Die Geschichte von KISS. Gene Simmons
hoch für ein Studioalbum. Vielleicht haben die Demos ja deswegen mehr Drive. Wir dachten uns nämlich: „Genau das sind wir.“
EDDIE KRAMER: Es war ein sehr starkes Demo, das war nicht von der Hand zu weisen. Mit Songs wie „Strutter“ und „Black Diamond“ enthielt es das wesentlichste Material der Band.
EDDIE SOLAN: Ich habe die Original-Bänder dieser Eddie-Kramer-Sessions. Abgesehen vom Gesang wurde es live aufgenommen. Es klang staubtrocken – kein Hall, keine Effekte. Auf der Hülle steht: „Rechten Kanal verstärken …“ Ich sagte dem Tontechniker, dass ich der Einzige wäre, der ein Spulentonbandgerät hätte und somit der Einzige, der für Plattenfirmen und die Presse das Demo auf Kassetten kopieren könnte. Er schrieb mir eine Notiz dazu, damit ich wusste, wie ich von meinem herkömmlichen Tonbandgerät aus die Kopien erstellen konnte.
GENE SIMMONS: Das war unser erstes Demo, das uns später den Deal mit Neil Bogart und Casablanca Records einbrachte.
Im Anschluss an ihre ersten Shows im Coventry und im Daisy trauten sich KISS zum ersten Mal auf eine Bühne im Herzen des Big Apple. Am 4. Mai 1973 spielten sie auf einer Party in einem Loft in der Bleecker Street ihren ersten Gig in New York City.
RICK RIVETS: Paul kam öfters in die Music Box, einen Plattenladen in Queens, der Keith West von den Brats gehörte. Er sprach Keith an und sagte: „Hör mal, ich spiele doch in einer Band, und wir würden gerne mal in der City auftreten.“ Keith entgegnete: „Nun, wir veranstalten doch jeden Monat so eine Party in einem Loft. Vielleicht könnt ihr da ja mal spielen, wenn es euch nichts ausmacht, vor uns aufzutreten.“ Und Paul antwortete ihm: „Uns ist das egal, wir wollen nur in der City spielen.“
PAUL STANLEY: Wir hatten diesen Auftritt mit Wayne County und den Brats. Ich glaube, einer der Jungs von den Brats [David Leeds] arbeitete dort, und um fünf Uhr war da Geschäftsschluss. Das Loft befand sich im achten Stock und war eine Art Werkstatt, welche die Brats zum Proben benutzen durften.
EDDIE KRAMER: Ich ging mit Ron Johnsen und seiner Frau Joyce dorthin, um KISS in dem Loft in der Bleecker Street auftreten zu sehen.
PAUL STANLEY: Es gab dort fest montierte Tische, an denen tagsüber gearbeitet wurde und die man nicht verschieben konnte.
EDDIE SOLAN: Es gab dort keine Bühne – es war einfach ein offener Raum, und sie sperrten den Bereich, in dem die Band spielte, mit einem Seil ab. Ich brachte mein Sound-System und meine selbst gebastelte Lichtanlage mit.
PAUL STANLEY: Wir tauchten am Nachmittag auf und bauten unsere Anlage auf. Ich war mit Keith von den Brats befreundet, aber ein paar von ihnen waren eher kompliziert und zeigten sich sehr reserviert, als wir sie begrüßten. Dann spielten wir „Strutter“ und „Deuce“. Danach hatten wir ein paar neue Freunde gewonnen.
RICK RIVETS: Beim Soundcheck informierten uns KISS: „Wir müssen wissen, wann genau ihr uns auf der Bühne haben wollt. Wir haben ein Hotelzimmer gemietet, damit wir uns umziehen können.“ Der Beginn der Show rückte immer näher, und plötzlich öffnete sich die Fahrzeugtür und sie kamen herein. Sie trugen ihre Kostüme und ihr Make-up, und uns blieb der Mund offen [lacht]. Ich dachte mir: „Ach du Scheiße, was ist denn das?“ Ich erinnere mich, dass ich zu Sparky Donovan, unserem Schlagzeuger, sagte: „Shit, wir müssen nach denen spielen? Wir sind tot. Die werden uns von der Bühne blasen.“ Und das taten sie auch. Sie haben uns vernichtet.
DEE DEE RAMONE (BASSIST, RAMONES): Das erste Mal sah ich KISS in einem Loft mit Wayne County. Jeder hatte irgendwie Angst vor ihnen. KISS taten, als wären sie eine toughe Band, die schon länger auf Tour und so wäre.
GENE SIMMONS: Am Ende des ersten Songs, „Deuce“, hielten alle den Atem an und dachten: „Was zum Geier ist das? Kinder-Mucke ist das jedenfalls nicht.“ Der Unterschied zwischen uns und den New Yorker Glitter-Bands war, dass wir jeden Tag der Woche probten. Wenn man genug Zeit investiert, wird man richtig gut.
RICK RIVETS: Alle von den Dolls kamen zur Loft-Party. Sie wussten nicht, was sie von KISS halten sollten. Es waren eine Menge der Leute da, die man sonst im Hinterzimmer im Max’s traf. Ein paar von Andy Warhols Leuten waren auch dabei: Leute wie Jackie Curtis, Taylor Meade und Eric Emerson.
GENE SIMMONS: Das Loft war brechend voll, weil Wayne County und die Brats ziemlich angesagt waren.
RICK RIVETS: Es war brutal heiß, und wir konnten kein Fenster öffnen, weil die Mieter, die in der Nähe wohnten, sich ohnehin schon bei der Polizei beschwerten. Man konnte den Lärm noch aus drei Blocks Entfernung hören. KISS waren superlaut. Sie hatten zwei Marshall-Amps für die Gitarren und einen Ampeg-Verstärker für den Bass.
RON JOHNSEN: Eddie und Joyce stopften sich Watte in die Ohren, weil es so laut war. Irgendwann drehte ich mich um und meine Frau kollabierte – sie konnte die Hitze nicht mehr ertragen. Eddie und ich mussten sie die Treppen hinunter tragen, damit sie an die frische Luft kam.
EDDIE SOLAN: Ace spielte eine Les-Paul-Kopie, die die Firma Ultravox herstellte. Es war eine billige Gitarre, aber sehr schwer. Also nahm ich die Rückseite ab, nahm das ganze überschüssige Holz heraus und klebte ein schwarzes Stück Karton darüber. So war es angenehmer für ihn. Das war die Gitarre, die er während ihrer Club-Zeiten hauptsächlich spielte. Zu Hause spielte er über ein altes Tonbandgerät. Er steckte die Gitarre an diesem Ding an, und es hatte einen echt coolen Drive. Er liebte diesen Sound. Paul und Gene hatten farblich aufeinander abgestimmte, braune Gitarren, die von einem Gitarrenbauer in Manhattan namens Charlie Le Beau gebaut worden waren. Irgendjemand stahl Pauls Gitarre in dieser Nacht, und er war am Boden zerstört.
PAUL STANLEY: Es war zwar ein Schock, aber auch kein Weltuntergang. Es war egal, ob eine Gitarre verschwand. Kauf dir eine neue und rocke weiter.
EDDIE SOLAN: Zum Glück hatte er noch eine zweite Gitarre dabei, eine schwarze Gibson Les Paul.
RICK RIVETS: KISS waren nicht der einzige spektakuläre Act an diesem Abend. Queen Elizabeth mit Wayne County waren auch ziemlich abgefahren. Während ihrer Show kletterte Wayne auf ein Girl und beschmierte es mit Schlagsahne, die er im Anschluss wieder ableckte.
GENE SIMMONS: Wayne Countys Set endete damit, dass er seinen Kopf in eine Toilette steckte und etwas daraus aß, das wie Scheiße aussah.
PAUL STANLEY: Wir sahen ihn seine Show abziehen, aber das fand ich nicht ganz so toll [lacht].
RICK RIVETS: Als ich KISS auf dieser Loft-Party performen sah, spürte ich, dass sie echt groß rauskommen würden. Sie waren dabei, ihren Weg zu machen. Etwas mehr als drei Wochen später spielten KISS ihren wohl schrägsten Gig überhaupt – auf einer Benefizveranstaltung für eine lokale Bibliothek in Palisades, New York, am 26. Mai 1973.
VIRGINIA BARRETT (MITVERANSTALTERIN DER BENEFIZVERANSTALTUNG): Es war eine Benefizveranstaltung für die Palisades Free Library, ein winziges Gebäude in der kleinen Stadt Palisades im Bundesstaat New York, die an der Grenze zu New Jersey liegt. Jedes Jahr organisierten wir die Veranstaltung entweder in einem Country-Club oder einem örtlichen Restaurant. Dieses Jahr wollten wir aber noch eins drauf setzen.
RON JOHNSEN: Der Empfang fand in der Lamont Hall des Lamont-Doherty Geological Observatory statt, das zur Columbia University gehörte. Sie beschäftigten sich dort mit seismografischen Studien und Erdbeben.
VIRGINIA BARRETT: Ron Johnsen war unser Nachbar und arbeitete in den Electric Lady Studios. Ron hatte mit Blood, Sweat & Tears gearbeitet, und er wollte sie für unsere Veranstaltung gewinnen, aber er bekam keine definitive Zusage.
PAUL STANLEY: Ron Johnsen, der Wicked Lester produziert hatte, lebte in Sneden’s Landing und fragte uns, ob wir beim Fundraising für die örtliche Bibliothek auftreten würden. Sneden’s Landing ist eine sehr exklusive, ruhige und ländliche Gegend auf der anderen Seite der George Washington Bridge – ungefähr 15 Minuten von New York entfernt, aber dann auch wieder unendlich weit weg. Es war eine sehr kleine Gemeinde, in der viele bekannte und reiche Leute lebten.
JOYCE SACCO (RON JOHNSENS EX-FRAU): Dort lebten Leute wie zum Beispiel der berühmte Theaterproduzent und Choreograf Jerome Robbins, Morley Safer und Mike Wallace von 60 Minutes sowie die Schauspielerinnen Ellen Burstyn und Dixie Carter.