiten huschten, Töne fanden und sie zu den richtigen Griffen zusammensetzten. Er sang leise vor sich hin, Songs, die er im Radio gehört hatte, und versuchte, sich in dem Spielraum zwischen dem, was in seinem Kopf herumspukte, und dem Geräusch, das von den Saiten der Zenith drang, zurechtzufinden. Damit konnte er Stunden zubringen, und nichts anderes war ihm mehr wichtig. Seine Hausaufgaben blieben unerledigt. Seine Comics fasste er nicht mehr an. „Er war ganz darin versunken“, erinnerte sich Mike. „Er vergaß sogar zu essen und dachte an nichts anderes mehr.“30
Wenn man Paul suchte, fand man unweigerlich auch die Zenith. Sie lag auf seinem Schoß, wenn er im Wohnzimmer fernsah. Oder über seiner Brust, wenn man ihn in seinem Zimmer aufsuchte. Sie erschallte aus dem Klo und aus dem Badezimmer, und die Akkorde wurden dabei allmählich klarer, die Melodiebögen länger und sicherer. Schließlich kam das, was man sonst vom Plattenspieler hörte, nun auch aus Pauls Gitarre, begleitet von seiner eigenen klaren und immer kräftiger werdenden Stimme. Well, I’ve got a girl with a record machine, when it come’s to rockin’ she’s the queen … Das war wie Zauberei! Eine Platte zu hören, das war eine Sache, aber ein Lied mit den eigenen Fingern heraufzubeschwören, das war, als spränge man in die Musik hinein und würde selbst zu diesem Lied. Die ganze Freude und Erregung, die der Sound vermittelte, eignete man sich ebenfalls an. Wenn Pauls eigene Gefühle übermächtig