Die Geschichte von KISS. Gene Simmons
immer noch ein paar Seitenstraßen in der Nähe des Times Square, in denen man solche abgefuckten Hotels bestaunen kann.
PAUL STANLEY: Das Diplomat war ein regulär betriebenes Hotel. Man konnte auch für längere Zeiträume dort einchecken. Es war unheimlich, weil ein paar ziemlich abschreckende Leute dort lebten. Sie hatten ein paar Ballsäle; einer im ersten Stock hieß Crystal Room. Diese Ballsäle konnte man mieten, für Partys zum Beispiel, Hochzeiten, ganz egal. Das Diplomat war die Location, in der die Dolls auftraten, nachdem sie das Mercer Arts Center hinter sich gelassen hatten.
BINKY PHILIPS: Im Crystal Room war alles dunkelrot. An den Säulen befanden sich Spiegel. Die Decke war ziemlich niedrig für einen Ballsaal.
SHAYNE HARRIS: Das Diplomat war eine Bruchbude. Die Bühne war in schlechter Verfassung, weil die Böden vor sich hin faulten. Da das Diplomat in so miesem Zustand war, konnte man den Crystal Room so billig mieten. Bevor die Show losging, stand ich mit Peter am Herrenklo. Wir standen am Pissoir, als plötzlich eine gottverdammte Ratte an uns vorbeilief. Sie war ungefähr so groß wie eine kleine Katze.
GENE SIMMONS: Paul und ich kannten das Diplomat von damals, als wir die Dolls gesehen hatten. Wir organisierten dort eine Show, weil wir wussten, dass es der nächste Schritt sein würde. Wir brauchten einen Manager und ein Label.
PAUL STANLEY: Wir gaben Konzerte im Diplomat, weil uns die Clubs nicht wollten. Man konnte keine Auftritte bekommen, wenn man nicht drei oder vier Sets mit Coverversionen spielen wollte. Den Clubs sagten wir, dass wir nur zwei Sets spielen würden und dass es beide Male dasselbe Set sein würde [lacht]. Die Shows im Diplomat waren wirklich gerammelt voll. Wir organisierten diese Gigs, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, Headliner zu sein. Wir wollten versuchen, die Fans der anderen Bands – der Dolls und der Brats – für uns zu gewinnen. Also holten wir uns Bands, die bekannter als wir waren. Dass wir andere Gruppen spielen ließen hatte also nichts damit zu tun, dass wir nett sein wollten – wir brauchten einfach Bands, die das Publikum anzogen.
KEITH WEST: Die Brats waren Freunde von KISS; wir spielten oft miteinander. Lustig war, dass KISS anfangs keine ordentlichen Gigs in New York City finden konnten. Wir durften uns unsere Vorgruppen selbst aussuchen und ließen KISS vor uns im Hotel Diplomat auftreten.
BOBBY MCADAMS: Als KISS im Hotel Diplomat spielten, waren die Brats der Headliner, KISS waren als zweite Vorgruppe nach den Planets gebucht. Die Band fabrizierte Plakate und verteilte sie über die ganze Stadt. Die Mundpropaganda verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
BINKY PHILIPS: Paul rief mich an und sagte: „Wir werden den Crystal Room im Hotel Diplomat mieten und mit den Brats dort spielen. Wollt ihr auch auftreten?“ Die Dolls hatten dort bereits am Valentinstag und am St. Patrick’s Day gespielt. Egal wo die New York Dolls auftraten, die Location erhielt dadurch umgehend ihre Legitimation. Ursprünglich waren KISS als Headliner vorgesehen, davor die Brats, und meine Band, die Planets, als Vorband. Ein paar Wochen vor dem Gig war Keith West, der Leadsänger der Brats, plötzlich eingeschnappt, weil er meinte, dass die Brats die bekannteste Band an diesem Abend wäre – was man hätte hinterfragen können – und daher auch der Headliner sein sollte. Es war entweder Paul oder Ace, der in der letzten Sekunde mittels Rasierklinge das Inserat so veränderte, dass die Brats nun als formelle Headliner in der Village Voice angekündigt wurden.
GENE SIMMONS: Ich arbeitete am Tag für das Puerto Rican Interagency Council, und da ich Zugang zu Briefmarken hatte, war ich es, der eine Kurzbiografie der Band erstellte und Leute per Post einlud, zu unserer Show zu kommen. Ich glaube, mir fiel der Begriff „Heavy Metal Masters“ ein. Ich nahm die Jahresende-Ausgaben von Record World, Billboard und Cashbox zur Hand, in denen die Namen aller Persönlichkeiten der Musikbranche, alle Plattenfirmen und Manager aufgelistet waren, und schickte ihnen Post von uns. Paul und ich entwarfen das Package und legten Tickets für die Show im Diplomat bei. Paul und Peter blieben in der Nacht vor der Show wach, um Klebstoff auf schwarze Shirts zu geben und das KISS-Logo mit Glitter darauf zu streuen. Sie schenkten diese T-Shirts Peters Schwestern und ihren Freunden. Als dann die Leute aus dem Musik-Business auf das Konzert kamen, sahen sie ein volles Haus, KISS auf der Bühne und Mädchen, die KISS-Shirts trugen.
BOBBY MCADAMS: Im Hotel gab es einen riesigen Raum, der wie ein Hörsaal aussah. Ich kassierte das Geld an der Tür; der Raum war komplett voll.
GENE SIMMONS: Wir verfolgten genau, welche Leute aus dem Musik-Business zum Konzert kamen, was leicht war, da sie zwar einerseits keinen Eintritt bezahlen mussten, andererseits aber auf der Gästeliste neben ihrem Namen unterschreiben mussten. Wir hatten nur wenige Gesichter aus der Pop-Industrie da. Wir erwähnten auf den Plakaten keine der anderen Bands, obwohl es eigentlich sie waren, die das Publikum anzogen, da KISS in New York noch keinen Namen hatten.
BINKY PHILIPS: KISS klangen nicht entscheidend besser als damals, als ich sie im Loft sah. Aber sie hatten Power. Die Arrangements waren simpel und ordentlich, was sehr stark rüberkam. Ich war total gefesselt vom Gitarrenriff von „Deuce“ – ich liebte es einfach. Was das Make-up anging, so fand ich, dass außer Paul niemand wirklich besonders attraktiv war und es daher ein smarter Schachzug war, sich zu schminken. Ich erinnere mich lebhaft daran, dass ich mir, während sie spielten, dachte, dass seitdem Alice Cooper sich zurückgezogen hatte, eine Marktlücke für diese Art von theatralischer Präsentation entstanden war. Es gab keine Anzeichen dafür, wie gigantisch groß diese Jungs werden würden, aber sie kamen gut an.
RIK FOX: KISS im Hotel Diplomat war wie Alice im Wunderland. Du gingst durch die Menge und sahst all diese bunten Charaktere. Für mich als Highschool-Kid war das alles neu und aufregend. Beinahe, als ob jemand eine Klappe geöffnet hätte und ich durch ein Loch gefallen wäre, um in diesem Szenario zu landen, von dem ich nie gewusst hatte, dass es existiert.
Ich besuchte das Konzert mit meiner Freundin Joanne, der Schwester von Peter Criss. Peters jüngere Schwester, Donna, und ein paar andere aus der Nachbarschaft waren auch mit dabei. Ich hatte vorher einen großen Beutel mit Luftballons gekauft, blies jeden einzelnen auf und zeichnete das KISS-Logo und ihre Gesichter darauf. Dann ließ ich die Luft wieder raus und packte alle sorgfältig in einen Karton, den ich zum Konzert mitnahm. Wir besetzten die gesamte erste Reihe vor der Bühne, und bevor KISS rauskamen, gab ich die Ballons aus. Wir bliesen sie wieder auf, hielten sie vorsichtig in unseren Armen wie kleine Kinder und passten auf, dass die Farbe nicht verschmierte. Als die Lichter angingen und KISS auf die Bühne kamen, wurden sie überflutet von Hunderten Ballons mit ihrem Logo und ihren Gesichtern darauf. Ihr hättet die Überraschung und den Schock in ihren Gesichtern sehen sollen. Sie waren total beeindruckt von dieser unerwarteten Salve KISS-Reklame. Es war wie eine Flut von KISS-Ballons. Gene machte sich den Spaß und trat auf sie drauf, Paul kickte so viele wie möglich wie Fußbälle zurück ins Publikum. Diese Einlage verlieh ihrer Show das gewisse Etwas. Dass KISS, nachdem ich sie bei ihren Proben und ihren frühen Auftritten im Coventry erlebt hatte, nun hier mit vollem Make-up und noch nicht ausgefeilten Kostümen vor mir auf der Bühne standen, war für mich kaum zu fassen. Ihre Energie hatte sich exponentiell hochgeschraubt.
BINKY PHILIPS: Gene stach heraus. Er zeigte schon eine milde Version des Monsters, streckte die Zunge heraus, schüttelte seinen Schädel wie eine Eidechse und stampfte über die Bühne.
GENE SIMMONS: Ich habe nicht den blassesten Schimmer, warum ich anfing, mich so auf der Bühne zu bewegen; ich weiß nur, dass die Anregung dazu nicht aus dem Rock ’n’ Roll kam. Stattdessen waren meine Moves vom berühmten Stop-Motion-Tricktechniker Ray Harryhausen beeinflusst. Er war der Typ von Panik um King Kong, King Kongs Sohn und Jason und die Argonauten. Ich kannte den Film Die Bestie aus dem Weltenraum, der von einem Raumschiff handelte, das vom Mars mit einem Ei zurückkehrte. Aus dem Ei schlüpft schließlich ein Marsianer namens Ymir. Er ist eine reptiloide Kreatur von der Größe King Kongs mit einem unbeholfenen Gang. Er wirft sein Gewicht von einer Seite auf die andere, weil er wegen der irdischen Schwerkraft keinen sicheren Gang hat. Die schräge Fortbewegungsart faszinierte mich. Ich studierte diesen Gang und wie das Monster seine Beine dabei hochzog. Als ich auf die Bühne ging, imitierte ich Ymir aus Die Bestie aus dem Weltenraum. Mir war klar, dass ich nicht Mick Jagger oder die Beatles kopieren konnte – den Körperbau dafür hatte ich nicht –, aber ich konnte ein Monster sein.
EDDIE KRAMER: Es war alles sehr unorthodox,