Giganten. Ernst Hofacker

Giganten - Ernst Hofacker


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Chuck Berry, Little Richard, Ray Charles und Bo Diddley der Sprung in den weißen Mainstream gelingt, bleibt B. B. King allerdings außen vor. Zum Teil, weil seine Plattenfirma Crown nicht, wie etwa Chess in Chicago, in der Lage ist, sich den Gepflogenheiten des weißen Marktes anzupassen. Auch ABC Paramount, wohin King 1962 wechselt, schafft es nicht, den Bluesstar auf dem weißen Markt zu etablieren. Zum anderen aber gilt der elegant arrangierte Big Band Blues, den B. B. spielt, nach wie vor als Race Music. Ein intellektuelles weißes Publikum akzeptiert den Blues allenfalls als romantisierten Akustik-Folk mit Authentizitätsstempel vom Baumwollfeld. Weiße Kids interessiert das Thema noch gar nicht.

      Erst Mitte der Sechzigerjahre beginnt sich die Situation zu ändern. Eine Generation von jungen weißen Musikern entdeckt den Blues für sich und übernimmt das Kommando im Mainstream. Britische Bands wie Beatles, Rolling Stones, Yardbirds und Animals bringen den Blues und den in Amerika schon wieder vergessenen Rock’n’Roll zurück in ihr Ursprungsland. Dort wiederum treten junge Gitarristen wie Mike Bloomfield (Butterfield Blues Band), Steve Katz (Blues Project), Henry Vestine (Canned Heat) und Jim Gurley (Big Brother & The Holding Company) auf den Plan, die sich ausdrücklich auf den schwarzen Blues, wie er federführend von Muddy Waters, John Lee Hooker, Howlin’ Wolf und anderen entwickelt worden war, berufen. Sie begeistern ein weißes Mittelstandspublikum, das sich nun seinerseits aufmacht, die Originale zu entdecken. 1968 tritt B. B. King beim renommierten Newport Folk Festival auf, es folgt ein erster Gig in Bill Grahams berühmtem Rocktempel Fillmore West in San Francisco. Ein Jahr später tritt King gar im Vorprogramm der legendären Altamont-Tournee der Rolling Stones auf.

      Bezeichnend für die Situation, in der sich schwarze Blueser noch Mitte der Sechzigerjahre befinden, ist eine Anekdote, die B. B. King dem Magazin Blues Access erzählte: »Damals waren die Beatles das Heißeste, wovon ich je gehört hatte. In einem Magazin las ich, wie ein Interviewer John Lennon fragte, was er am liebsten mal tun würde. Er antwortete: Gitarre spielen wie B. B. King! Ich bin fast vom Stuhl gefallen und konnte nicht glauben, was ich las … Ich war so glücklich zu wissen, dass einer der berühmtesten Leute in der Welt meinen Namen kannte, nicht meine Musik, nur meinen Namen – das tat so gut.«

      Die Akzeptanz beim weißen Publikums beschert King über den kommerziellen Erfolg hinaus auch die ersehnte Anerkennung als Musiker. Das Rockpublikum verehrt ihn nicht in erster Linie als Bluessänger und Songwriter, sondern vor allem als Virtuosen, dessen Spiel sich im Repertoire praktisch jedes Rockgitarristen wiederfindet. Was nun noch fehlt, ist ein echter Welthit, und selbst der gelingt dem inzwischen 45-Jährigen im Jahr 1970. The Thrill Is Gone vom Album Completely Well (1969) ist ein Lied mit trauriger Vorgeschichte. 1966 geht B. B.s zweite, 1958 mit der 15 Jahre jüngeren Sue geschlossene Ehe in die Brüche. Wie auch bei seiner ersten Ehe hatte sich schnell gezeigt, dass eine Beziehung B. B.s ruhelosem Leben on the road nicht standhalten konnte. Kurz nach der Scheidung erinnert er sich an diesen Song, einen 1951er-Hit von Roy Hawkins, einem Pianisten, der zu seinen Labelmates bei Modern Records gehörte und später bei einem Autounfall einen Arm verlor. King nimmt die Nummer auf und legt all seine Trauer um die gescheiterte Liebe in seinen Gesang. Den Rest besorgt Lucille. Diese fünf Minuten Musik lassen die Welt aufhorchen, endlich ist B. B. King auch den Menschen ein Begriff, die sich weder für den Blues noch für Gitarrenvirtuosen interessieren.

      Und plötzlich wird der Mann, der sich über zwei Jahrzehnte lang in den übelsten Kaschemmen der US-Südstaaten plagte, von der weißen Unterhaltungsindustrie hofiert. Engagements in Las Vegas und den Musiktempeln der westlichen Welt folgen, und die Creme der Popszene will mit ihm arbeiten. Einige Kollaborationen, etwa die mit den Schülern Peter Green (In London, 1970) oder die mit den (Jazz) Crusaders um Wilton Felder und Joe Sample (Midnight Believer, 1978), gelingen, andere aber, zum Beispiel Friends (1974), eine verunglückte Exkursion in den modischen Phillysound, können nicht überzeugen. Kings Status als Elder Statesman des Blues und Vaterfigur der Rockmusik indes bleibt auch von misslungenen Alben unberührt.

      Als B. B. seinen 60. Geburtstag feiert, hat er stolze fünfzig Alben auf dem Buckel. In einem Alter, wo andere von ihren Karrieren in der Vergangenheitsform sprechen, erlebt er eine neuerliche Renaissance und startet in den dritten Frühling. Bei einem Konzert in Dublin stehen 1987 U2 im Publikum. Nach der Show trifft man sich. Die Iren bewundern den Gitarrenpionier, und Bono erfüllt nur zu gern B. B.s Wunsch, einen Song für ihn zu schreiben. King erzählt die Story in den Liner Notes zu Lucille & Friends (1995): »Ein Jahr später rief mich Sid (Seidenberg, Kings Manager) an und sagte, dass Bono einen Song für mich geschrieben habe. Er sagte, dass sie in Fort Worth spielen, und dass ich die Show für sie eröffnen könne. Er hatte den Song für uns beide geschrieben, um ihn zusammen zu singen. Wir probten ihn, und als ich dann zum Finale in dieser Nacht zurück auf die Bühne kam und wir When Love Comes To Town sangen, standen 40.000 Leute auf. 40.000 Leute!« Mit 63 Jahren findet sich der Bluesdaddy plötzlich in den Single-Charts wieder und wird von der MTV-Generation gefeiert.

      Er nimmt’s gelassen und tut, was er immer schon tat: live spielen, möglichst viel. Immer noch gibt er bis zu 250 Konzerte im Jahr, und wenn er mal wieder an einem Studioalbum arbeitet, lassen auch Größen wie die Rolling Stones alles stehen und liegen und tanzen vollzählig an, um den alten Herrn im Studio zu unterstützen. So geschehen 1997, als die Engländer die Arbeit an ihrem Album Bridges To Babylon unterbrechen, um als Backing Band B. B.s Track Paying The Cost To Be The Boss für das Album Deuces Wild neu einzuspielen.

      Ein anderer, der schon zu Beginn seiner Karriere in den frühen Sechzigern keinen Hehl daraus machte, dass er B. B. fast alles verdankt, nimmt im Jahr 2000 gar ein ganzes Album mit dem inzwischen 75-jährigen Grandaddy auf. Riding With The King, das funkensprühende Gemeinschaftswerk mit Eric Clapton, wird prompt zum bestverkauften Album in B. B.s langer Laufbahn.

      Fünf Jahre später feiert der King seinen achtzigsten Geburtstag auf einer Welttournee – mit einer vorläufigen Bilanz, die ihresgleichen sucht: mehr als neunzig Alben, dreizehn Grammies, ungezählte weitere Ehrungen und Preise, eine Biografie, die zum Geburtstag erscheint, ein zehn Millionen Dollar teures B. B.-King-Museum in Indianola, eröffnet im Sommer 2005, und nicht zuletzt ein nagelneues Studioalbum. Kein Grund indes, die Hände von nun an in den Schoß zu legen. King tourt nach wie vor und nahm zuletzt 2008 mit One Kind Favor ein neues Album auf, das mit einer Rückkehr zum puristischen Blues seiner frühen Tage überraschte.

      Sein Erfolgsgeheimnis hat dieser wohl größte aller Bluesmänner einst selbst verraten: »Ich bin eigentlich immer nur so gut wie bei meinem letzten Gig. Also glaube ich nie, ich hab’s geschafft, sage nicht: ›Hey, ich bin B. B. King!‹« Der ist er aber trotzdem. Und bereuen tut er gar nichts.

      Höchstens eine Sache, wie er fröhlich dem US-Journalisten Steven Sharp erzählte, als der ihn fragte, was er anders machen würde, könnte er noch einmal ganz von vorn anfangen: »Vielleicht würde ich aufs College gehen, um mehr über Musik zu lernen. Auf jeden Fall aber würde ich nicht vor vierzig heiraten!« Klar, wenn man fünfzehn Kinder von fünfzehn Frauen hat.

      Empfehlenswert:

      Live At The Regal (1965)

      Der König auf der Höhe seiner Kunst. Wohl keines von Kings Alben fängt besser die elektrisierende Performance des Meisters, das berauschende Zusammenspiel zwischen ihm und seiner präzisen Begleitband und nicht zuletzt die orgiastische Atmosphäre im Auditorium ein als dieses, aus zwei Shows im Chicagoer Regal Theater zusammengestellte Live-Dokument vom November 1964. King hatte zwei Jahrzehnte auf dem Chitlin Circuit hinter sich, stand voll im Saft und bot dem enthusiastischen Publikum einen Querschnitt seines frühen Schaffens, darunter Highlights wie How Blue Can You Get, Everyday I Have The Blues und Worry, Worry.

      Reflections (2003)

      Das vielleicht beste Album im ohnehin großartigen Spätwerk. Für Reflections holte King diverse Koryphäen, darunter Joe Sample, Nathan East und Clapton-Sidekick Doyle Bramhall II., zusammen, um dann mit ihnen gemeinsam unter Aufsicht des Produzenten Simon Climie das ganze weitläufige Spektrum seines Blues- und Jazz-getränkten Königreichs zu durchmessen. Üppige Arrangements mit Bläsern und Streichern, genügend Raum für inspirierte Gitarrensoli und eine für einen 77-Jährigen überraschend beseelte, kraftvolle Gesangsleistung – elegant, zeitlos, außer Konkurrenz.

      Anthology


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