Joe Cocker - Die Biografie. Christof Graf
obwohl er nach steilem Bergaufstieg tief fiel, lange liegen blieb, oft dabei noch getreten wurde, und irgendwann doch wieder zu sich kam und bedacht die Dinge anging, sich schonte und ohne Groll und Hass jenen gegenüber, die ihn traten, wie ein Phönix aus der Asche in die Lüfte stieg und von da an nie wieder zurückschaute.
„Musik gehört zu den merkwürdigsten Phänomenen, die die Menschen jemals hervorgebracht haben“, sinnierte Cocker schon in den 70ern bei Gesprächen während der „Mad Dogs & Englishmen“-Tournee. „Essen, Trinken und Schlafen erfüllt einen evolutionären Nutzen, niemand aber braucht Musik und deren Klänge, Töne und Melodien. Und dennoch haben wir Hunger nach ihnen, bewegen wir uns nach ihnen, machen unsere Stimmungen davon abhängig und können uns kein Leben ohne sie vorstellen.“
Wenn man von der sogenannten zeitgenössischen Musik ausgeht, deren Vertreter Joe Cocker war, ging es bei seinen präferierten Musikstilen um die des Rock & Pop, genauer, vor allem um die des Blues und Souls. Viele Rockbands der 60er-Jahre, besonders in Großbritannien, nahmen den amerikanischen Blues als Basis für ihre Musik und reimportierten ihn während der sogenannten „British Invasion“ zurück in die USA. Auch dort wurde er wieder von zumeist weißen Rockmusikern aufgegriffen. Populäre Musiker und Bands wie The Doors, Led Zeppelin, Jimi Hendrix, Eric Clapton, Alvin Lee, Peter Green, The Rolling Stones und Rory Gallagher waren sowohl vom akustischen als auch vom elektrischen Blues beeinflusst und leiteten davon ihren eigenen Stil ab, den Bluesrock. Joe Cocker bedauerte immer, kein Instrument zu spielen, nicht gerne Songs zu schreiben, die Tonleiter nicht zu beherrschen … „Ich brauche eine Komposition eigentlich nur einmal zu singen, und schon fühle ich, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Aber in welcher Tonart sie liegt, weiß ich nicht. Für mich ist ein Song ein Medium, beim Singen vollziehe ich eine mentale Transformation. Aber eigentlich kann man das einem Außenstehenden gar nicht erklären.“ Und: „Viele halten mich bloß für einen Bluessänger. Ich bin ein sehr natürlicher Sänger, alles, was aus mir herauskommt, passiert spontan. Ich kann keine Noten lesen, und auch mit der Tonleiter habe ich mich eigentlich nie beschäftigt. Anfangs sang ich meine Songs ein oder zwei Tonlagen tiefer, ich wusste ja gar nicht, dass ich auch höher kommen konnte. Ich bin mein Leben lang ohne Lehrer ausgekommen. Manchmal stößt man aber auch an seine Grenzen. Als ich vor ein paar Jahren in London mit Eric Clapton auf der Bühne stand, fragte der Meister mich, in welcher Tonart der Song sei, den wir als Nächstes spielen wollten. Da musste ich leider passen.“
Diese Art von Antwort passte zu Joe Cocker. Ob in den 80ern, in den 90ern oder in den 2000ern, Cocker war in seinen Gesprächen stets offen und ehrlich gewesen. Meist sogar zu ehrlich und offen, und noch häufiger auch geradezu ungeschickt. Besonders in den 70ern und 80ern wurde er in Interviews gerne über Alkoholexzesse und Drogeneskapaden ausgefragt, die ihn wie einen naiven Menschen erscheinen ließen. Naiv war er aber nicht, eher gutmütig und gutgläubig. Letzteres wohl gerade zu Beginn seiner Karriere viel zu sehr. Mit zunehmender Erfahrung veränderte sich dann aber auch sein Gesprächsverhalten, manchmal sogar bis hin zur „Gesprächsunwilligkeit“. Cocker hatte gelernt, mit den Medien professionell umzugehen, ließ sich nicht mehr aushorchen und verwehrte auch schon mal Interview-Anfragen wie etwa beim St. Wendeler Open Air 1989. War es in den 90er-Jahren noch häufig möglich gewesen, kurzfristig und spontan Interviews oder Kurzgespräche während Konzertreisen oder bei Verleihungen von Awards zu erhalten, war es ab den 2000ern zunehmend schwieriger geworden. Die Auflagenhöhe entschied über die Gesprächsvermittlung. Massenmedien und Medienmultiplikatoren hatten Vorrang gegenüber Einzelinterviews unbedeutenderer Gesprächspartner. Roundtables wie etwa am 18. Oktober 1991 im Kölner Hyatt, bei dem Joe Cocker mehreren Journalisten, darunter auch Eric Rauch von „promoteam.de“, gleichzeitig im Rahmen kleiner Tischgespräche Rede und Antwort stand, waren gern geführte Interview-Arten. Pressekonferenzen wie etwa im Frühjahr 1996 in Berlin für die „Beck’s – Sail Away-Tournee“ oder 2004 wegen seiner Teilnahme an der „Nokia Nights of the Proms“-Tour ergänzten die Skala der Möglichkeiten für den Erhalt von O-Tönen Cockers.
Doch egal, unter welchen Umständen ich mit Joe Cocker sprechen konnte, zumindest ab den 90ern ergab sich für mich das Bild eines – endlich – bei sich angekommenen Mannes, der mit sich und seinem Leben im Reinen war. Manchmal wirkte er noch immer gehetzt, manchmal wortkarg, manchmal redselig, aber stets höflich. Sätze wie: „Den Blues nenne ich einen Schrei nach Identität. Es ist meine einzige Gnade, meine Rettung, dass ich ihn singen kann. Den wahren Blues werden die Menschen nie satt haben. Vielleicht liegt aber auch die ganz große Zeit für den Blues erst noch vor uns“, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Sätze wie diese, selbst wenn sie sich über die Jahre wiederholen und sich auch in Interviews mit Kollegen wiederfinden, machen diese Gespräche wertvoll. „Was mich stets faszinierte, war die Kraft seiner Klänge“, sagte Joe Cocker über den Blues, und mich wiederum faszinierte der Klang seiner Stimme, als er dergestalt über den Blues philosophierte.
Sein gesprochenes Wort war der Spiegel seines gesungenen Wortes. Was immer bleibt und was seine Wirkung ausmacht, ist Joe Cockers Stimme. Immer wieder drehte sich alles nicht um seine Performance, nicht um seine Songwriter-Qualitäten, sondern immer nur um seine Stimme, die es über ein halbes Jahrhundert geschafft hat, Menschen in ihren Bann zu ziehen, ihnen den Atem zu rauben und sie emotional abzuholen.
Cocker wirkte. Cockers Bestreben nach Vielfalt und nach Entwicklung erklärte seine fortwährende Relevanz für jede nachwachsende Generation von Musikliebhabern. Joe Cocker war eben einer der ganz großen Sänger unserer Zeit. Seine Stimme war pure Naturgewalt, kraftvoll, expressiv und mit Sicherheit die eigenwilligste im weiten Rund der populären Musik. Ob Balladen, Soul-Stomper, Blues-Urgesteine oder geradlinig strukturierte Popsongs, seine Gabe, Lieder anderer Interpreten in neue Dimensionen zu bringen, machte ihn zur dauerhaft strahlenden Lichtgestalt im niemals endenden Rockzirkus.
Aber Cockers Musik lässt sich nicht wirklich definieren oder etikettieren. Cockers Musik ist eher ein Konglomerat von Klängen, die sich mit nichts, was andere Künstler in diesen Genres tun, vergleichen lässt. „Es gibt einen Grund dafür, dass die Leute die Songs hören wollen, für die man bekannt ist. Sobald die ersten Akkorde von einem Song wie ‚You Can Leave Your Hat On‘ erklingen, wird den Leuten irgendwie anders. Es fasziniert mich, auf der Bühne zu stehen und das zu beobachten. Frieden und Liebe gehen dabei Hand in Hand mit Musik, das war immer meine Philosophie. Musik hat eine heilende Kraft. Die Leute kommen zu mir und bedanken sich für Lieder, die ihnen durch schwere Zeiten geholfen haben. Als ich die Songs aufnahm, hatte ich das nicht im Sinn. Von Musik und ihrer Wirkung geht immer etwas Geheimnisvolles aus. Vielleicht verstehen wir sie erst, wenn wir in sie eintauchen und begreifen, wie sie entsteht, und lernen, wozu sie im Stande ist.“
Nichts ist wirkmächtiger als Musik, das spürte man nicht nur ab der ersten Minute eines Joe-Cocker-Konzerts. Es dauerte keinen Song, ohne dass Cocker nicht bereits wie ein Schwerstarbeiter schwitzte. Zu Beginn der 80er, als sein Körper begann, ein wenig fülliger zu werden, waren spätestens nach drei Songs sein T-Shirt und Haar schweißdurchtränkt. Und sein Publikum? Es wartete geradezu sehnsüchtig darauf, dabei zuzusehen, wie sich Cocker durch diese Klangwelten schuftete, um seinen Fans einen Weg durch seine musikalische Welt zu ebnen. So war es früher, und so war es später. Nach dem ersten Song zog Cocker, mittlerweile altersbedingt noch etwas fülliger geworden, sein Sakko aus, als würde er sich langsam so richtig an die Arbeit machen. Ab dem ersten Ton begann er das Publikum in den Bann zu ziehen. „Er verzerrt und verzieht sein Gesicht in wilden Grimassen vor Anstrengung über dem Hin und Her seiner spastischen Bewegungen und amotorischen Schritte. Er rudert mit den Armen, steht wie im Sturz, reißt winzige Fingerbewegungen und Gesten an wie Streichhölzer, reißt sich an den Haaren, reißt die Augen weit auf, als würde er gerade aus einem fürchterlichen Schlaf in fremder Landschaft aufwachen: ein Diktator der Gefühle in einem Irrgarten unerlöster Leidenschaften“, schrieb darüber der KÖLNER STADTANZEIGER und beschrieb seinen Eindruck weiter mit den Worten: „… Ein Gequälter, wie ihn Hieronymus Bosch gemalt haben könnte: mit herausgestülpter Zunge zwischen den unregelmäßigen Zähnen und einer Stimme, die ihm auch aus den Augen herauszutreten scheint. Er sieht nicht gut aus, und keine seiner Bewegungen ist elegant. Alles an ihm dient nur der spannungsvollen Verletzlichkeit der Schönheit seiner Lieder. Er singt nicht mehr, er lässt sich singen, wird gesungen von einem Gesang aus der Vorzeit der Sprache, bevor sie in ihrer jetzigen Form erkaltete.