Dr. Norden Extra Staffel 2 – Arztroman. Patricia Vandenberg
»Du bist ein schrecklich verstockter Bengel«, herrschte sie ihn an, und schon gab sie ihm ein paar Ohrfeigen. Das hatte sie bisher noch nicht getan, und das hätte sie nicht tun dürfen, denn nun war Ulrich erst recht entschlossen, nicht mehr mit ihr zu reden.
»Zur Strafe bleibst du heute abend allein«, sagte sie. »Ich gehe nämlich aus.«
Eine Strafe war das nicht für ihn. Und in einem Hotel brauchte man sich nicht zu fürchten. Da gab es ein Zimmertelefon, und da konnte man anrufen, wenn man wollte, konnte sich auch Essen bringen lassen. Ulrich wußte das alles, so klein er auch noch war. Wenn er mit seiner Mami im Hotel wohnte, bekam er aber immer einen Babysitter, wenn Cordula zu tun hatte.
Joana hatte jedoch nicht die Absicht, einen zu bestellen. Zum Mittagessen war es bereits zu spät, zum Abendessen noch zu früh, also ließ sie Kaffee, Milch, Gebäck und Brötchen und eine kalte Platte heraufkommen.
Langsam wurde ihr das schweigsame Kind unheimlich, und so nahm sie einen erneuten Anlauf,
um ihn etwas versöhnlicher zu stimmen.
»Es tut mir leid, daß mir vorhin die Hand ausgerutscht ist, Ulrich«, sagte sie, »aber es wäre doch besser, wir würden uns wieder vertragen. Oder hast du die Sprache verloren?«
Er nickte. Das war mal ein neues Spiel für ihn.
»Na schön, wie du willst, mich kannst du jetzt nicht mehr reizen. Du kannst essen, und dann gehst du zu Bett. Und ich gehe aus, damit ich auch mal ein bißchen Abwechslung habe.«
Er nickte wieder. Sie kniff die Augen zusammen.
»Du nimmst das Bett und ich das andere, und schrei nicht das ganze Haus zusammen. Aber das kannst du ja gar nicht, wenn du stumm bist.«
Sie ging ins Bad. Ulrich hatte schon zur Kenntnis genommen, daß es ein sehr schönes Bad war. Er inspizierte indessen das Appartement, das in einen Schlaf- und Wohnteil unterteilt war. Auch einen Balkon gab es, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die Gebirgskette hatte.
Einen Fernsehapparat und Radio gab es auch, und das Radio war am Bett. Ulrich war mit allen Errungenschaften der Technik aufgewachsen und mit ihnen vertraut. Sein Papi hatte ihm immer alles gezeigt und sich köstlich amüsiert, wenn er es im Handumdrehen begriffen hatte.
Ja, der Papi war stolz auf ihn gewesen! Ulrich hatte eine gute Erinnerung an ihn. Er war jünger als Benjamin, aber bedeutend selbständiger erzogen worden. An Benjamin hätte er sich auch sofort erinnert, wenn jemand über ihn gesprochen hätte, aber solange er bei Joana und Jochen war, hatte niemand mit ihm über andere Bekannte gesprochen, und er hatte ja dann auch nur noch Constantin gesehen.
Er hatte sich auf die Eckbank gesetzt und seinen Blick umherschweifen lassen. Er hatte Milch getrunken. In einen Hungerstreik wollte er schließlich nicht treten, und das Gebäck war lecker.
»Na, wenigstens ißt du«, sagte Joana lässig, »das freut mich.«
Sie ging in den Schrankraum und kleidete sich an. Er sah, daß sie ein elegantes Kleid angezogen hatte, wie wenn sie zu einer Party ging. Sie ging oft zu Partys.
Joana dachte schon ans Casino. In Garmisch konnte sie nicht so oft, wie sie wollte, dort erscheinen, weil man sie kannte, aber wenn sie an einen anderen Ort kam, wo es ein Casino gab, wollte sie es ausnützen.
»Du kannst noch essen, aber dann gehst du zu Bett«, sagte sie, »und vergiß nicht, die Zähne zu putzen.« Sie machte nicht erst den Versuch, ihm einen Kuß zu geben. Anfangs hatte sie es versucht, aber er hatte sich aggressiv verhalten.
Sie fuhr gleich bis zur Tiefgarage, und schon saß sie in ihrem Wagen.
Ulrich hatte ein Brötchen mit Wurst gegessen, und dann hatte er den Fernseher eingeschaltet. Es kamen gerade Nachrichten. Es war wieder ein Flugzeug abgestürzt, und da war ihm doch nicht so ganz geheuer. Er hatte zwar von der Bruchlandung nicht viel gemerkt, weil er benommen gewesen war, als ihn seine Mami so dick eingewickelt und ihm die Mützen über den Kopf gezogen hatte, aber er wußte, daß der Papi tot war und die Mami schwerverletzt in der Klinik lag. Er hatte auch zwei Wochen in der Klinik liegen müssen. Dann hatte ihn Joana abgeholt. Es war alles so schnell gegangen, er hatte seine Mami gar nicht sehen dürfen. Sie würde wohl auch sterben, hatte Joana nur mal gesagt.
»Meine Mami kommt wieder«, hatte er ihr jedoch widersprochen.
Weil er sehr müde war, schlief er auch bald ein. Das Weinen hatte er schon lange verlernt. Es hatte ja doch nie geholfen!
Joana kam weit nach Mitternacht zurück. Sie fluchte vor sich hin, aber Ulrich hörte es nicht. Er schlief. Joana jedoch dachte gar nicht an das Kind. Sie hatte verloren und war in übelster Laune. Sie konnte sich jetzt schon ausrechnen, daß ihr Geld höchstens noch drei Tage reichen würde. Und nicht ein einziger Mann hatte sich im Casino für sie interessiert! Alle waren nur vom Spiel besessen gewesen. Joana kam zu der trübsinnigen Feststellung, daß sie derzeit schlecht von den Sternen bestrahlt sei. Erst die Hiobsbotschaft, daß Cordula aus dem Koma erwacht war, und nun hatte sie auch noch solches Pech im Spiel und dabei nicht mal Glück bei einem Flirt…
Sie schleuderte ihre Sachen von sich und sackte aufs Bett, aber einschlafen konnte sie nicht gleich. Sie schrak zusammen, als sich Ulrich herumwarf und laut nach seiner Mami schrie. Er träumte, aber er war bald wieder still, und Joana dachte, daß es ihr eigentlich gar nichts bringen würde, wenn sie mit dem Jungen hierblieb und einen Haufen Geld ausgab. Ihr mußte etwas anderes einfallen, damit sie wenigstens noch so lange wie möglich monatlich die tausend Euro für den Jungen bekam.
Am Morgen war ihr Entschluß gefaßt. »Wir fahren nach Hause«, sagte sie zu Ulrich, der schon eine ganze Weile auf der Eckbank saß und zum Fenster hinausblickte. Der Himmel hatte sich eingetrübt, man konnte die Gebirgskette nur noch im Dunst sehen. »Was soll man hier unternehmen, wenn das Wetter schlecht ist«, fuhr sie fort.
»Ich will zu meiner Mami«, erklärte Ulrich kategorisch.
»Jetzt hast du ja wenigstens deine Sprache wiedergefunden«, meinte sie lässig. »Du wirst schon früh genug zu deiner Mami kommen.«
*
Constantin war am Nachmittag nach Garmisch gefahren. Er hatte vorher ein langes Gespräch mit den Ärzten geführt und auch einen Kollegen vom Vormundschaftsgericht getroffen. Mit seinen Argumenten konnte er zumindest Jochen Heeren einschüchtern.
Während er unterwegs war, saß André Riedmann wieder bei seinem Sohn, und Benjamin war zum Glück schon wieder recht munter. Es war erstaunlich nach dieser Operation.
Von Dr. Behnisch hatte André erfahren, daß Tessa dagewesen war. Er setzte sofort eine abweisende Miene auf.
»Wir können es Ihrer Frau nicht verbieten, Benjamin zu besuchen«, sagte Dr. Behnisch. »Schließlich ist sie die Mutter.«
»Und was für eine Mutter!« brauste André auf. »Ihr ist doch jeder Kaffeeklatsch wichtiger als Benny. Aber er wird ihr schon sagen, daß er sie nicht sehen will. Die Kinder sind heutzutage viel kritischer als früher. Wie ist es eigentlich mit Ulrich? Darf er schon zu seiner Mutter?«
»Momentan noch nicht«, erwiderte Dr. Behnisch ausweichend.
»Sonst hätte er Benny auch manchmal Gesellschaft leisten können. Die Buben haben sich gut verstanden. Es ist ja auch kein großer Altersunterschied«, meinte André.
»Benjamin wird ja noch einige Zeit bei uns bleiben müssen«, entgegnete Dr. Behnisch. »Vielleicht kommt der kleine Bürgner inzwischen doch her.«
»Ich bin ganz froh, wenn Benny ein bißchen länger bleibt, denn ich muß erst Ordnung in mein Privatleben bringen.
Meine Frau wird da nichts mehr zu sagen haben. Wenn ich momentan nur nicht so viel zu tun hätte! Übrigens wird meine Sekretärin, Frau Koenig, Benny besuchen kommen. Er mag sie sehr.«
Hoffentlich gibt es dann nicht erst recht Schwierigkeiten mit Frau Riedmann, dachte Dr. Behnisch, denn ihren Auftritt hatte er noch in schlechtester Erinnerung.
Zwischen Vater