Giganten. Ernst Hofacker

Giganten - Ernst Hofacker


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Country Blues der aus dem Süden zugewanderten Afroamerikaner den Einflüssen von Vaudeville, Jazz und dem populären Swing begegnet, wobei sich das Piano als dominierendes Instrument herauskristallisiert hatte. Jetzt aber, nach dem Weltkrieg, beginnt sich die elektrifizierte Gitarre als Hauptinstrument durchzusetzen. Sie verändert das Klangbild des Blues, der wesentlich härter, rauer, aggressiver und weniger geglättet daherkommt als beispielsweise die Rhythm’n’Blues-Hits des so erfolgreichen, vom Swing beeinflussten Louis Jordan. Leute wie Muddy Waters, Howlin’ Wolf und der in Detroit beheimatete John Lee Hooker unterstreichen mit ihrem direkten, rüden Vortragsstil Bodenständigkeit und Verwurzelung der Musik im Leben der einfachen Leute. Kurz: Die meistens ohne viel Aufwand eingespielten Platten treffen den Nerv der Menschen und klingen genauso frisch und ungehobelt wie die zahllosen, meist mit Gitarre, Piano, Harp, Bass und Drums besetzten Bands in den Kneipen der Amüsierviertel. Hinzu kommt, dass die großen Plattenfirmen, die im Zweiten Weltkrieg wegen der Schellack-Rationierung ihre Produktion einschränken mussten, das vermeintlich wenig lukrative Geschäft mit der »Race Music« den kleinen unabhängigen Firmen überlassen. Die wiederum sind wendig und können schnell auf den sich ändernden Markt reagieren. Wie Leonards Sohn Marshall Chess einmal anmerkte: »Wenn du am Freitagnachmittag eine Platte produziertest, war sie schon am Samstagabend fertig und du konntest sie den Leuten in den Kneipen verkaufen.« So schießen in Chicago Labels wie Chess (das 1950 aus der Firma Aristocrat Records hervorgeht), Checker, Parrot und J.O.B. Records aus dem Boden, die den wachsenden Bluesmarkt unter sich aufteilen.

      Muddy profitiert davon. Seine Platten gehen weg wie warme Semmeln, und, noch wichtiger, er hat mit seiner Band jede Menge Gigs. In den folgenden Jahren ist er mit Little Walter, Jimmy Rogers und dem inzwischen hinzugestoßenen Pianisten Otis Spann praktisch ununterbrochen unterwegs. Zu den zahllosen Auftritten in der Windy City gesellen sich ebenso viele auf dem immer größer werdenden Blues Circuit, der bis tief in die Südstaaten und sowohl in den Osten nach New York wie auch weit in den Westen reicht. Trotzdem: Chess und Chicago bleiben seine Heimat. Bald schon ist Muddy, den mit Labelboss Leonard Chess eine enge Freundschaft verbindet, gemeinsam mit dem Bassisten, Komponisten und Organisations-Tausendsassa Willie Dixon so etwas wie das musikalische Wappentier der Firma. Seine Erfolge weisen ihn als den Big Boss Man des Chicago Blues aus, Songs wie Rollin’ And Tumblin’, Part 1, Rollin’ Stone, I’m Your Hoochie Coochie Man, I Just Want To Make Love To You oder Mannish Boy werden Hits und machen ihn zum Star. Weshalb der inzwischen in seinen Vierzigern angekommene Mann aus Clarksdale noch lange nicht abhebt. Sein Geld gibt er aus für schöne Autos und tadellose Kleidung, ansonsten aber bleibt er der immer freundliche und gleichmütige Kumpel aus dem Delta.

      Bis etwa 1955 hält seine Erfolgssträhne an, dann gehen die Verkäufe auf dem schwarzen Markt allmählich zurück – Rock’n’Roll und mit ihm neue Helden wie Bo Diddley und Chuck Berry, den Muddy selbst zu Chess vermittelt hat, betreten die Szene. Zwar kann Waters nach wie vor mit Konzerten gutes Geld verdienen, auf dem Plattenmarkt aber spielt die Musik nun woanders. Da kommt ihm Ende der Fünfzigerjahre ein Umstand zur Hilfe, der nicht ohne Bedeutung für seine weitere Karriere und den ungeheuren Einfluss des Chicago Blues auf die spätere Rockmusik bleiben wird. Ein junges, weißes Publikum beginnt sich für das Folkerbe des Landes zu interessieren und entdeckt so den Blues. Nicht unbedingt den aus Chicago, viel mehr den ursprünglichen Folk- und Countryblues des Südens. Dahinter steckt ein intellektuelles, ethnologisches Interesse, man identifiziert sich mit dieser authentischen Kultur und beginnt, ihre Vertreter aus düsteren Kaschemmen in das Scheinwerferlicht der weißen, bildungsbürgerlichen Unterhaltung zu holen. So betritt auch Muddy Waters am 3. Juli 1960 die Bühne des renommierten Newport Jazz Festivals. Seine explosive Performance geht in die Annalen ein. Die Aufnahmen, veröffentlicht auf dem Album At Newport 1960 (Chess/MCA, 2001) zählen zu den besten seiner Karriere, die Platte wurde vom US-Magazin Rolling Stone im Jahr 2003 gar unter die 500 besten Alben aller Zeiten gelistet. Nicht zuletzt wohl auch wegen des Ann-Cole-Originals Got My Mojo Working, das bis heute elektrisiert.

      1958 reist Muddy zusammen mit Otis Spann ins ferne England – mit überraschenden Folgen. Die Folkies im Königreich erwarten einen in Ehren ergrauten Baumwollpflücker von der Sorte Big Bill Broonzys, der zur akustischen Gitarre vom entbehrungsreichen Leben der Schwarzen im Süden erzählt. Der Irrtum könnte größer nicht sein. Als Waters mit seiner Fender Telecaster loslegt, bekommt das fassungslose Publikum raubeinigen, wüsten Chicago Blues zu hören – laut, aggressiv, voller sexueller Anspielungen und alles andere als zahm. Da steht ein Mann, der ganz im Hier und Jetzt verwurzelt ist, mit den romantischen Vorstellungen der akademischen Ethnologen nichts zu tun hat und das Leben in vollen Zügen genießt. Die englische Presse ist geschockt, jede Menge junge Briten aber sind hellauf begeistert. Darunter nicht wenige, die bald zum ersten Sturmtrupp des britischen Bluesbooms gehören, allen voran Alexis Korner, Cyril Davies und viele, die sich in deren Bands finden werden.

      Muddy ist Profi genug, um dem Ethno-Affen Zucker zu geben. Im September 1963 geht er in das Tel Mar Recording Studio in Chicago und nimmt mit dem jungen Gitarristen Buddy Guy sowie Willie Dixon und dem Drummer Clifton James Folk Singer auf, eine bedächtig und mit leiser Leidenschaft inszenierte Rückkehr zu den Wurzeln. Die lärmenden Ingredienzien des Chicago Blues – E-Gitarre, Harp und Piano – bleiben hier außen vor, stattdessen nimmt Muddy den Unplugged-Trend um schlanke dreißig Jahre vorweg. Mit intensiven Neueinspielungen von Eckpfeilern seines Repertoires wie Feel Like Going Home und Long Distance sowie Genreklassikern á la Good Morning Little Schoolgirl oder Big Leg Woman gelingt ihm ein funkelndes Highlight seines reichen Katalogs. Neben Live At Newport 1960 gehört Folk Singer zu seinen wichtigsten Alben (die Langspielplatte hatte sich gerade erst durchgesetzt, Muddys Klassiker waren samt und sonders als Singles erschienen, auf einer Langspielplatte zusammengefasst wurden sie erstmals 1957 für Best Of Muddy Waters.

      Ebenfalls 1963 geht Waters mit dem von Horst Lippmann und Fritz Rau veranstalteten »American Folk Blues Festival« auf Europatournee. Mit dabei auf diesem Kreuzzug für den Blues sind Kollegen wie Memphis Slim, Big Joe Williams und Sonny Boy Williamson II. Die Konzertserie, die ab 1962 regelmäßig die Alte Welt bereist, gilt heute als wichtigste Inspiration und entscheidende Geburtshelferin der ersten europäischen Rockgeneration. Im Frühjahr 1964 absolviert Muddy noch eine weitere Englandtournee. Anschließend ist der Blues fest verankert in Hirn und Herz eines weißen Publikums und zur entscheidenden Grundlage einer neuen internationalen Popmusik geworden.

      Als mit den Rolling Stones am 10. Juni 1964 eine Gruppe englischer Bluesjünger während ihrer ersten US-Tournee in den berühmten Chess Studios auftaucht, um dort Material für eine EP einzuspielen, steht Muddy Waters, so jedenfalls wird Keith Richards später behaupten, im weißen Overall im Foyer des Gebäudes und streicht die Decke. Marshall Chess und einige andere haben bis heute starke Zweifel an Richards’ Geschichte, Fakt aber ist, dass es für Muddy in diesen Jahren auf dem heimischen Plattenmarkt nicht sonderlich gut läuft. Das schwarze Publikum tanzt inzwischen lieber zu den Songs aus Motowns Hitschmiede, denn Muddys Musik gilt als antiquiert. Da trifft es sich gut, dass die Auftritte der Waters Band in weißen Clubs langsam aber sicher zahlreicher werden. Prompt kommt Marshall Chess, so etwas wie der Jugendbeauftragte des Labels, auf die Idee, den Hippies den Blues als Trojanisches Pferd zu verkaufen. Er schickt Muddy 1967 mit ein paar jungen schwarzen Musikern ins Studio und lässt sie Waters’ Klassiker im angesagten psychedelischen Rockstil aufnehmen, also mit ausufernden Gitarrensoli á la Hendrix und modernen studiotechnischen Tricks. Das Ergebnis nennt er Electric Mud, die Platte wird zum ermutigenden Verkaufserfolg. Die Kritik jedoch zerreißt das Werk in der Luft und schüttet kübelweise Hohn und Spott über die Beteiligten. Tatsächlich ist Electric Mud alles andere als künstlerisch befriedigend ausgefallen, trotzdem zeigt es Wirkung. Nach und nach turnt es ein völlig neues Publikum auf Muddys Musik an. Sogar Chuck D, einer der einflussreichsten Vertreter der heutigen HipHop-Szene, wird dieser Platte mehr als dreißig Jahre später seine Bekehrung zum Chicago Blues verdanken (dokumentiert im faszinierenden Kinofilm Godfathers And Sons, der 2003 im Rahmen von Martin Scorseses grandioser Filmreihe Blues erschien). In eine ähnliche Kerbe schlägt eine deutlich gelungenere Kooperation, die Muddy 1968 mit dem Album Fathers And Sons eingeht, als er mit seinen weißen Schülern Mike Bloomfield, Paul Butterfield und Donald »Duck« Dunn zusammenspielt.

      In den Siebzigern aber scheint der Ofen für Muddy endgültig aus zu sein. Er nimmt zwar noch Platten auf, die allerdings kaum


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