Giganten. Ernst Hofacker
der Profi Johnson sehr genau. Berry und Johnson werden mit ihrer Truppe schnell zur Hauptattraktion auf den Bühnen der Stadt, vor allem im Cosmo Club in East St. Louis. Die einzige Konkurrenz stellte die Band von Ike Turner dar.
Im Mai 1955 kommt es in Chicagos Chess Studios zu Berrys erster, durch Vermittlung von Muddy Waters zustande gekommenen Aufnahmesession. Der Titel zeigt exemplarisch, wie Chuck aus dem Pre-Rock’n’Roll-Pop jener Tage seinen ureigenen Stil zimmert: Ursprünglich hieß die Nummer Ida Red und war 1938 ein Country-Hit von Bob Wills. Der Song gehört schon eine Weile zu Berrys Bühnenrepertoire, wie auch einige andere Country-Songs, denn das gemischtrassige Publikum im Cosmo hört diese Musik gerne. Ida Red hat sich unter Berrys Händen allerdings in einigen entscheidenden Punkten verändert. Chuck hat den Text umgeschrieben – er handelt jetzt von einem untreuen Mädchen – und ihn mit jeder Menge Cadillacs, Coupé de Villes und sonstigen Symbolen des Nachkriegslebensstils aufgemotzt. Dazu hat er die Nummer gleichsam tiefer gelegt, ihr einen strammen Backbeat sowie ein Intro von ebenso großer Spannung wie rhythmischer Finesse verpasst. Zwischendrin hat er noch schnell das erste wirklich große Gitarrensolo der Rockgeschichte aus der Hüfte geschossen. Nach 2:18 Minuten ist Maybellene, wie der Song nun heißt, vorbei – und der Rock’n’Roll hat, ein Jahr bevor Elvis der nationale Durchbruch gelingt, seine musikalische Visitenkarte. Was sich übrigens auch an den Verkaufslisten ablesen lässt: Platz 1 in den R’n’B-Charts, immerhin Platz 5 in den landesweiten Pop-Charts. Aufschlussreiche Fußnote zum gelungenen Einstand: Berrys ureigene Mischung aus Country und Rhythm’n’Blues, damals völlig neu, löst Irritationen über seine Hautfarbe aus. Außerhalb von Memphis ist er schließlich noch völlig unbekannt, kaum jemand hat ein Bild von ihm gesehen, und so vermuten nicht wenige, dass es sich da wohl um einen Weißen handeln müsse. Chess Records trägt bewusst nichts zur Aufklärung bei und verschickt stattdessen absichtlich überbelichtete Promotion-Fotos.
Das Kleingedruckte auf der Single jedoch hat es in sich und beschert Berry eine seiner wichtigsten Lektionen im Plattenbusiness. Als Autoren nennt das Plattenlabel zur größten Verwunderung des Künstlers neben dessen Namen auch die von Russ Fratto und Alan Freed. Tiny Moore und Bob Wills hingegen, die Komponisten von Ida Red, das für Maybellene immerhin Modell stand, verschweigt man. Mit Freed hat Berry bereits zu tun gehabt, er ist eine nationale Berühmtheit und gilt mit seiner wöchentlichen Show beim New Yorker Radiosender WINS als einflussreichster R’n’B-Discjockey des Landes. Freed hat Maybellene als Erster gespielt und ist so durchaus mitverantwortlich für den Erfolg der Platte. Von Fratto aber hat Berry nie gehört. Wie sich herausstellt, ist der Mann der Vermieter der Räumlichkeiten, in denen Chess Records sich niedergelassen hat. Aus Gefälligkeit hat Leonard Chess die beiden Männer am Erfolg von Maybellene beteiligt. Eine Hand wäscht die andere, in den Fünfzigerjahren im Musikbusiness wie auch woanders gängige Praxis – allerdings auf Kosten der Künstler. In seiner Autobiografie sagt Berry dazu: »Bei meiner ersten Tantiemenabrechnung stellte ich erstaunt fest, dass jemand namens Russ Fratto und dieser Alan Freed, mit dem ich telefoniert hatte, Mitautoren des Songs waren. Als ich später mit Leonard Chess darüber sprach, behauptete er, dass der Song mehr Aufmerksamkeit erhalten würde, wenn bekannte Namen darunter stünden. Da ich unbekannt war, schien mir seine Argumentation einleuchtend – zumal er vergaß zu erwähnen, dass auch die Tantiemen aufgeteilt wurden.«
Im Anschluss an Maybellene gelingt Chuck Berry eine lupenreine Serie, jeder Song ein Treffer, ach was, allesamt werden sie Instant-Klassiker: Neben den schon genannten sind dies Carol, Back In The USA, Too Much Monkey Business, Reelin’ And Rockin’, You Never Can Tell, Let It Rock und andere mehr. Wer sich mit diesen Berry-Stücken auseinandersetzt, entdeckt schnell die typischen, von Gitarristen-Generationen nachgebeteten Merkmale seines Spiels. Das klassische Chuck-Berry-Intro etwa, exemplarisch zu hören in Johnny B. Goode, mit seiner von der Terz zum Grundton aufsteigenden Melodielinie, die dann in einem Stakkato von Grundton und Quinte ihren Gipfel findet. Der Trick funktioniert bis heute – noch immer lässt sich jedes Kneipenpublikum zwischen St. Louis und St. Petersburg mit diesem Intro anstandslos von null auf Hundert bringen. Geklaut hat Berry die Idee zu diesem Intro, wie er einmal verriet, bei Louis Jordans Band. Interessante Variationen lässt Chuck auf Carol, Sweet Little Sixteen und Brown Eyed Handsome Man hören, wo er das Ganze mit einer leicht karibischen Note anreichert.
Double Notes, gerne auch als Bendings, sowie die immer wieder auftauchenden Boogie-Muster sind aber nicht das ganze Geheimnis von Chucks einzigartigem Stil. Und auch die berühmte kirschrote Gibson ES 355 mit ihrem charakteristisch warmen und aggressiv-kräftigen Ton macht allein noch keinen Berry. Zu all dem kommt zusätzlich ein Phänomen, das sich musikalisch kaum definieren lässt: Chucks Musik swingt. In seinem Fall bedeutet Rock’n’Roll mehr Roll als Rock. Dieser eigenartige, irgendwo zwischen gerade gespieltem Viervierteltakt und Shuffle schwebende Swing ist das eigentliche Geheimnis von Chucks so ungeheuer ansteckenden Grooves. Besonders deutlich zu spüren ist das in den Originalaufnahmen von Sweet Little Sixteen, Sweet Little Rock’n’Roller oder auch Down The Road A Piece (aus der Feder von Don Raye und 1946 ein Hit für Amos Milburn). Der amerikanische Journalist Clive Anderson umschrieb das mal mit den kaum übersetzbaren Worten »…nothing is forced but everything swings«. Diesen nicht stampfenden, eher sachte schaukelnden Rhythmus hat Berry von seinen großen Vorbildern, allen voran Louis Jordan und Nat King Cole, übernommen.
Ein Stilmerkmal, das die direkte Verwandtschaft des Rock’n’Roll mit dem Big-Band- und Western-Swing der Dreißiger- und Vierzigerjahre offenbart. Berry verschmolz diese Rhythmik mit der emotionalen Kraft des R’n’B und den Harmonien der Hillbilly-Musik. Wer die superbe, sparsam spielende, aber umso druckvoller groovende Chuck Berry Band mit Pianist Johnnie Johnson und Drummer Ebby Hardy – ohne Bassist! – auf ihren frühen Aufnahmen hört, der kann verstehen, warum englische Teenager wie elektrisiert in die Läden rannten und Gitarren kauften, als sie Ende der Fünfzigerjahre diese unwiderstehlichen Rhythmen erstmals hörten.
Zurück zu Chuck: Er gehört schnell zu den erfolgreichsten Künstlern des Rock’n’Roll, landet einen Hit nach dem anderen und bringt es bald zu Wohlstand. Einen jähen Einschnitt, von dem er sich eigentlich nie recht erholen wird, bringt jedoch das Jahr 1960: In einem umstrittenen Justizverfahren wird ihm vorgeworfen, eine 14-jährige Indianerin, die als Prostituierte gearbeitet hat, in seinem Nachtclub angestellt zu haben. Grundlage der Anklage ist der sogenannte Mann Act, ein seit 1910 bestehendes Gesetz, das es verbietet, Minderjährige von einem US-Bundesstaat in einen anderen zu bringen, wenn dabei »unmoralische Absichten« eine Rolle spielen. Bereits kurz nach Inkrafttreten des Gesetzes hatte man den schwarzen Boxweltmeister Jack Johnson mit Hilfe dieses Gesetzes für einige Zeit aus dem Verkehr gezogen – auch das Verfahren gegen Berry hat einen deutlich rassistischen Hintergrund. Im Oktober 1961 wird der Musiker für zwei Jahre in den Knast geschickt. Spätestens jetzt wird der Mann, der dem Rock’n’Roll soviel Lebensfreude geschenkt hat, bitter und misstrauisch. Zwar erlebt er mit der britischen Rock-Revolution, die ihm als wichtigste Inspiration ihren Tribut zollt, auch eine gewisse Rehabilitation im eigenen Land. Seine Songs werden durch Dutzende von Coverversionen, vor allem die der Beatles und Rolling Stones, wieder zu Hits. Als Hitparadenkünstler ist Berry selbst jedoch weg vom Fenster.
Seinen Wert freilich hat er nie in erster Linie an Hitparadenplatzierungen festgemacht. Die entscheidende Rolle spielt für ihn von jeher – und da ist er Amerikaner durch und durch – die Summe, die er am Ende des Tages nach Hause bringt. Und die stimmt, auch in den Sechzigerjahren kann er zufriedenstellende Gagen fordern. Seine Kosten halten sich ohnehin in Grenzen. Längst schon bezahlt er keine festangestellte Band mehr, stattdessen macht er es sich zur Angewohnheit, vor Ort mit fremden Begleitgruppen zu spielen, die zum einen nicht teuer sind (mit Berry möchte jeder junge Musiker spielen) und zum anderen seine Songs ohnehin auswendig kennen. Wie ein Handelsvertreter in Sachen Rock’n’Roll reist er ohne weitere Begleitung zu seinen Konzerten, sein Gepäck besteht tatsächlich nur aus seiner Gitarre und einem Handköfferchen mit dem Allernötigsten. So nutzt Chuck seinen Ruhm in den folgenden Jahrzehnten vor allem, um live mit meist zweifelhaften Begleitbands sein Geld zu verdienen.
Dass er sich dabei nicht seinen Ruf ruiniert, liegt an seiner Gottvater-ähnlichen Status, den er als Chef-Architekt der Rockmusik vor allem bei jungen Kollegen genießt. Als 1969 in Toronto das erste echte Rock’n’Roll-Revival-Festival stattfindet, reist sogar Beatle John Lennon mit dem Kollegen Eric Clapton im Schlepptau