Der ultimative Jimi Hendrix Guide. Gary J. Jucha
Und warum sollte ich mich an einen 45-sekündigen Clip – falls er so lang war – in einer 45-minütigen Sendung erinnern?
Wo sonst hätte ein Baseball-Fan wie ich einem Gitarristen begegnen sollen, der mit seinem Instrument einen Verstärker malträtiert? Ich sah Hendrix’ spindeldürren Bassisten Noel Redding, der mit einem breiten Grinsen dem Gitarristen einen kleinen Verstärker zuwarf, den dieser dann mit seiner Fender Stratocaster wie einen Baseball schlug, wonach das Instrument zerbrach wie so viele Schläger heutzutage. Der Verstärker flog noch einige Meter, bis er auf der Bühne zerschellte. Ich hatte so etwas noch niemals gesehen.
Am Samstag nach seinem Tod rannte ich in den Plattenladen, um mir etwas von der Jimi Hendrix Experience zuzulegen. Drei Studioalben standen neben anderen Hendrix-Scheiben gut sichtbar auf dem oberen Regal auf der rechten Seite von King Karol Records. Ich fragte den einschüchternden Mann hinter der Ladentheke, welche Platte denn die beste von Jimi Hendrix sei, woraufhin er mir kryptisch verschlüsselt alle drei empfahl. Ich muss ziemlich verdutzt ausgesehen haben, da bin ich mir sicher. Schließlich deutete er auf die mit dem „Hindu-Cover“ und meinte, dass sie das Album sei, welches man kaufen solle, doch mich zog schon die Platte mit der Hülle an, die in Flammen zu stehen schien.
Ich nahm sie in die Hand. Damals schienen Schallplatten alle Antworten auf die Mysterien des Universums zu geben. Ich drehte das Cover um und sah ein Foto der Experience: Hendrix saß und trug sein „Gypsy Eyes“-Jackett, flankiert von Redding und Mitchell, seine großen Hände, die auf die beiden deuten, an den Gelenken übereinandergeschlagen. Seit dem Zeitpunkt ist dies mein Lieblingsfoto. Ich wollte die Platte, doch Electric Ladyland war ein Doppelalbum und kostete mehr, als ich besaß. Die beiden anderen Experience-Platten lagen innerhalb meines finanziellen Rahmens, doch da ich mir nicht das Album leisten konnte, das ich unbedingt haben wollte, legte ich mir eine andere Scheibe zu. (Wahrscheinlich von Grand Funk Railroad, da sie nach der Trennung der Beatles meine Lieblingsband waren.)
Ein Jahr verging. Ich befand mich nun in meinem zweiten Jahr an der Highschool und musste für meinen Freund Albert Hue als Vorwand herhalten, der sich mit seiner weißen Freundin in Manhattan treffen wollte. Ihre Eltern missbilligten die Beziehung, da er Amerikaner chinesischer Abstammung war. Ich musste also bei ihrem Apartment klingen und sie zu Albert bringen, der an einer nahegelegenen Straßenkreuzung wartete. Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern, weiß aber noch, dass die beiden „Alone Again (Naturally)“, die damalige Hit-Single von Gilbert O’Sullivan, zu „ihrem“ Stück auserkoren hatten, und so nenne ich sie einfach „Gilbertine“.
Albert, Gilbertine und ich machten uns auf den Weg nach Greenwich Village, wo ich niemals zuvor gewesen war. Na ja, ich hatte auch noch nie Manhattan besucht. Wir gingen in ein Plattengeschäft, in dem Are You Experienced in der Fensterauslage war. Ich besaß immer noch nichts von Jimi Hendrix, wollte aber nach wie vor eine seiner Platten haben. „Er soll angeblich der beste Gitarrist aller Zeiten sein!“, meinte ich zu Albert, hielt dabei das Cover in der Hand und inspizierte es gründlich. „Ich kaufe es dir“, bot er an. „Bist du dir sicher?“ „Du hast mir einen Gefallen erwiesen. Ich möchte mich dafür bedanken.“ Und so kam ich zu meinem ersten Jimi-Hendrix-Album. Ich würde gerne daran glauben, im Village Oldies gewesen zu sein, wo Lenny Kaye (später Patti Smith Group) mir die Platte verkauft hätte, doch das ist reine Tagträumerei. Eines weiß ich aber genau: Es war der erste Schritt hin zu einer sehr langen Beziehung mit der Musik von Jimi Hendrix und der Auseinandersetzung mit ihm als Menschen.
Schon bald erwarb ich alles, was irgendwie mit Hendrix zusammenhing. Mein erstes selbst gekauftes T-Shirt war ein in einem Head Shop erstandenes Jimi-Hendrix-T-Shirt. Das gelbe Shirt zierte dasselbe Bild, das auch auf Crash Landing zu sehen ist. Danach legte ich mir die ersten von Michael Jeffery produzierten posthumen Produktionen zu und die unfairerweise verunstalteten Alben von Alan Douglas. Ich kaufte die damals angesagten Schwarzlicht-Poster, kiffte bei Mitternachts-Vorstellungen des Films Jimi Hendrix (Empfehlung) und Rainbow Bridge (geschenkt) und besaß schließlich alle legal veröffentlichten Alben und auch noch ein paar andere. Ich besaß allerdings nicht die Single „Voodoo Child (Slight Return)“/„No Such Animal“ und einige Veröffentlichungen von Dagger.
Zudem muss ich zugeben, einige der „unterirdischen“, von Ed Chalpin in den Mark gedrückten Platten getauscht zu haben, nachdem mir klar wurde, was für eine Beleidigung sie für Hendrix darstellen.
Ich habe viele Bootlegs gehört, fast alle auf Film aufgezeichneten Auftritte gesehen und die meisten Bücher über ihn gelesen. Dort finden sich zahlreiche Lügengeschichten. Einige wurden von Hendrix selbst aufgetischt, um seine schäbige und entbehrungsreiche Kindheit zu überdecken, und einige von Bekannten, die damit ihre Spuren verwischten. Man muss eins bedenken: Die Geschichte von Jimi Hendrix’ Musik und Leben provoziert eigentlich eine Wiedergutmachung. Man könnte beinahe behaupten, man habe ihn in eine Sklavengaleere verkauft. Sein Leben lief letztendlich aus dem Ruder und wurde nur durch das gerettet, was ihm am meisten am Herzen lag: seine Musik. Durch die unzähligen Tonbänder, die er hinterlassen hat, wurde sein zeitweise fragwürdiger Ruf wiederhergestellt.
Ich möchte nun mit Ihnen meine Expertise teilen, das erworbene Wissen und vielleicht einige neue gedankliche Ansätze bezüglich seines Lebens und seiner Arbeit, welche die Jahrzehnte nach seinem Tod überstanden haben. Jimi Hendrix war der „König der Gitarre“, doch etwas beeindruckt mich am allermeisten: Er hatte eine sehr hohe Erwartungshaltung hinsichtlich der Musik, die er schrieb, aufnahm und produzierte, damit sie die Menschen berührt. Und genau das ist eingetroffen.
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Will mich denn niemand?
Der schwierige Anfang
Der Song „Belly Button Window“ wurde von den beiden Co-Produzenten Eddie Kramer und Mitch Mitchell ausgesucht, um The Cry Of Love, das erste von vielen posthumen Alben von Jimi Hendrix auszuleiten. Hendrix nahm ihn am 22. August 1970 alleine in seinen neuen Electric Lady Studios auf. Der Text nimmt die Perspektive eines ungeborenen und ungewollten Kindes im Mutterleib ein. Er „kann das häufige Stirnrunzeln sehen“ („can see a lot of frowns“) und stellte sich die Frage, „ob sie mich überhaupt wollen“ („if they want me around“). Rund zweieinhalb Jahre später entschied der Oberste Gerichtshof im Fall „Roe v. Wade“ grundsätzlich, dass ein Schwangerschaftsabbruch, den die Eltern im Song noch illegal in Erwägung ziehen, unter bestimmten Umständen legal sei.
Ich erwähne das, denn in den folgenden Jahren hat das Verfahren „Roe v. Wade“ die Wählerschaft polarisiert und das größtenteils liberale Lager, das den Frauen die Entscheidungsmöglichkeit zubilligt („Freedom to Choose“) gegen die meist konservative Bewegung aufgebracht, die auf ein „Recht auf Leben“ pocht („Right to Life“). Hätten die Konservativen genügend Informationen über das Leben von Hendrix gehabt, dann hätten sie verstanden, dass er ihr ideales „Aushängeschild“ gewesen wäre: Jimi Hendrix überwand die zahlreichen Schwierigkeiten eines ungewollten Kindes, um das sich niemand kümmern wollte, und zudem eines schwarzen Kindes in einer rassistischen Gesellschaft. Er setzte sich durch und triumphierte als einer der einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts – was sicherlich das überzeugendste Argument gegen Abtreibung ist, von dem ich je gehört habe.
Eine schnelle rückwärtsgewandte Betrachtung von Jimi Hendrix’ Leben beginnt mit seiner siebzehnjährigen Mutter Lucille, die am 27. November 1942 um 10:15 Uhr Johnny Allen Hendrix im King County Hospital in Seattle, Washington, zur Welt brachte.
Sein Vater James Allen (Al) Hendrix diente während des Zweiten Weltkriegs bei der U.S. Army im Pazifik und sollte seinen Sohn erst im Dezember 1945 sehen, als er nach Berkeley, Kalifornien, zurückkehrte. Dort beanspruchte er das Sorgerecht für den Jungen gegenüber Mrs. Champ, einer Kirchenfreundin von Clarice Lawson Jeter (Lucilles Mutter), die Johnny großgezogen hatte, nachdem Lucille von John Page verprügelt worden war, dem Mann, mit dem sie zusammenlebte. Trotz der Ungewissheit, ob der Kleine tatsächlich sein Sohn war und nicht doch der von John Page, ließ Al am 11. November 1946 seinen Namen in James Marshall Hendrix ändern. Der zweite Vorname war eine Referenz an Als Bruder Leon Marshall.
Als John Page eine fünfjährige Haftstrafe verbüßte,