Der schöne Sommer. Cesare Pavese
den ganzen Tag nichts zu tun und dann zusammen durch die Stadt zu schlendern, wenn es kühler wurde, aber so elegant zu sein, dass, während sie die Schaufenster betrachteten, die Leute sie betrachteten. »So frei zu sein, wie ich es bin, macht mich wütend«, sagte Amelia. Ginia hätte viel darum gegeben, Amelia mit Begeisterung über viele Dinge sprechen zu hören, die ihr gefielen, denn wahre Vertrautheit ist, zu wissen, was der andere sich wünscht, und wenn einem die gleichen Dinge gefallen, fühlt man sich weniger befangen. Doch Ginia war nicht sicher, ob Amelia, wenn sie gegen Abend unter den Arkaden bummelten, das ansah, was sie selbst ansah. Man konnte nie darauf schwören, dass ihr dieser Hut oder jener Stoff gefiel, und musste immer darauf gefasst sein, dass sie lachte, wie sie es mit Rosa machte. Da sie den ganzen Tag allein war, sagte sie nie, was sie gern Schönes tun würde, und wenn sie etwas sagte, meinte sie es nicht ernst. »Ist dir, wenn du auf jemanden wartest, noch nie aufgefallen, wie viele Schweinsgesichter und Hühnerbeine vorbeikommen? Ein herrlicher Zeitvertreib.« Vielleicht scherzte Amelia, aber vielleicht stimmte es, dass sie die Viertelstunden so verbrachte, und Ginia dachte jedenfalls, dass sie recht dumm gewesen war, an jenem Abend durchblicken zu lassen, wie gern sie einmal beim Malen zusähe.
Wenn sie jetzt ausgingen, war es Amelia, die den einen oder anderen Ort auswählte, und Ginia ließ sich willig führen. Als sie in das Tanzlokal jenes Abends zurückkehrten, erkannte Ginia, die sich damals so gut amüsiert hatte, weder die Lampen noch das Orchester wieder, nur die Kühle, die von den offenen Balkonen hereinwehte, gefiel ihr. Das bedeutete aber, dass sie sich nicht gut genug angezogen fühlte, um zu den Tischchen hinunterzugehen, doch Amelia hatte begonnen, sich mit einem jungen Mann zu unterhalten, der sie duzte, und als die Musik verstummte, tauchte noch einer auf, der ihnen zuwinkte, und Amelia wandte sich um und fragte: »Meint der dich?« Da freute sich Ginia, dass jemand sie wiedererkannt hatte, aber der junge Mann war verschwunden, und ein anderer, unsympathischer, der mit ihr getanzt hatte, ging rasch vorbei, ohne sie zu sehen. Ginia kam es vor, als hätten sie am ersten Abend nie an einem Tisch gesessen, außer um Atem zu schöpfen, jetzt dagegen warteten sie eine ganze Weile unter dem Fenster, und Amelia, die sich als Erste setzte, sagte laut: »Das ist auch ein Vergnügen.« Gewiss, die anderen Mädchen im Saal waren nicht besser gekleidet als Amelia, und viele trugen keine Strümpfe, aber Ginia sah vor allem die weißen Jacken der Kellner und dachte an die vielen Autos, die draußen standen. Dann begriff sie, dass es dumm von ihr war zu hoffen, da drinnen sei irgendwo Amelias Maler.
In jenem Jahr war es so heiß, dass man jeden Abend ausgehen musste, und es schien Ginia, als habe sie nie zuvor verstanden, was Sommer eigentlich bedeutete, so schön war es, jede Nacht auszugehen und durch die Alleen zu schlendern. Manchmal dachte sie, jener Sommer würde niemals enden, und zugleich, dass man sich beeilen musste, ihn zu genießen, denn wenn er zu Ende wäre, würde bestimmt etwas geschehen. Deshalb ging sie nicht mehr mit Rosa in das alte Lokal oder in ihr Kino, sondern machte sich manchmal allein auf den Weg und lief schnell in ein Kino im Zentrum. Was Amelia konnte, konnte sie auch. Amelia kam eines Abends und sagte, während sie das Haus verließen: »Gestern hab ich Arbeit gefunden.«
Ginia war nicht erstaunt. Sie hatte es erwartet. Ruhig fragte sie, ob sie sofort anfange. »Schon angefangen, heute Morgen«, sagte Amelia. »Zwei Stunden.« – »Jetzt bist du sicher froh«, sagte Ginia.
Dann fragte sie, um was für ein Bild es sich handle. »Kein Bild. Er macht Skizzen von mir. Er zeichnet mein Gesicht. Ich rede, und ab und zu wirft er ein Profil hin. Es ist keine Arbeit für länger.« – »Also stehst du gar nicht Modell?«, fragte Ginia. »Was glaubst du denn«, sagte Amelia, »dass Modellstehen nur heißt, sich auszuziehen und nackt dazustehen?«
»Gehst du morgen wieder hin?«, fragte Ginia.
Amelia ging am nächsten Tag wieder hin und dann noch mehrere Male. Am Abend danach erzählte sie lachend von dem Maler, der nie stillstand und der sie fragte, ob sie je jemand so gemalt habe, hin und her laufend, wie er es tat. »Heute Morgen hat er eine Aktzeichnung von mir gemacht. Er weiß genau, wie es geht. Zuerst tastet er sich langsam heran. Aber dann bringt er dich mit vier Strichen aufs Papier und braucht dich nicht mehr.« Ginia fragte sie, wie er sei, und Amelia sagte: »Ein kleines Männchen.« – »Wie hast du ihn gefunden?« – »Durch Zufall. – Komm mich morgen abholen«, sagte Amelia. Sie verabredeten, am Samstagnachmittag gemeinsam hinzugehen.
Den ganzen Weg über, in der Sonne, brachte Amelia sie an jenem Nachmittag zum Lachen. Über eine Wendeltreppe gelangten sie in einen großen halbdunklen Raum, in den nur ganz hinten durch einen Spalt zwischen den Vorhängen ein wenig kühles Licht fiel. Ginia war mit klopfendem Herzen auf den letzten Stufen stehengeblieben. Amelia rief laut »Guten Tag« und ging im Halbdunkel bis in die Zimmermitte, und aus den Vorhängen trat ein Mann – fett, mit grauem Bärtchen –, der mit den Händen wedelnd sagte: »Nichts zu machen, Mädchen. Heute muss ich weg.« Er trug ein langes, helles Hemd, das sich als schmutzig gelb herausstellte, als er sich umdrehte und den Vorhang ein wenig beiseite schob, um Licht hereinzulassen. »Heute wird nicht gearbeitet, Mädchen, heute muss man an die Luft.«
Ginia hatte sich nicht von der Treppenstufe gerührt. Im Gegenlicht sah sie von weitem Amelias Beine. Leise sagte sie, mehr zu sich selbst: »Amelia, lass uns gehen.«
»Wäre das die kleine Freundin, die mich kennenlernen möchte? Sie ist ja noch ein Kind. Lass dich mal im Licht anschauen.«
Unwillig stieg Ginia die letzte Treppenstufe hinauf, während sie die neugierigen grauen Augen auf sich ruhen fühlte und nicht wusste, ob Alter oder Verschlagenheit aus ihnen sprach. Gleichzeitig hörte sie Amelias Stimme – schneidend, verärgert –, die sagte: »Aber wir hatten doch einen Termin.«
»Was willst du machen?«, sagte der Maler. »Was willst du machen? Ihr seid doch auch müde. Zum Arbeiten braucht man Ruhe. Bist du nicht froh, wenn ich dir freigebe?«
Daraufhin ging Amelia zu einem Stuhl und setzte sich in den Schatten der Vorhänge, und Ginia schien es, als stünde sie schon wer weiß wie lange da, ohne zu wissen, wie sie auf die Blicke der beiden reagieren sollte, die einander und dann wieder sie musterten. Ihr war, als scherzte der Kerl, aber nicht mit ihnen; er redete noch weiter mit Amelia, sprach abgehackt, sagte ständig »Was willst du machen«. Dann sprang er unvermutet zurück, so klein und dick, wie er war, und schob die Vorhänge weiter auseinander. In dem großen leeren Raum roch es nach frischem Kalk und nach Firnis.
»Wir sind verschwitzt«, sagte Amelia. »Lassen Sie uns wenigstens im Kühlen verschnaufen. Nicht wahr, Ginia?« Als sie das sagte, drehte sich der Maler mit dem Bärtchen wieder um und öffnete die großen Scheiben, die auf den Himmel hinausgingen. Mit übergeschlagenen Beinen sah Amelia ihm zu und lachte. Am Fenster stand eine Staffelei, darauf eine Leinwand, die mit hingeworfenen und wieder abgekratzten Farbflecken bedeckt war. »Wenn man nicht jetzt arbeitet, solange Licht ist, wann wollen Sie dann arbeiten?«, fragte Amelia. »Ich wette, Sie gehen mich mit einem anderen Modell betrügen.« – »Mit der ganzen Welt betrüge ich dich«, rief der Maler gebückt. »Glaubst du, du bist mehr wert als eine Pflanze oder ein Pferd? Ich arbeite auch, wenn ich spazieren gehe, was glaubst denn du?« Und dabei stöberte er in einem Kasten unter der Staffelei und warf Zeichenblätter, Schachteln und Pinsel durcheinander. Amelia sprang vom Stuhl auf, nahm den Hut ab und zwinkerte Ginia zu. »Warum machen Sie nicht eine Skizze von meiner Freundin?«, schlug sie lachend vor. »Sie hat noch nie für jemanden Modell gestanden.«
Der Maler hatte sich umgewandt. »Genau das tue ich«, sagte er. »Ihr Ausdruck interessiert mich.«
Einen Bleistift in der Hand, begann er, mit geneigtem Kopf, sich den Bart streichend, in einem gewissen Abstand um Ginia herumzugehen, und starrte sie an wie ein Kater. Ginia, in der Zimmermitte, wagte nicht, sich zu rühren. Dann forderte er sie auf, ins Licht zu treten, und ohne sie aus den Augen zu lassen, lehnte er ein Blatt an die Leinwand auf der Staffelei und begann zu zeichnen. Am Himmel sah man eine gelbe Wolke und Dächer; mit klopfendem Herzen fixierte Ginia die Wolke und hörte Amelia irgendwo im Raum etwas sagen und hin und her gehen und schnaufen, aber sie blickte sie nicht an.
Als Amelia sie rief, damit sie sich die Zeichnung ansähe, musste Ginia die Augen schließen, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Dann beugte sie sich langsam über das Blatt und erkannte ihren Hut, doch das Gesicht schien ihr das einer anderen, ein schlafendes Gesicht,