Der schöne Sommer. Cesare Pavese
Die vorliegenden drei Romane erschienen unter dem Titel Der schöne Sommer in einem Band 1949 in der Reihe »Supercoralli« bei Einaudi. Im Klappentext schrieb Pavese: »Ein Band, drei Romane. Jeder davon könnte ein eigenes Buch sein. Warum kommen Der schöne Sommer, Der Teufel auf den Hügeln und Die einsamen Frauen zusammen heraus? Es ist nicht das, was man Trilogie nennt, es geht um ein moralisches Klima, ein Zusammentreffen von Themen, um ein wiederkehrendes geistiges Klima im freien Spiel der Fantasie. Obwohl reich an landschaftlichen Bezügen – und Der Teufel auf den Hügeln fragt sich sogar im Ansatz, was denn Natur und Land sind –, sind es drei urbane Romane, drei Romane über die Entdeckung der Stadt und der Gesellschaft, drei Romane über jugendliche Begeisterung und gescheiterte Leidenschaft. In jeder der unterschiedlichen Handlungen und Milieus kehrt das Thema der Versuchung wieder, der Einfluss, dem alle Jugendlichen zwangsläufig ausgesetzt sind. Ein weiteres Thema ist die atemlose Suche nach dem Laster, das übermütige Bedürfnis, die Norm zu übertreten, an die Grenzen zu stoßen. Und noch ein gemeinsames Thema ist, dass die natürliche Strafe den Unschuldigsten und Wehrlosesten trifft, den ›Jüngsten‹.«
Im Manuskript ist Der schöne Sommer datiert 2. März – 6. Mai 1940 und trägt den Titel La tenda (Der Vorhang); Der Teufel auf den Hügeln ist datiert 20. Juni – 4. Oktober 1948; Die einsamen Frauen 17. März – 26. Mai 1949.
Cesare Pavese
Der schöne Sommer
Drei Romane
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Die Originalausgabe ist 1949 unter dem Titel La bella estate bei Giulio Einaudi Editore erschienen.
Maja Pflugs Übersetzung von Der schöne Sommer sowie von Einsame Frauen, 2012 bzw. 2008 erstmals erschienen, wurde für diese Ausgabe neu durchgesehen.
»Portrait eines Freundes« von Natalia Ginzburg ist dem Band Die kleinen Tugenden entnommen. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klaus Wagenbach.
© 1989, 1996, 2001, 2016, 2020 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
© 2021 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich
Lektorat: Daniela Koch
eISBN: 978-3-85869-904-6
1. Auflage
INHALT
Statt eines Nachworts Natalia Ginzburg, Porträt eines Freundes
Cesara Pavese Ausgewählte Daten zu Leben und Werk
I.
Damals war immer Festtag. Es genügte, das Haus zu verlassen und die Straße zu überqueren, schon wurden die Mädchen wie verrückt, und alles war so schön, besonders nachts, dass sie, wenn sie todmüde zurückkehrten, immer noch hofften, dass etwas geschähe, dass ein Brand ausbräche, dass zu Hause ein Kind geboren würde oder dass es womöglich plötzlich Tag würde und alle Leute auf die Straße liefen und man immer weiter und weiter gehen könnte bis zu den Wiesen und hinter die Hügel. »Ihr seid gesund, ihr seid jung«, sagten sie, »ihr seid Mädchen und habt keine Sorgen, das ist selbstverständlich.« Doch sogar Tina, eine von ihnen, die hinkend aus dem Krankenhaus gekommen war und zu Hause nichts zu essen hatte, auch sie lachte unentwegt über nichts, und eines Abends, als sie hinter den anderen hertrottete, war sie stehengeblieben und hatte zu weinen begonnen, weil Schlafen eine Dummheit war und der Fröhlichkeit die Zeit stahl.
Wenn Ginia solche Krisen überfielen, ließ sie sich nichts anmerken, sondern begleitete eine der anderen heim und redete und redete, bis sie nichts mehr zu sagen wussten. Kam dann der Augenblick, sich zu verabschieden, so waren sie schon eine ganze Weile wie allein, und Ginia ging ruhig nach Hause, ohne der Gesellschaft nachzutrauern. Die schönsten Nächte waren natürlich samstags, wenn sie zum Tanzen gingen und am nächsten Tag ausschlafen konnten. Aber es genügte auch weniger, und manchmal, wenn sich Ginia morgens auf den Weg zur Arbeit machte, war sie schon glücklich über das Stück Straße, das sie erwartete. Die anderen sagten: »Wenn ich spät heimkomme, bin ich dann müde; wenn ich spät heimkomme, kriege ich eins hinter die Ohren.« Doch Ginia war nie müde, und ihr Bruder, der nachts arbeitete, sah sie nur zum Abendessen, und tagsüber schlief er. Mittags (Severino drehte sich im Bett um, wenn sie hereinkam) deckte Ginia den Tisch und aß hungrig, kaute dabei gemächlich und lauschte den Geräuschen im Haus. Die Zeit verstrich langsam, wie es in leeren Wohnungen so ist, und Ginia hatte Zeit, das Geschirr abzuwaschen, das im Spülbecken wartete, ein wenig sauber zu machen, sich dann auf dem Sofa unter dem Fenster auszustrecken und beim Ticken des Weckers aus dem Nebenzimmer einzuschlummern. Manchmal schloss sie auch die Fensterläden, damit es dunkel wurde und sie sich noch einsamer fühlte. Rosa würde sowieso um drei die Treppe herunterkommen und leise, um Severino nicht zu wecken, an der Türe kratzen, bis sie ihr antwortete, sie sei wach. Dann verließen sie gemeinsam das Haus und verabschiedeten sich an der Straßenbahn.
Ginia und Rosa hatten nichts gemein außer diesem Stück Weg und einem Stern aus kleinen Perlen im Haar. Doch als sie einmal an einem Schaufenster vorübergingen und Rosa sagte: »Wir sehen aus wie Schwestern«, merkte Ginia, wie ordinär dieser Stern war, und begriff, dass sie einen kleinen Hut tragen musste, wenn sie nicht auch wie eine Arbeiterin wirken wollte. Umso mehr, da Rosa, die noch von Vater und Mutter abhängig war, sich erst wer weiß wann einen würde leisten können.
Wenn sie vorbeisah, um Ginia zu wecken, kam Rosa herein, falls es nicht schon zu spät war; und Ginia ließ sich beim Aufräumen helfen und lachte halblaut über Severino, der, wie alle Männer, nicht wusste, was es hieß, einen Haushalt zu führen. Zum Spaß nannte Rosa ihn dann »deinen Mann«, aber nicht selten machte Ginia ein finsteres Gesicht und erwiderte, die ganze Arbeit mit dem Haushalt zu haben, aber keinen Mann, sei gar nicht lustig. Ginia meinte es nicht ernst – denn ihr Vergnügen bestand genau darin, diese Stunde allein zu Hause zu verbringen, ganz ihre eigene Herrin –, doch ab und zu musste man Rosa zu verstehen geben, dass sie keine Kinder mehr waren. Auch auf der Straße wusste Rosa sich nicht zu benehmen und schnitt Grimassen, lachte, drehte sich um – Ginia hätte sie verprügeln mögen. Aber wenn sie zusammen tanzen gingen, war Rosa unentbehrlich, denn sie duzte alle, und ihre Verrücktheiten zeigten den anderen, dass Ginia feiner war. In diesem schönen Jahr, als sie begannen, allein zu leben, hatte Ginia bald gemerkt, was sie von den anderen Mädchen unterschied, nämlich dass sie auch zu Hause allein war – Severino zählte nicht – und mit sechzehn Jahren wie eine Frau leben konnte. Deshalb ließ sie sich, solange sie den Stern im Haar trug, von Rosa begleiten, weil sie sie lustig fand. Im ganzen Viertel gab es keine Zweite, die, wenn sie wollte, so albern war wie Rosa. Sie konnte jeden aus der Fassung bringen, indem sie lachte und in die Luft schaute, und ganze Abende war alles, was sie tat und sagte, die reine Komödie. Und sie war angriffslustig wie ein Hahn. »Was hast du, Rosa?«, fragte einer, während sie noch warteten, dass das Orchester zu spielen anfing. »Angst« – und die Augen traten