Joe Cocker - Die Biografie. Christof Graf
Stimme und Werk ein glaubwürdiges Zeugnis ab.
In seiner langen Laufbahn hatte Joe Cocker immer wieder bewiesen, dass er es wie kaum ein anderer Musiker verstanden hatte, Songs namhafter Komponisten zu seinen eigenen zu machen. Er hatte über die Jahre zahlreiche Fremdtitel in sein Repertoire aufgenommen und diese so überzeugend in seinem absolut individuellen Stil interpretiert, dass man glauben konnte, sie seien extra für ihn verfasst worden. Viele Nummern, die ursprünglich für andere Sänger geschrieben worden waren, erlangten in seiner Bearbeitung den Status von Klassikern. So manches Lied wurde erst in seiner Fassung weltberühmt, bestes Beispiel wiederum Randy Newmans „You Can Leave Your Hat On“. Weltweit kommt wohl kaum ein Striptease ohne diese Musik im Hintergrund aus.
Über ihn hieß es: „Wenn er singt, zerreißt Cocker sein eigenes Herz und seine Seele mit der Dringlichkeit und Intensität eines van Gogh des Rock ’n’ Roll … Ein Song, der einmal von ihm gesungen worden ist, ist damit für immer gesungen worden.“ Über Jahrzehnte hinweg genoss die musikalische Legende aus Sheffield weltweit den Ruf eines hervorragenden Sängers, extravaganten Interpreten und passionierten Bühnenmusikers. Der englische Soulsänger eroberte die verschiedensten Genres, schuf eine große Anzahl von Klassikern, hielt aber an einer bestimmten Stilrichtung stets besonders fest: „Ich scheine mich nie sehr weit vom Blues zu entfernen“, verriet der Künstler. „Ich habe es versucht, aber wenn ich dem zuhöre, was andere Leute so singen … in meinem ganzen Leben könnte ich so was nicht singen. Ich denke, wenn du mal so um die Mitte dreißig bist, hast du deinen grundsätzlichen Stil festgelegt. Ich könnte einfach keine anderen Platten machen.“
Glücklicherweise war das genau der richtige Stil für den raspelnden, knurrenden Sänger, der immer aufs Neue in der Lage war, das noch zu übertreffen, wofür sein Publikum ihn so sehr schätzte.
Der in unvergesslichen Liveauftritten und Studioaufnahmen immer vorhandene Zauber war erstaunlich, aber nicht unerklärlich. „Songs wie ‚You Are So Beautiful‘ oder ‚With A Little Help From My Friends‘ könnte ich ewig singen“, bemerkte Cocker zu zwei Songs, die in jedes seiner Konzerte hineingehörten, und zu seiner Hingabe an den Gesang. „Gott weiß, wie oft ich sie schon gesungen habe. Es ist, als ob ich tausendmal das gleiche Bild malte. Man fragt sich immer: ‚Wie bekomme ich es diesmal richtig hin?‘ Und ich bekomme es jedes Mal richtig hin.“ Vielleicht weil er einfach etwas hatte, was andere nicht haben: eine Ausnahmestimme.
Aber was machte denn nun Cockers Stimme zur Ausnahme? Ihr Klang? Ihre Klangfarbe? Ihre Geschichte? Die Geschichten, die sie erzählte? In all dem liegt natürlich ein Körnchen Wahrheit. Klar ist jedenfalls: Was bleibt im Musikbusiness, sind die Ausnahmestimmen. Eine Stimme, die einem das Gefühl gibt, sich ihr nicht entziehen zu können, als hätte sie etwas Magisches. Aber vielleicht ist es auch nur das tragische Moment in ihr, das den Geschichten etwas gibt, was sie zu dem macht, was Menschen immer suchen: Authentizität.
Es geht also nicht nur um eine Stimme, die wie Joe Cocker klingt. Es geht um die, die Joe Cocker war und die nur deswegen seine war, weil sie seine Geschichten erklingen ließ. Eine Stimme, kalt und warm zugleich, eine Stimme voller Kraft und Emotionalität, eine Stimme, die weit über das hinausging, was die Tonleiter ausmacht, die hell und klar ebenso wie dunkel und weich war. Eine Stimme, die einen Sänger zum Shouter, zum Schreienden macht, der damit Klänge erzeugt, wie sie kein anderer nach ihm erklingen lassen kann.
Ja, es gibt sie natürlich, die faszinierenden Stimmen Elton Johns, Freddie Mercurys und auch die von Vertretern der jüngeren Generation wie Lady Gaga, Katie Perry, Leslie Clio oder Birdy. Aber es sind keine, die Geschichten wie die von Joe Cocker erklingen lassen. Und dabei waren es noch nicht einmal immer seine eigenen Lieder, die er da auf seine ureigene Art und Weise zu Gehör brachte. Oft waren es jene von Kollegen, von denen er meinte, sie würden gut zu seiner Stimme passen. Oft machte er solche Lieder von den Beatles, Bob Marley, Randy Newman, Leonard Cohen oder Bob Dylan in einem unnachahmlichen Veredelungsprozess zu noch größeren Hits, als sie das ohnehin schon waren.
Peter Maffay spricht in seinen „Gedanken eines Getriebenen“ den „9. Ton“ an. Ein solcher durchdrang auch Joe Cockers Tonleiter. Eine Tonleiter oder Skala ist in der Musik eine Reihe von der Tonhöhe nach geordneten Tönen, die durch Rahmentöne begrenzt wird, jenseits derer die Tonreihe in der Regel wiederholbar ist. Meistens hat eine Tonleiter den Umfang einer Oktave und folgt dabei in vielen Fällen einem heptatonischen Tonskalenaufbau. Wie eine Tonleiter aufgebaut ist, wird im Tonsystem festgelegt. Die gebräuchlichsten europäischen und außereuropäischen Tonleitern basieren auf fünf oder sieben Tönen innerhalb der Oktave, welche Tonstufen genannt werden. Weit verbreitet sind diatonische Tonleitern in Dur und Moll oder die Kirchenleitern. Tonleitern sind durch Tonabstände definiert. Die in der konkreten Tonleiter enthaltenen Töne bezeichnet man als leitereigen. In außereuropäischer Musik wie der klassischen arabischen oder indischen gibt es Tonsysteme und Tonleitern, die den Tonraum anders aufteilen. So bestehen Tonleitern, die mehr als sieben festgelegte Tonstufen enthalten, wie zum Beispiel Mugam, Maqam oder Raga. Ein Beispiel für eine der heute in Mitteleuropa am gebräuchlichsten Tonleitern: die Dur-Tonleiter. Sie besteht aus Tönen im Abstand: Ganzton – Ganzton – Halbton – Ganzton – Ganzton – Ganzton – Halbton. Man kann eine so definierte Tonleiter auf jedem beliebigen Ton beginnen. Durch Angabe eines konkreten Anfangstons (Grundtons) wird daraus eine Tonart wie C-Dur, D-Dur usw. Die leitereigenen Töne von C-Dur heißen auch Stammtöne und entsprechen den weißen Tasten auf einer Klaviatur. Paul McCartney, der mit Joe Cocker 2002 zusammen „All You Need Is Love“ für das 50. Thronjubiläum der Queen im Buckingham Palace-Garden sang, schrieb über das Zusammenspiel der Klaviertasten den Song „Ebony & Ivory“ aus dem Jahr 1982, den er damals zusammen mit Stevie Wonder intonierte.
Manche interpretieren den Song als gelebtes Ideal zwischen den Gegensätzen. In der Musik ist es Dur und Moll. Dur und Moll verdrängten im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Bezeichnungen Modus major und Modus minor (cantus durus und cantus mollis) für die Tongeschlechter der Kirchentonarten. Seitdem spricht man auch vom dur-moll-tonalen Tonsystem, kurz Dur-Moll-System. Der Höreindruck von Dur wird oft als „hell, klar“ (vgl. lat. durus = hart) beschrieben, wogegen Moll oft als „dunkel, weich“ (vgl. lat. mollis = weich) bezeichnet wird. Diese Charakterisierungen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Insbesondere weitergehende Assoziationen wie z. B. Dur mit fröhlich oder Moll mit traurig können zwar im Einzelfall zutreffen, dürfen aber auf gar keinen Fall verallgemeinert werden, weil der musikalische Gesamteindruck noch von vielen anderen Komponenten abhängt.
Cocker, der Stimmkünstler, der Magier der Töne, wurde mit seinem Gesang nun zu einem Maler und Regisseur zugleich. Er projizierte Bilder auf eine Leinwand und lieferte gleichzeitig den Soundtrack dazu. Was bleibt, ist die Macht der Klänge. Klänge, die die Kraft haben, Erinnerungen zu wecken, Erinnerungen lebendig werden zu lassen. Erinnerungen an Bilder, die man gerne wiedersieht, Erinnerungen, die man gerne auffrischt. Erinnerungen an die erste Liebe, an das erste Konzert, an erste Reisen in große Städte, in ferne Länder. Assoziationen von Freiheit, von gelebtem Leben und Gefühlen. Erinnerungen an Ereignisse wie Woodstock, den Mauerfall oder Liebesfilme wie „Ein Offizier und Gentleman“, oder eben „9 ½ Wochen“. Und wenn ein Künstler mit seiner Kunst Dekade für Dekade immer wieder neue Bilder zu schaffen weiß, wird er zum Ausnahmekünstler.
Joe Cocker hat gleich ein ganzes Bilderbuch gemalt: „With A Little Help From My Friends“ steht für die 60er-Jahre, „Mad Dogs & Englishmen“ und „Wasted Years“ stehen für die 70er-Jahre, „Up Where We Belong“, „You Can Leave Your Hat On“ und „Unchain My Heart“ für die 80er sowie „Night Calls“, „Sail Away“, „First We Take Manhattan“ und „She Believes in Me“ für die 90er, „Respect Yourself“, „Hard Knocks“ und „Fire It Up“ schließlich stellvertretend für den 30 Jahre anhaltenden kommerziellen Erfolg Joe Cockers auch im neuen Jahrtausend.
Und erfragt und erkundet man immer und immer wieder das Besondere an Cocker, dessen Leben, dessen Kunst und dessen Stimme, scheint es, als hätte Peter Maffay bei seinem Sinnieren über den „9. Ton“ einer Tonleiter recht, wenn er schreibt: „Der neunte Ton ist der gute Ton. Ohne ihn wären die Musiker eines Orchesters nicht in der Lage, harmonisch miteinander zu musizieren. Dieser 9. Ton steht für respektvolles Zusammenspiel … Er steht dafür, Dialoge zu entfachen,