Der schöne Sommer. Cesare Pavese
Abend hatte Amelia eine neue Handtasche, und Ginia fragte: »Hat er dir ein Abschiedsgeschenk gemacht?«
»Der?«, sagte Amelia. »Dass ich nicht lache! Der wollte, dass du wiederkommst, dir hätte er nichts bezahlen müssen.«
Dann stritten sie sich, weil Amelia es ihr nie gesagt hatte, und gingen beleidigt auseinander. »Sie hat einen Liebhaber gefunden«, dachte Ginia, allein auf dem Heimweg, »sie hat einen Liebhaber gefunden, der ihr Geschenke macht.« Sie beschloss, sich erst dann mit ihr zu versöhnen, wenn Amelia kommen und sie darum bitten würde.
Lustlos, um sich nicht zu langweilen, versuchte Ginia, die alten Freundschaften wieder aufzuwärmen. Schließlich würde sie im nächsten Sommer siebzehn Jahre alt sein, und ihr schien, sie sei nun längst so schlau wie Amelia. Umso mehr, als sie sie nicht mehr sah. An diesen schon kühlen Abenden versuchte sie, Rosa gegenüber die Amelia zu spielen. Sie lachte ihr oft ins Gesicht und ging plaudernd mit ihr spazieren. Sie redete noch einmal mit ihr über Pino. Aber sie zum Tanzen auf den Hügel zu führen, wagte sie nicht.
Amelia hatte bestimmt jemanden, denn niemand bekam sie mehr zu Gesicht. »Solange eine Frau was zum Anziehen hat«, dachte Ginia, »macht sie eine gute Figur. Man muss aufpassen, sich nicht nackt sehen zu lassen.« Doch über solche Dinge konnte man weder mit Rosa oder Clara noch mit deren Brüdern sprechen, die sofort schlecht von ihr gedacht oder versucht hätten, sie anzufassen, und das wollte Ginia nicht, weil sie begriffen hatte, dass es etwas Besseres auf der Welt gab als einen Ferruccio oder einen Pino. An den Abenden, die sie mit ihnen verbrachte, tanzten und scherzten sie – unterhielten sich auch –, aber Ginia wusste, dass es die gleiche Fröhlichkeit war wie an den Sonntagen, an denen sie Boot gefahren waren: Kindereien, ohne Folgen, eine Auswirkung der Sonne und des Singens, kaum sah man einen mit dem Handtuch um die Hüften, der eine Frau nachmachte, schon lachte man los. Jetzt dagegen bestanden die Sonntage und Abende aus Langeweile, da sich Ginia allein zu nichts mehr entschließen konnte und sich von den anderen Mädchen mitziehen ließ. Nur in der Schneiderei hatte sie manchmal Spaß, wenn die Signora sie rief, um einer Kundin mit Stecknadeln das Kleid abzustecken. Es war zum Lachen, wenn man bestimmte Geschichten hörte, die manche dummen Kundinnen erzählten, aber noch lustiger war es, wenn die Signora so tat, als glaube sie daran, und ganz ernst blieb, während die Spiegel ihr schelmisches Gesicht zeigten. Einmal kam eine Blonde, die behauptete, sie hätte ihr Auto unten vor der Tür, doch wenn das wahr gewesen wäre, dachte Ginia, hätte sie eine luxuriösere Schneiderei aufgesucht. Sie war jung und groß und trug keinen Ehering. Aber schön, fand Ginia, schön und schlank, auch als sie in Höschen und Büstenhalter und sonst nichts dastand. Wenn die Modell gestanden hätte, das wäre wirklich ein schönes Bild geworden, und vielleicht war sie tatsächlich ein Modell, denn sie spazierte in der gleichen Haltung wie Amelia vor den Spiegeln auf und ab. Tage später sah Ginia ihre Rechnung, aber es stand nur der Nachname darauf, und mehr erfuhr sie nicht. Für sie blieb die Blonde ein Modell.
Eines Abends ließ Ginia sich von einem Freund von Severino einladen, der zu ihnen nach Hause kam, um ihr eine Lampe zu bringen, und ging am nächsten Tag in seinem Geschäft vorbei. Er war ein junger Mann wie Severino und flößte ihr keine Scheu ein, denn er trug immer einen Arbeitsanzug, und ein paar Jahre zuvor hatte er sie noch an den Handgelenken gepackt und gefragt, ob sie einen elektrischen Schlag bekommen wolle. Jetzt betrachtete er sie mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen. Ginia ging hin, weil man von dem Geschäft aus Amelias Haustor sehen konnte, aber dieser Massimo hatte bestimmt keine Ahnung, warum sie eine ganze Weile mit ihm plauderte und lachte und gleich am nächsten Tag wiederkam.
Sie betrachteten die rosafarbenen und himmelblauen Lampen, und Ginia alberte herum. Durch das Schaufenster sah man Leute vorbeigehen, und sie fragte, ob es stimme, dass Amelia weiß gekleidet herumlief. »Wer weiß«, sagte Massimo, »ihr seid so viele, ihr Mädchen. Severino wird es wissen.« – »Oh, warum Severino?« – »Severino«, antwortete Massimo, »mag kräftige Frauen. Es ist doch die, die ohne Strümpfe geht?« – »Hat er dir das gesagt?«, fragte Ginia. »Du bist seine Schwester und weißt es nicht?«, erwiderte Massimo lachend. »Lass es dir von Amelia erzählen. Kam sie nicht immer zu dir nach Hause?«
Daran hatte Ginia nie gedacht. Der Gedanke, dass Amelia Severino gefallen hatte und dass sie es sich gesagt hatten und sich womöglich trafen, verdarb ihr den Tag. Wenn das stimmte, war Amelias ganze Freundschaft nur eine Finte gewesen. »Ich bin wirklich ein Kindskopf«, dachte Ginia, und um ihre Wut zu dämpfen, erinnerte sie sich daran, dass es sie abgestoßen hatte, Amelia nackt zu sehen. »Aber stimmt es überhaupt?«, dachte sie. Severino in ein Mädchen verliebt, das konnte sie sich nicht vorstellen, sie war sich vielmehr sicher, hätte er die arme Amelia damals Modell stehen sehen, hätte sie ihm nicht mehr gefallen. »Oder vielleicht doch?« – »Aber warum sind wir nackt?«, dachte sie verzweifelt.
Gegen Abend war sie schon wieder ruhiger und überzeugt, dass Massimo nur so dahergeredet hatte. Während sie mit Severino aß, betrachtete sie seine Hände mit den kaputten Fingernägeln und begriff, dass Amelia ganz anderes gewohnt war. Dann blieb sie im gedämpften Licht allein und dachte an die schönen Abende im August, als Amelia sie abholen kam, da hörte sie hinter der Tür ihre Stimme.
V.
»Ich wollte dich besuchen«, sagte Amelia.
Ginia antwortete nicht sofort.
»Du bist immer noch böse«, sagte Amelia. »Lass es gut sein. Ist dein Bruder nicht da?«
»Er ist gerade weggegangen.«
Amelia trug das alte Kleid, hatte aber eine schöne Frisur mit Korallen. Sie setzte sich aufs Sofa und fragte sofort, ob Ginia ausgehen wolle. Ihre Stimme klang wie früher, aber tiefer, als sei sie erkältet.
»Willst du zu mir oder zu Severino?«, fragte Ginia.
»O diese Leute. Lass sie doch reden. Ich will mich nur vergnügen, wenn du auch mitkommst.«
Daraufhin wechselte Ginia die Strümpfe, und sie eilten die Treppe hinunter, und Amelia ließ sich erzählen, was im Lauf des Monats geschehen war. »Und was hast du gemacht?«, fragte Ginia. »Was soll ich schon gemacht haben«, sagte Amelia und begann wieder zu lachen, »nichts habe ich gemacht. Heute Abend habe ich mir gesagt: Gehen wir mal nachsehen, ob Ginia immer noch an Barbetta denkt.« Sonst war nichts aus ihr herauszubringen, aber Ginia gab sich damit zufrieden. »Trinken wir ein Gläschen?«, schlug sie vor.
Während sie tranken, fragte Amelia, warum Ginia sie nie besucht hatte. »Ich wusste ja nicht, wo du bist.« – »Na, wo schon. Im Café, den ganzen Tag.« – »Das hast du nie gesagt.«
Am nächsten Tag ging Ginia sie im Café suchen. Es war ein neues Café unter den Arkaden, und Ginia blickte sich um und hielt nach Amelia Ausschau. Es war Amelia, die sie rief, laut, als wäre sie hier zu Hause. Ginia sah, dass sie einen schönen grauen Mantel und einen Hut mit Schleier trug, in dem sie kaum wiederzuerkennen war. Mit übergeschlagenen Beinen saß sie da, die Faust unter dem Kinn, als säße sie Modell. »Du bist ja wirklich gekommen«, sagte sie lachend.
»Wartest du auf jemanden?«, fragte Ginia.
»Ich warte immer«, sagte Amelia und machte ihr neben sich Platz. »Das ist meine Arbeit. Um sich vor einem Maler ausziehen zu dürfen, muss man Schlange stehen.«
Amelia hatte eine Zeitung und ein Päckchen Zigaretten vor sich auf dem Tisch liegen. Also verdiente sie etwas. »Schön, dieser Hut, aber er macht dich alt«, sagte Ginia und blickte ihr in die Augen. »Ich bin alt«, sagte Amelia. »Gefällt er dir nicht?«
Amelia lehnte sich an den Spiegel, als säße sie auf einem Sofa. Sie schaute nach vorn, in den Spiegel gegenüber, in dem Ginia auch sich selbst sah, aber kleiner. Sie wirkten wie Mutter und Tochter. »Und du bist immer hier?«, fragte sie. »Kommen die Maler hierher?«
»Sie kommen, wann sie Lust haben. Heute hat sich noch keiner blicken lassen.«
Der Kronleuchter brannte, und viele Leute gingen draußen am Fenster vorbei. Der Raum war voller Rauch, aber so hell und ruhig, dass es schien, als kämen die Geräusche und Stimmen von weit her. Ginia beobachtete zwei Mädchen in einer Ecke, die sich angeregt unterhielten und mit dem Kellner sprachen.