Giganten. Ernst Hofacker
Zeitraum von 1963 bis zur Jahrhundertwende ab und konzentriert sich dabei vor allem auf die Sechziger- und frühen Siebzigerjahre, als King zweifelsohne seine wichtigste Musik einspielte. Zu hören sind neben Klassikern wie Payin’ The Cost To Be The Boss und Don’t Answer The Door natürlich auch das legendäre The Thrill Is Gone, mit dem der damals 44-Jährige seinen ersten und einzigen Welthit landete. Die 34 Tracks liefern einen repräsentativen Querschnitt durch Kings lange Karriere. Wer sich für das Frühwerk aus den Fünfzigerjahren interessiert, dem sei die Compilation Best Of The Blues Guitar King 1951-1966 ans Herz gelegt.
REELIN’ AND ROCKIN’
Chuck Berry, Lehrmeister mit Entengang
»Wenn Du Rock’n’Roll einen anderen Namen geben willst, nenn’ ihn einfach Chuck Berry!« Kein Geringerer als John Lennon war es, der die Bedeutung unseres Helden mit diesem Ausspruch einst auf den Punkt brachte. »Deep down in Louisiana, close to New Orleans…« Dort in den Southern Swamps war’s zwar nicht, aber in Chuck Berrys Geburtsstadt St. Louis, Missouri, hätte die kleine Holzhütte aus Johnny B. Goode ebenso stehen können. In diesem Song, Berrys wohl berühmtesten, prophezeit der Sänger seinem Protagonisten: »Some day your name will be in lights.« Die Grundidee der Popmusik: Zieh los mit deiner Gitarre, schreib einen coolen Song, werde reich und berühmt!
Keiner der frühen Helden des Rockzeitalters verkörperte diese Idee so perfekt wie Chuck Berry: Er war der begabteste Songwriter von allen, weder Buddy Holly, Eddie Cochran und Bo Diddley noch Jerry Lee Lewis oder Elvis, die ohnehin kaum selbst Songs schrieben, konnten ihm da das Wasser reichen. Und als Instrumentalist war Berry stilprägend wie kein anderer der frühen Rock’n’Roller, da mögen »der Killer« Lewis und der größenwahnsinnige Mr. Penniman alias Little Richard noch so sehr auf ihre Pianos gehämmert haben – Onkel Chuck war derjenige mit der breitesten musikalischen Basis.
Sein Background war durchaus bürgerlich, er war kein armer Baumwollpflücker wie Muddy Waters und John Lee Hooker. Charles Edward Berry, geboren am 18. Oktober 1926, war ein gebildetes und kultiviertes Mittelstandskind. Seine Mutter war immerhin Lehrerin, und die große Familie wohnte im besten Viertel, das in der damals noch strikt der Rassentrennung verhafteten Südstaaten-Metropole St. Louis für Schwarze zugelassen war. Chucks musikalischer Horizont reichte schon in Kindertagen von der Blues-Lady Billie Holiday und dem Jazz-Intellektuellen Duke Ellington über George Gershwins Kompositionen bis hin zu frühen Hillbilly-Stars wie Jimmie Rodgers und Roy Acuff. Er wusste sehr genau, was er da tat, und war wohl der Erste, der die mitunter tumbe weiße Countrymusik und ihre starre Form in Hirn und Hose eines smarten Schwarzen tauchte, also gleichsam mit Rhythm’n’Blues durchlauferhitzte. Womit er die für kommende Jahrzehnte gültige Formel für Rockmusik schuf.
Auch seine Qualitäten als Entertainer standen denen des frühen Elvis, denen des wilden Lewis oder denen des überdrehten Little Richard nicht nach. Das Bild des verschmitzt grinsenden Mannes mit der roten Gitarre, der die Bühne im Duckwalk quert und dabei listig die Augen rollt, dürften selbst Menschen kennen, die sich nie sonderlich für Musik interessiert haben. Und seine Songs sowieso, die gehören zur grundlegenden Popbibliothek wie Dierkes Weltatlas in den Erdkundeunterricht. Maybellene, Sweet Little Sixteen, Roll Over Beethoven oder Rock’n’Roll Music, um nur die bekanntesten zu nennen, definieren bis heute nicht nur musikalisch das, was wir unter Rock’n’Roll verstehen, sie zeichnen auch ein präzises Bild der Lebens- und Gefühlswirklichkeit von Teenagern in den Fünfzigerjahren – einer der Hauptgründe für seinen immensen Erfolg auf dem weißen Mainstream-Markt. Im Popbereich war er in dieser Hinsicht der erste Afroamerikaner, der mit originär schwarzer Musik die Portemonnaies weißer Plattenkäufer leerte.
Wo andere aus Blues, Hillbilly und Rockabilly im besten Fall ihren persönlichen Stil destillieren, kreiert Berry nicht nur diesen, sondern intuitiv dazu noch weitere wichtige Zutaten, auf die Pop seitdem zurückgreift: Neben den musikalischen Duftmarken ist das vor allem seine damals auf dem Popmarkt kaum gepflegte, geradezu journalistische Storyteller-Perspektive. Bruce Springsteen erklärte das Jahre später so: »Er hatte einen tollen Blick fürs Detail. Nimm den Song Nadine, darin singt er von einem ›kaffeefarbenen Cadillac‹. Ich hatte so einen Wagen noch nie gesehen, als ich den Song zum ersten Mal hörte, aber ich konnte ihn mir in diesem Moment genau vorstellen. Diese Dinge haben auch mein Songwriting immens beeinflusst.«
In Chucks Elternhaus gehörten Literatur, Theater und Bibelzitate zur geistigen Grundnahrung. Kein Wunder also, dass sich seine Poptexte von den damals üblichen, willkürlich aneinander gereihten Romantikklischees deutlich unterschieden. Seine Songs spielten in der Wirklichkeit, beinhalteten also auch soziale Kommentare – im Pop der Fünfzigerjahre ein absolutes Novum. Seine bildhafte Poesie hatte mehr von einer TV-Reportage in Reimform. Mit seinen so hintergründigen wie sprachverliebten Texten machte er zudem auch umgangssprachliche Wortspielereien im Pop salonfähig – was sich wenige Jahre später nachhaltig auf die Arbeiten von Bob Dylan, John Lennon und Mick Jagger auswirken sollte. Ebenso übrigens auch Berrys konkurrenzlos sicherer Sinn für Form und Ökonomie beim Schreiben und Spielen.
Und dann ist da noch etwas, das Berry im Unterschied zur zeitgenössischen Konkurrenz in den Rang einer über den Dingen thronenden Ikone erhebt: Mit seiner Gitarre schuf er ein einzigartiges Rock’n’Roll-Vokabular. Er entwickelte nicht nur seinen eigenen Vorrat an musikalischen Markenzeichen, er definierte mit seinem Spiel sogar – einzigartig in der Popgeschichte – das kleine Einmaleins für jeden, der nach ihm die Gitarre in die Hand nahm, um damit zu rocken. All die großen, stilprägenden Bands der Rock-Ära wären ohne Chuck Berry nicht denkbar. Fast im Alleingang etablierte er die Gitarre als führendes Instrument der weißen Popmusik. Auch wenn Männer wie Hank Williams oder Elvis gerne mit Gitarre vor ihr Publikum traten, sie benutzten das Instrument ausschließlich zur rhythmischen Begleitung. Berry indes setzte sie gleichermaßen als Rhythmus- und Soloinstrument ein, was bis dahin nur in den Bluesclubs von Chicago üblich war. Wie ein Klavier benutzte er die sechs Saiten, begleitete seinen Gesang mit rhythmischen Figuren auf den tiefen und setzte zwischen die Zeilen Fills, die er auf den hohen spielte – bis heute das grundlegende Prinzip der Rockgitarre. Der entscheidende Trick: Berry spielte kaum je Single Notes, er doppelte sie immer, spielte grundsätzlich mindestens zwei Saiten gleichzeitig an, wodurch sein voller, dynamischer Ton zustande kam. Keith Richards von den Rolling Stones, wohl Berrys gelehrigster Schüler, hat dafür eine so simple wie einleuchtende Erklärung: »Dieser Typ ist einfach riesengroß und hat riesige Hände – an ihm sehen diese dicken Gibsons aus wie eine Ukulele.« Trotzdem verfügte Berry durchaus über technische Fertigkeiten und eine große spielerische Eleganz. Sein Spiel speiste sich zu gleichen Teilen aus der Kunst der frühen Jazzvirtuosen wie Charlie Christian, aber auch aus dem rauen, zupackenden und effektvollen Stil eines Muddy Waters und, ganz besonders, T-Bone Walker. Dazu finden sich Spuren der Hillbilly-Musik von Gene Autry und Kitty Wells, die Chuck in seinen Kindertagen im Radio hörte. Nicht zuletzt borgte er sich jede Menge Zutaten beim Ende der Vierzigerjahre höchst erfolgreichen Combo-Swing von Louis Jordan, einem seiner frühen Idole.
All die musikalische Kultiviertheit allerdings verbarg er gerne hinter seinen Bühnenkaspereien. Überhaupt, er war von Anfang an ein begnadeter Entertainer, sein »Duckwalk« ist dabei nur der berühmteste von vielen weiteren Späßen, mit denen er sein Publikum seit je in den Bann zieht.
Dabei fängt der junge Chuck erst spät an, sich für die sechs Saiten zu interessieren. Zunächst reichen ihm vier – erst als 16-Jähriger sattelt er von der Tenorgitarre um auf eine richtige Sechssaitige. Viel lernt er von seinem frühen Mentor Ira Harris, einem Schüler Charlie Christians. Über die Jahre formt sich sein Stil in den Clubs von St. Louis, der entscheidende Schritt dürfte aber das Zusammentreffen mit Johnnie Johnson und dessen Trio sein, dem sich der bereits 27-jährige Berry Silvester 1953 anschließt. Hier trifft ein mit allen Wassern gewaschener Bluespianist auf einen geborenen Spaßvogel mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten als Gitarrist und jeder Menge musikalischer Phantasie.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Berry schloss sich dem Johnny Johnson Trio nicht als bescheidenes neues Mitglied an, vielmehr muss man den Vorgang eine freundliche