Joe Cocker - Die Biografie. Christof Graf
nennen könnte. Sein Vater bekam nach dem Krieg eine Anstellung beim National Assistance Board, was einem Job beim Arbeitsamt in Deutschland gleichkommt: öffentlicher Dienst, Festanstellung, geregelte Arbeitszeiten und sozusagen unkündbar. Nach der Arbeit verbrachte er viel Zeit im kleinen Garten der Doppelhaushälfte. Musikalisch war er von Oper und Klassik fasziniert, liebte Caruso und andere berühmte Tenöre. Von der aufkommenden Popmusik, vom Rock’n’Roll, Blues und Jazz wollte er nichts wissen. Dafür nahm er den jungen John Robert mit ins Kino, wo Vater und Sohn den Film „Der große Caruso“ sahen, ein Erlebnis, an das sich Joe bis zuletzt erinnerte, ohne dass er genau wusste, wie alt er damals gewesen war.
Joes Vater war eher ruhig und introvertiert, seine Mutter dagegen eher etwas extrovertiert. Sie war diejenige im Haus, die bei den Späßen des kleinen Joe mit herumalberte, sang und pfiff. Vic, Joes älterer Bruder, erzählte im englischen Fernsehen, dass „alle, die sie kannten, von ihr mit großer Zuneigung sprachen. Egal, wer bei ihr in ihrem Haus in der Tasker Road 38 vorbeikam, Freunde, Musiker und sogar Joes Fans aus aller Welt, die einfach nur mal schauen wollten, wo und wie Joe aufgewachsen ist, bekamen Tee und Kuchen angeboten. Meine Mutter hat sowohl Joe als auch mich stets dazu ermutigt, die Dinge im Leben zu tun, die wir tun wollten. Es gab nie Beeinflussung, immer nur Unterstützung.“
Musikalisch gab es zu Beginn der 50er-Jahre viele Veränderungen. Den Rock’n’Roll, wie man ihn aus den USA kannte, gab es im vom Weltkrieg geplagten Europa zunächst noch nicht. Das europäische Pendant zum Rock’n’Roll entstand in England mit dem Skiffle. Alexis Korner war einer der ersten britischen Vertreter dieser Aufbruchszeit. Die simpelste Form des Skiffles war eine Mischung aller bisher bekannten Musikformen der letzten Jahre, auf selbstgemachten Instrumenten wie etwa Waschbrettern, Kämmen mit Seidenpapier und Wäschekübeln dargeboten. Jene, die das Banjo-Spiel nicht beherrschten, obwohl aufgrund von nur vier anstatt den sechs Saiten einer Gitarre leichter zu erlernen, simulierten das Gitarrenspiel auf einem Tennisschläger.
Joe war begeistert vom Skiffle. Die Zeit des Zuhörens war bald vorbei, die Zeit des Selbermachens begann. Lonnie Donnegan und seine Skiffle-Band waren Joes erste Helden. Er gab sein ganzes Taschengeld für dessen Platten aus und besuchte ihn sogar einmal backstage, als der in Sheffield gastierte. Joe hatte übrigens immer Geld. Mal mähte er den Rasen für Nachbarn, mal trug er Zeitungen aus. Joe war immer bei Kasse.
Mit elf verließ er die Lydgate Lane Schule und wechselte zur Western Road Secondary Modern, aufs Gymnasium. Im Juli 1955, dem letzten Tag auf seiner alten Schule, demonstrierte er erstmals schauspielerisches Talent und mimte den Prinzen in einer Operette.
Joe galt überall als warmherzig und freundlich, manchmal als zu sorglos, aber immer schien er fröhlich und überschwänglich zu sein, und manchmal auch besitzergreifend, auf jeden Fall aber galt er als Persönlichkeit. In der Schule war er immer der, der am lautesten schrie oder vorneweg rannte.
„Er schien bei allen Kindern sehr beliebt zu sein, sowohl in der Schule als auch daheim“, erinnerte sich sein Vater bei einem Interview mit dem englischen Fernsehen.
Zwei Jahre besuchte er das Western-Road-Gymnasium, wechselte dann mit 13 an die Central Technical School und entdeckte zunehmend seine Leidenschaft für Rhythmus und Harmonien. 1956, als knapp Zwölfjähriger, gründete er schließlich seine erste Skiffle-Band namens „The Headlanders“. Sein Bruder Vic am Waschbrett, zwei Gitarristen und Banjo-Spieler sowie Joe. Seitdem war er wie besessen davon, Musiker zu werden. Zu Hause spielten er und seine Freunde im Wohnzimmer, da sie keinen Proberaum hatten und in dem kleinen Haus auch sonst kein Platz war, wo sie unbehelligt üben konnten. Seine Mutter erfreute sich an der Musik. Sein Vater ging derweil in den Garten.
Dem deutschen SPIEGEL antwortete Joe 1997 auf die Frage: „Wann haben Sie eigentlich zum ersten Mal bemerkt, dass Sie eine ganz besondere Stimme haben?“ mit der Bemerkung: „Daran erinnere ich mich noch genau. Ich war zwölf Jahre alt, saß in der Küche, und im Radio lief ein Lied von Lonnie Donnegan, dem König des Skiffles. Pure Energie. Ich war so außer mir, dass ich mich auf den Boden warf und laut mitgrölte. Junge, Junge, Adrenalin pur, das erste Mal in meinem Leben. Danach fing ich an, Platten zu kaufen, und ich konnte jede davon mitsingen. Eines Tages fragte mich dann mein großer Bruder, der eine Skiffle-Band hatte, mit Waschbrett und so, ob ich Lust hätte zu singen.“
Joes Vater war weniger begeistert: „Er mochte meinen Gesang nicht, obwohl, der war harmlos gegen mein Schlagzeug-Getrommel. Ich hatte eins, das nicht besonders gut war, aber sehr, sehr laut. Wenn ich übte, lief mein Vater Amok. Er sagte: ‚Rock’n’Roll, was soll das? Lern was Anständiges, mein Junge.‘ Tagsüber, wenn mein Vater nicht zu Hause war, konnte ich treiben, was ich wollte, meine Mutter war nämlich begeistert.“
Ganz so unwillig war Joes Vater dann aber doch nicht. Er schenkte seinem Sohn ein kleines Aufnahmegerät, mit dem er seine Skiffle-Songs aufzeichnen konnte. Denn Joe versuchte damals alles, was mit der da aufkommenden „neuen“ Musik zu tun hatte, zu sammeln und zu archivieren. Und er war stolz darauf, Künstler wie Buddy Holly und Jerry Lee Lewis live gesehen zu haben: „Buddy hat mich wirklich umgehauen!“
Doch irgendwann hörte er nur noch die Musik eines schwarzen Pianisten namens Ray Charles. Joe war völlig hin und weg von ihm und seiner Art zu singen. „Ich habe halt immer Ray Charles geliebt. Und Stevie Wonder. Und die haben sich auch immer so abgefahren bewegt. Natürlich lag das wohl auch an ihrem Blindsein. Zum Teil liegt es an meiner Frustration, selbst nicht Gitarre oder Klavier spielen zu können, dass mich diese Bewegungen durchlaufen konnten. Daher nutzte ich diese Bewegung, um meine Band anzufeuern, dass die Leute die Energie mitbekommen. Ich benutzte meinen Körper, um mich auszudrücken. Doch später ließ ich das, denn die Presse wurde darauf aufmerksam und fragte, ob ich vielleicht ‚spastisch‘ wäre. Was ich nicht als besonders freundliche Bemerkung empfunden habe“, kommentierte Joe seine Liebe zu Ray Charles und den Umgang mit seiner zeitweise als befremdlich empfundenen Bühnenperformance.
Niemand beeinflusste Joe mehr als dieser „eine Mischung aus Sex und Erlösung, aus Heiligem und Weltlichem, dem Jubel der Gospelsongs und der Bodenständigkeit des Blues“ fabrizierende Ray Charles, wie Arnold Shaw Rays Verbindung von Soul mit Blues und Big-Band-Begleitung oder dessen Performance alleine am Klavier einmal beschrieb. Er war so von Ray begeistert, dass er sogar seine Schulhefte mit Bildern von ihm vollmalte. Joe Cocker malte viele Bilder von Rockstars, aber von Ray malte er am meisten. „Er malte ein Ölporträt von Ray Charles“, erinnert sich Harold Cocker. „Er malte es auf eine Faserplatte, Kopf und Schultern … ich weiß nicht, wo es geblieben ist.“ Die Leidenschaft Joes für das Malen, die er in seiner Jugend entdeckt hatte, lag lange brach, aber im Alter habe er sie wiederaufleben lassen, erzählte er kurz vor seinem 70. Geburtstag: „Privat habe ich gerade das Malen für mich entdeckt. Es macht mir unheimlichen Spaß, mit Farben zu arbeiten, seit ich nach einer Augenoperation wieder richtig sehen kann.“
1959 eroberte Ray Charles mit seiner Eigenkomposition „What’d I Say“ die Hitparaden der Welt. „Ich stand eigentlich mehr so auf Rock’n’Roll-Platten, aber dann war da auf einmal diese magische Stimme, die aus meinem Transistorradio kam. Seine Stimme hatte es mir angetan. Ich raste los und kaufte mir die Scheibe, und auch Songs wie ‚I’m Moving On‘ und auch ‚I Believe To My Soul‘ machten mir klar, dass Ray Charles ‚es‘ hatte, und dass das, was er machte, nicht nur ‚smash‘ und ‚bang‘ war, sondern dass zum Rock’n’Roll ein wenig mehr gehörte.“ Der LOS ANGELES TIMES versuchte er seine Faszination einmal so zu erklären: „Wenn man das lange genug tut, dann erreichst du einen Punkt, wo du es plötzlich im Hinterkopf hast, wo der Einfluss ein Teil von dir selber wird und du anfängst, in einer ganz bestimmten Art zu singen, ohne besonders darüber nachzudenken. Wenn ich heute singe, dann kommt es so raus, wie es kommt, ohne dabei bewusst wie Ray Charles klingen zu wollen.“
1959 könnte man dementsprechend als Geburtsjahr desjenigen Künstlers bezeichnen, der später als Joe Cocker eine Weltkarriere machen sollte …
Joes erste Band „The Cavalliers“ (1960) / Joe verlässt die Schule und beginnt eine Lehre als Klempner (1960) / „Vance Arnold & The Avengers“ (1961)