Giganten. Ernst Hofacker
Zermürbungskrieg mit der Staatsmacht diverser Länder: »Ich war eine ganze Zeit lang die Nr. 1 auf ihrer Liste!« Mal erteilten sie ihm, wie einst in Frankreich, Einreiseverbot; mal zerrten sie ihn, wie im heimischen England, vor den Kadi und steckten ihn 1967 gar in den Knast; mal buchteten sie ihn, wie 1972 in den USA, ein, weil er sich mit einem Bullen geprügelt hatte; und zu guter Letzt, 1977 in Kanada, nahmen sie ihn hoch und klagten ihn des Drogenhandels an, was bekanntlich um ein Haar zu einer mehrjährigen Haftstrafe geführt hätte. Keith gegen den Rest der Welt – so lief das, zumindest aus Sicht des notorisch eigensinnigen Instinktmenschen Richards, dessen Moralkodex schon immer näher an dem eines Karibik-Piraten als dem des durchschnittlichen Westeuropäers orientiert war.
Seit Mr. Rock’n’Roll allerdings in die Jahre gekommen und inzwischen gar Großvater geworden ist, hat sich auch sein Verhältnis zur Obrigkeit geändert: »Heute wollen sie Autogramme von mir«, grinst der mittlerweile 66-Jährige. Dass er trotzdem nach wie vor von Dämonen getrieben ist, ahnt jeder, der zum Beispiel Losing My Touch, seine düster in Verlust und Paranoia getauchte Ballade vom Jubiläumsalbum 40 Licks, mal genauer anhört. Nicht umsonst nannte ihn Ober-Satanist Kenneth Anger mal »des Teufels rechte Hand«. Soweit das öffentliche Image. Dahinter indes verbirgt sich eine komplexe Persönlichkeit, die selbst engsten Freunden mitunter verschlossen bleibt. So dürfte es nicht nur Stones-Novizen überraschen, dass Keiths Alter Ego Mick Jagger den Mann, der für Legionen von Gitarristen das supercoole Rollenmodell abgab, auch heute noch als »extrem schüchternen Menschen« einschätzt, »der unter Leuten nicht wirklich aus sich herauskommt«, wie der Sänger in der DVD-Dokumentation Four Flicks wissen lässt. Die 2007 im Alter von 91 Jahren verstorbene Mutter Doris plauderte schon vor langer Zeit aus, dass die lebendigste Leiche des Rock’n’Roll »etwas von einem Muttersöhnchen« hatte. Andererseits zögert Richards keine Sekunde, etwa ungebetenem Besuch aus dem Publikum auf der Bühne eigenhändig mit der geschwungenen Telecaster den Scheitel zu ziehen.
Mit zunehmendem Alter hat der ein Leben lang durch die Welt zigeunernde Richards zudem die Werte der Familie entdeckt. Seit Jahren schon lebt er mit Frau und Kindern in einem Refugium bei Weston im US-Bundesstaat Connecticut. Mit Ehefrau Patty Hansen, einem ehmaligen Fotomodell, hat er nunmehr 26 gemeinsame Ehejahre hinter sich – für einen Mann, der in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor als Synonym für die Dreifaltigkeit von Sex & Drugs & Rock’n’Roll steht, eine überraschend lange Zeit. Es sieht so aus, als sei die Familie dem Gitarristen zur unverzichtbaren Stütze und Kraftquelle geworden. Er selbst beschreibt es in der ihm typischen Mischung aus Pragmatismus und Philosophie: »Wenn du die Chance hast, es mal auszuprobieren, mach es, denn es ist eines der speziellsten Dinge, die du auf dieser Erde erfahren kannst. Es ist das letzte fehlende Teil des Puzzles, das dir zeigt, worum es im Leben geht.«
Ein Mann mit vielen Facetten also – der als Musiker zu einem der großen Originale der Rock-Ära wurde. Wer, wie die britische Journalistin Barbara Charone schrieb, »mit fünf um alles in der Welt Roy Rogers« sein wollte, einem britischen Gericht ins Protokoll diktierte, dass er nicht beabsichtige, »über die Armseligkeit der herrschenden Moral zu streiten« und überdies auf seine Plektren die Worte »Ich bin unschuldig« drucken ließ, der schlägt sich auch als Künstler seinen ganz eigenen Pfad durch das Dickicht der Möglichkeiten und Irrwege.
Two Fingers - Richards’ Spiel: 1958, mit 15 Jahren, bekommt der halbwüchsige Keith seine erste Gitarre – und er wechselt an die Sidcup Art School, eine der berühmt-berüchtigten englischen Kunstschulen jener Tage, wo das Lehrpersonal offenbar nicht sonderlich daran interessiert ist, was die Schüler im Unterricht treiben. Keith jedenfalls nutzt seine drei Jahre dort, um intensivst seinen Chuck Berry zu lernen und sich zudem mit authentischem US-Blues vertraut zu machen, bis heute die zwei tragenden Säulen seines Spiels. Der frühe Keith reproduziert zunächst, was er von seinen Vorbildern gelernt hat. Dabei klingt er gelegentlich noch etwas ungestüm, hektisch und vermasselt den einen oder anderen Ton, schön zu hören im Solo bei Little By Little vom ersten Album der Band. Aber er hat auch schon große Momente, etwa in It’s All Over Now vom Juni 1964, an dessen Solo sich nach eigenem Eingeständnis Kollege Springsteen in seinem Jugendzimmer im fernen Freehold, New Jersey, seinerzeit die Finger blutig übte. Richards’ Gefühl für rhythmisch prägnante Melodieriffs allerdings wird schon in dieser, stilistisch noch wenig ausgeprägten Frühphase deutlich.
Nach den Aufnahmen zu Between The Buttons (1967) kommt es zur entscheidenden Wende in Keiths Spiel. Erstmals seit Jahren in der Tour-Platte-Tour-Tretmühle hat er wieder Zeit, Musik zu hören. Er beschäftigt sich intensiv mit sehr frühem Blues, entdeckt Charley Patton und Robert Johnson und noch einiges mehr: »Mein Spiel blieb irgendwie auf der Stelle stehen – und ich auch«, wie er dem britischen Journalisten David Dalton erzählte. »Als ich dann damit anfing, in ein paar alte Blues-Platten aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren reinzuhören, fielen mir diese merkwürdigen Gitarrenstimmungen auf. Da hatten diese Burschen irgendwann einmal eine Gitarre in die Finger gekriegt, und oft war sie halt irgendwie gestimmt, und so lernten sie, darauf zu spielen.«
Außerdem beginnt Richards, mit anderen Musikern zu arbeiten. Einer von ihnen: Ry Cooder, der sich da schon intensiv mit früher US-Folklore beschäftigt hat. Von ihm lernt er die damals im Pop noch ungebräuchlichen und allenfalls von Slide-Gitarristen benutzten offenen Stimmungen in G-, D- und E-Dur. Erstmals setzt er diese Tunings auf Beggars Banquet (1968) ein. Es ist das erste Album, das er als Gitarrist mehr oder weniger alleine bespielt, denn Kollege Brian Jones hat zu diesem Zeitpunkt das Interesse an den sechs Saiten längst verloren. Sein einzig nennenswerter Beitrag sind die markanten Bottleneck-Licks auf No Expectations.
Bestes Beispiel für Keiths Power Chords im Open Tuning: Street Fighting Man, das mit verfremdet aufgenommenen Akustikgitarren eingespielt wurde. Oder Jumpin’ Jack Flash, das er in Open D spielt. Honky Tonk Women (1969), angeblich von Cooder inspiriert, ist indes ein frühes Beispiel für die offene G-Stimmung. Ein weiteres Charakteristikum von Richards’ Spiel ist hier erstmals in Reinkultur zu hören: das lose improvisierte, von Pausen geprägte Akkordspiel, nur verbunden durch sparsam gesetzte Licks. Das einfache Allerwelts-Akkordgerüst des Songs erhält so eine unverkennbare, dynamische Riff-Struktur. Das Prinzip ist ähnlich wie beim Malen nach Zahlen, nur dass Richards bewusst die eine oder andere Zahl umgeht. Die Licks in Honky Tonk Women dokumentieren überdies auch Richards zunehmendes Interesse an Countrymusik – die noch junge Freundschaft zu Gram Parsons beginnt erste Früchte zu tragen. Dessen Einfluss wird allerdings erst auf späteren Songs wie Wild Horses (1971), gespielt mit einer Akustikgitarre im so genannten Nashville-Tuning, oder dem grandiosen Torn And Frayed vom 1972er-Meisterwerk Exile On Main St. deutlich.
In den Jahren zwischen 1968 und 1972 integriert Richards nicht nur neue Tunings in sein Spiel, er findet auch seine ganz eigene Sprache als Gitarrist. Wo andere mit abgefahrenen Sounds experimentieren (Jimi Hendrix) oder neue Maßstäbe in Sachen Virtuosität setzen (Jimmy Page, Jeff Beck, Eric Clapton), stellt Richards sein Spiel ausschließlich in den Dienst des Songs, beschränkt sich auf einfachste Mittel und versucht, das Spektrum seiner Möglichkeiten innerhalb der formalen Limitierungen des Blues-geerdeten Rock zu erweitern. Mit seiner Gitarre wird er nicht zum gefeierten Neuerer, sondern zum Stilisten mit ureigener Handschrift. Songs wie Brown Sugar, Gimme Shelter oder das archetypische Start Me Up sind in ihrer souveränen Beschränkung aufs Wesentliche und mit ihrem traumwandlerisch sicheren Drive von keinem anderen Gitarristen denkbar. Dabei ist diese Sorte Trademark-Riffs nicht mal das einzig Charakteristische an Richards’ Spiel. Er entwickelt zudem einige Marotten, etwa die immer wiederkehrenden typischen Sus4-Vorhalte im Akkordspiel. Und, allerdings erst in späteren Jahren, die gerade bei Balladen gern abenteuerlich knapp am »korrekten« Ton vorbeigezogenen Bendings (wunderbar zu hören auf Sleep Tonight, 1986).
Seit den Siebzigern hat sich an Richards’ Gitarrenstil nicht viel geändert, und seinem Vokabular hat er seit den Tagen von Jumpin’ Jack Flash, abgesehen von Details, nicht allzu viel hinzugefügt. Warum auch – Richards’ Stil ist längst unverkennbar. Dabei hat er nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihm Virtuosität ohnehin vollkommen egal ist. Heute geht es ihm darum, mit seinen Mitteln, und dazu gehört auch seine Band, seine ganz eigene Vision von Rock’n’Roll umzusetzen.
Three Chords - Richards’ Musik: Als Keith Richards 1962 mit Mick Jagger und Brian Jones die Rolling Stones gründet, lernt er von