Rave On. Matthew Collin

Rave On - Matthew Collin


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erzählt Hall. „Es war, als ob sich Dance-Music zu einem Luxusartikel entwickelte, zu einer elitären Aktivität, aber gleichzeitig wurden DJs engagiert, die mit Benachteiligung und Rassismus zu kämpfen hatten und aus entrechteten Städten stammten. Diese Typen wurden angeheuert, damit sie einer bestimmten Klientel dienten, von denen wiederum keiner wirklich mit diesen Problemen vertraut war. Sie befanden sich in einer privilegierten Position. Deshalb sah ich darin ein ironisches Statement: Hier habt ihr eure Bootsparty!“

      Noch als Teenager fand Hall in Omar S einen Mentor, der seine frühen Tracks auf seinem Label FXHE herausbrachte. Außerdem kooperierte er mit dem Techno-Pionier Anthony Shakir, der einer Generation entstammte, die doppelt so alt wie er war. Doch betont er auch, dass er sich nicht durch die ästhetischen Parameter des Detroiter Erbes einschränken lassen möchte: „Jeder, der sich über seine Herkunft Gedanken macht, empfindet Stolz darüber, was er ist – ein Gefühl der Orientierung. Allerdings kann sich das nicht nur motivierend, sondern auch beschränkend auswirken.“

      Eins der Ideale, das er sich voll und ganz aneignete, war Detroits Tradition der Autarkie. So wie viele andere Produzenten aus der Stadt – angefangen bei Atkins (Metroplex), May (Transmat) und Saunderson (KMS) in den späten Achtzigern – gründete er mit Wild Oats sein eigenes Label, auf dem er seine Musik auf die Art und Weise veröffentlichen wollte, die ihm richtig erschien. „In Detroit hat immer schon ein besonderer Unternehmergeist unter den Schwarzen geherrscht“, erklärt er. „Dass dort keine Leute für dich da sind, um Dinge zu erledigen, fördert eine andere Art von Mentalität. Wenn man will, dass etwas erledigt wird, muss man sich eben selbst darum kümmern.“

      „Es gibt ein Detroit, das man nicht in den Nachrichten zu sehen bekommt.“

      John Collins, Underground Resistance

      Die Premiere des Detroit Electronic Music Festival im Jahr 2000 sollte dem Ziel dienen, dieser Art von Musik in ihrer Heimatstadt eine Plattform zu bieten, erinnert sich Rita Sayegh, die zu den Filmemachern zählt, die an jenem unveröffentlichten Dokumentarfilm über diese Veranstaltung, The Drive Home, arbeiteten. „Als das Festival anfing, Gestalt anzunehmen, begriffen wir, was dies für ein großer Augenblick für Detroit und Techno wäre“, erzählt Sayegh, die als Designerin auch schon Craig, Hawtin und Mills mit Artwork versorgt hat.

      „Nachdem die Stadt den Lagerhallen-Partys einen Riegel vorschob, alle Leute dingfest machte und quasi einen Schlussstrich zog, gab es eine Zeitlang keinen Ort, an dem man etwas hätte unternehmen können“, wirft Timothy Aten ein, der ebenfalls als Filmemacher bei besagtem Projekt involviert war. „Das Festival ermöglichte ihnen daher, endlich wieder zusammenzukommen und die Musik zu feiern, draußen unter freiem Himmel.“

      „Es war überwältigend“, sagt Sayegh. „Als das Festival stattfand, herrschte ein Gefühl der Verbundenheit und Nähe – ein so großes, positives Gefühl, basierend auf dieser total idealistischen Vorstellung und angetrieben von dieser kleinen, eingeschworenen Gruppe kreativer Menschen. Und Derrick May hatte einen bestimmten Ausdruck in den Augen – ich bin mir sicher, dass er schon überall auf der Welt aufgetreten ist, aber während seines Auftritts sah er auf und wirkte dabei, als könne er das alles gar nicht glauben. Als könnte er nicht fassen, dass das in Detroit passierte.“

      Doch die jährliche Veranstaltung bei freiem Eintritt, um deren Programm sich später May kümmerte, bevor ihn wiederum Saunderson beerbte, stand stets an der Kippe zum finanziellen Kollaps. Einmal musste May zehntausende Dollar aus seiner eigenen Tasche investieren, um den finanziellen Engpass zu kompensieren, der dadurch entstanden war, dass die Stadtverwaltung dem Festival ihre Unterstützung entzog. Daraufhin mussten einige Kreditgeber mehrere Monate lang auf ihr Geld warten und drohten zornig damit, ihn zu verklagen. Er wandte sich sogar an die Festivalbesucher, damit sie ihm zusätzlich ein wenig Kohle spendierten, um die Party am Laufen zu halten.

      „Die Stadt hat mir kein Geld gegeben und ich durfte keinen Eintritt verlangen“, erinnert sich May. „Das Festival war in vollem Gange, als ich realisierte, dass ich nicht genug Geld hatte, um die Rechnungen zu bezahlen. Also stieg ich mit einem anderen Typen und einer großen Abfalltonne in einen Golfwagen. Wir schrien: ‚Gebt uns euer Geld! Das Festival muss abgebrochen werden, wenn ihr uns kein Geld gebt!‘ Wir sammelten ungefähr 20.000 Dollar. Das reichte zwar nicht aus, aber zumindest spendeten die Leute etwas.“

      Letztendlich wurde der dreitägige Event, der fortan Movement heißen sollte, 2006 von einer Gruppe lokaler Veranstalter namens Paxahau übernommen, die schon in den Neunzigern mitgeholfen hatten, Raves in der Packard Plant zu organisieren. Paxahau stellte die Organisation auf professionelle Füße und fing an, Eintritt zu verlangen, womit das Überleben der Veranstaltung als großes US-Festival gesichert wurde. Doch als echte Techno-Jünger gaben sie sich auch Mühe, sicherzustellen, dass das Programm seine Underground-Credibility beibehielt.

      „Wir sind aufrichtig überzeugt davon, dass wir als historische Fackelträger dieser Musik an jenem Ort agieren, wo sie ursprünglich entstanden ist“, klärte mich Sam Fotias, der operative Leiter von Paxahau, vor dem Festival im Jahr 2014 auf. „Es führt kein Weg daran vorbei, dass diese Stadt auch weiterhin ein Aushängeschild für diese Musik bleibt. Da ich ein Teil des echten Undergrounds und in der Lage war, mich mit dieser Gegenkultur zu identifizieren, sind uns diese Ideale und Prinzipien auch heute noch ein Anliegen. Tatsächlich haben sie für uns eine größere Bedeutung als alles Geld der Welt.“

      Als Kraftwerk 2016 als Headliner bei Movement auftraten, war es wie eine Heimkehr, was auch der in Detroit aufgewachsenen Journalistin Tamara Warren, die schon beim ersten Festival auf der Hart Plaza 16 Jahre zuvor dabei gewesen war, nicht entging. „Als der Beat zu ‚Trans-Europe Express‘ einsetzte, zitterte ich“, schrieb sie. „Auf dem Bildschirm konnte man sehen, wie eine Projektion einer fliegenden Untertasse auf unserem Techno-Boulevard landete. Für Detroit – und jeden, der sich für die Geschichte authentischer elektronischer Musik interessiert – schloss sich in diesem Moment ein Kreis.“22

      Doch wie Warren ebenfalls notierte, spiegelte das vorwiegend weiße Publikum unweigerlich die zunehmend größer werdenden ethnischen und wirtschaftlichen Klüfte der Stadt wieder, in der 40 Prozent der großteils schwarzen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten. Für diejenigen, die der Ansicht waren, dass das Festival etwas von seinem Geist eingebüßt hatte, als letztlich doch Eintritt verlangt wurde und neugierige Mitbürger aller Alters- und Einkommensklassen nicht länger einfach so vorbeischneien konnten, um sich selbst ein Bild von Techno zu machen, gab es nach wie vor billigere Alternativen wie das preisgünstige Charivari Festival oder das völlig kostenlose, für Einheimische konzipierte TecTroit, das fünf Jahre lang existierte, bevor es schließlich ebenfalls finanziell ins Trudeln geriet.

      Außerdem gab es noch das Backpack Festival, das John Collins von Underground Resistance zu veranstalten half. Bei diesem Dance-Music-Benefiz spendeten die Besucher Rucksäcke gefüllt mit Schulsachen, die im Anschluss daran an bedürftige Kinder verteilt wurden. „Das passt zur Philosophie von Underground Resistance“, erklärt Collins. „Die Initiatorin heißt Judy Shelton, die zu unserer Szene hier gehört. Sie hat gesehen, wie Kids zur Schule gingen und ihre Bücher in Papiertüten trugen. Mitten im Winter. Sie hatten nicht einmal Schultaschen. Die Underground-Techno-Szene unterstützte uns und Derrick May war unser erster Sponsor. Alle sind sie hier aufgetreten – Juan, Kevin, Eddie Fowlkes. Und sie alle haben es umsonst getan. Wenn man aus den Problemvierteln stammt und später erfolgreich wird, muss man der Stadt auch etwas zurückgeben und die Leute inspirieren, damit sie wissen: Hier kommen wir her. Ich habe früher nichts gehabt und ich habe es so weit geschafft – und ihr könnt das auch.“

      Idealistischer Aktivismus ist ein wenig bekannter, aber dennoch signifikanter Aspekt der Detroiter Techno-Szene. In dem kleinen Zirkel von Produzenten und DJs, die es vorgezogen hatten, in der Stadt wohnen zu bleiben, schien sich ein aufrichtiges Gemeinschaftsgefühl entwickelt zu haben. Trotz all der bitteren und entzweienden Dispute persönlicher Natur, die sich einer kleinen Szene nun einmal unweigerlich abspielen, herrschte immer noch tiefempfundene Empathie gegenüber jenen vor, die inmitten dieser sehr amerikanischen urbanen Kernschmelze am meisten leiden mussten. Ihr Mitgefühl inspirierte sie, etwas dazu beizutragen, die Stadt zu einem besseren Ort zu machen – oder zumindest das kulturelle Leben dort zu erhalten, damit man


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