Dave Gahan. Trevor Baker
Er kaufte sich ein paar Dosen Bier und stand draußen. Immer wieder murmelte er vor sich hin: „Ich will es nicht machen, ich will es nicht machen.“
Sobald sie die Bühne betraten, verschwand seine Nervosität jedoch. Es war kein besonders schwieriges Publikum. Die meisten der Zuschauer waren Freunde, abgesehen von denjenigen, die Vince verprügeln wollten. Trotzdem ernteten sie begeisterten Applaus. Martin gelang es sogar einigermaßen, von einer Band zur nächsten zu wechseln, indem er sich in der Konzertpause umzog und ganz anders zurechtmachte.
Als sie ihre ersten richtigen, bezahlten Auftritte in Southend hatten, zuerst im Scamps und dann im Pub Alexandra, waren sie alle schon viel selbstsicherer. Das Alexandra war eine Biker-Kneipe, in der unter dem Titel „The Top Alex“ regelmäßig im kleinen Rahmen Konzerte stattfanden, meist Blues und Rock. Doch zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihnen, das Publikum für sich zu gewinnen. Danach entfalteten Daves Verbindungen in Southend ihre Wirkung, und die Engagements in der Stadt und der Region nahmen rasch zu.
Am 16. August 1980 hatten sie ihren ersten Auftritt in einem Club, der für ihren frühen Erfolg eine Schlüsselfunktion haben sollte: Croc’s Glamour Club in Raleigh, in der Nähe von Southend. Diesen und ähnliche Clubs bezeichnete man später als „Blitz in der Pampa“, weil sie dem legendären New-Romantics-Schuppen The Blitz im Londoner Stadtteil Covent Garden ähnelten. Damals war der Begriff New Romantics noch nicht besonders weit verbreitet, aber die Gäste des Croc’s waren aufgetakelt, stark geschminkt und fuhren auf Popmusik mit Synthesizern ab. David Bowie, Roxy Music und Kraftwerk waren sehr beliebt, ebenso Visage, die Band der Blitz-Gründer Steve Strange und Rusty Egan. Das Croc’s hatte zudem eine weitere bizarre Hauptattraktion: zwei lebendige Alligatoren in einem Glaskasten am Eingang.
Am 24. September 1980 gelang Composition Of Sound mit einem Auftritt im Bridge House ein weiterer Schritt nach vorn. Über die Jahre hatten in dem Londoner Vorort-Club alle möglichen Bands gespielt, von Heavy-Metal- und Hard-Rock-Gruppen der ersten Stunde bis zu Vertretern des Mod-Revivals. 1980 war er indes eher als Spielstätte für so genannte „Oi“-Bands bekannt. Oi war ein Punk-Ableger, dessen sich der Sounds-Journalist Gary Bushell angenommen hatte. Die Anhänger dieses Stils waren das genaue Gegenteil der Blitz Kids. Oft waren es Skinheads, die schwere Stiefel trugen und Synthie-Bands als Lackaffen verspotteten. Es war also kaum überraschend, dass die ersten Auftritte von Composition Of Sound dort nicht immer gut besucht waren. „Anfangs wussten wir nicht, wie wir sie einordnen sollten“, sagte der Veranstalter des Bridge House, Terry Murphy. „Es war etwas völlig Anderes. Sie waren ziemlich mutig, in einem Club wie dem Bridge House aufzutreten.“
Ohne die Unterstützung ihrer treuen Fans aus der Southend-Szene hatten sie schon Glück, wenn das halbe Dutzend Freunde, das ihnen nachreiste, zum Konzert kam. Daves Freundin Joanne lebte in der Gegend, also überredete auch sie ein paar ihrer Freundinnen, vorbeizukommen, doch der Laden war alles andere als voll. Terry erinnert sich daran, dass sie am Abend ihres ersten Auftritts wie versteinert wirkten. Die normale Klientel war eine Mischung aus Skinheads, Hippies und Schwarzkitteln, und verglichen mit ihnen erschienen die Jungs aus Essex extrem uncool.
„Sie kamen herein wie vier Büroangestellte, die gerade ihren ersten Job angefangen hatten“, sagt Terry. „Sie waren sehr schüchtern. Dave hatte immer entsetzliches Lampenfieber. Man sah es ihm an. Der Rest der Band hatte ja wenigstens etwas zu tun, aber Dave stand nur da, richtete seinen Blick starr nach vorn und klammerte sich ans Mikrofon.“
Von einigen Skinheads im Publikum gab es Buhrufe, doch Terry mochte die Band, sodass er ihr eine zweite Chance gab. Die Überreste der Punkszene, die immer noch bei ihm herumhingen, langweilten ihn. Es lag zweifellos eine Veränderung in der Luft, und er überlegte sogar, ob er die Gruppe nicht für sein eigenes Label Bridge House Records unter Vertrag nehmen sollte. Es war allerdings klar, dass es ein paar Dinge gab, an denen sie noch arbeiten mussten. Terry legte Dave nahe, seine Bühnenpräsenz zu verbessern und etwas mit seinen Händen zu tun, anstatt ängstlich das Mikrofon zu umklammern. Nach und nach gewannen sie jedoch mehr Selbstvertrauen.
„Sie mussten verdammt hart arbeiten, weil sie keine Gäste zogen“, sagt Terry. Russel Lee hingegen, ein früher Fan und späterer DJ im Croc’s, sagte gegenüber dem Autor, dass sie bereits damals etwas Besonderes gewesen seien. „Meine erste Erinnerung an sie ist, dass ich dachte, wie phantastisch die Songs doch seien“, sagt er. „Total eingängig. Verdammt, ich weiß noch, dass ich dachte: Kann es denn sein, dass es diese Jungs da nicht schaffen? Sie müssen es einfach schaffen!“
Auf ihre Art und Weise hatten Composition Of Sound mehr mit Punk Rock und Underground zu tun als viele der kommerziell orientierten Punkbands des Jahres 1980. Ihre Synthesizer ließen sich viel leichter transportieren als die Tonnen von Gerät, die eine traditionelle Rock-Gruppe mit sich herumschleppte, sodass sie zu Auftritten häufig in einem einzigen Auto oder mit dem Zug fuhren.
„Ohne es zu wissen, machten wir auf einmal etwas vollkommen anderes“, erinnerte sich Dave später einmal. „Wir hatten diese Instrumente gewählt, weil sie sehr bequem waren. Man nahm seinen Synthesizer, klemmte ihn sich unter den Arm und ging zu einem Auftritt. Dort schloss man ihn direkt ans Mischpult an. Man brauchte keinen extra Verstärker, also brauchten wir auch keinen Kleinbus.“
Außerdem schrieb Vince nun immer bessere Songs, doch der Rest der Band war bisweilen frustriert von seinem schwankenden Selbstvertrauen. Er spielte ihnen Demos vor, die ihnen sehr gefielen, entschied dann aber plötzlich, dass er sie eigentlich doch nicht aufnehmen wollte. Einige dieser Songs spielten sie sogar im Bridge House, und viele davon waren Lieblingstitel der Fans – etwa das leicht punkige „Television Set“, mit dem sie damals ihre Konzerte eröffneten („Television Set“ und andere verlorene Songs von Depeche Mode, darunter „Reason Man“, „Let’s Get Together“ und „Tomorrow’s Dance“, sind auf einem Bootleg eines Konzerts im Bridge House erschienen).
Nach und nach bauten Composition of Sound eine solide Fanbasis auf, wenngleich sie immer noch Schwierigkeiten hatten, Auftritte in der Londoner Innenstadt zu bekommen. Dafür spielten sie im Croc’s und im Bridge House vor einem stetig wachsenden, begeisterten Publikum. Dies schlug sich auch in der Höhe der Gage nieder, die man ihnen zahlte.
„Für ihr erstes Konzert zahlte ich ihnen fünfzehn Pfund“, sagt Terry. „Dann stockte ich auf zwanzig auf. Als sie anfingen, Leute zu ziehen, gab ich ihnen siebzig Prozent vom Eintritt. Dann begannen wir, den Eintrittspreis auf dreißig oder vierzig Pence zu erhöhen. Sie verdienten also zwischen sechzig und achtzig Pfund pro Abend.“
Sie waren bemerkenswert anders als die meisten Bands, die man damals auf der Bühne sah. Viele der Punk- und Mod-Gruppen pflegten einen Rock’n’Roll-Lebensstil, tranken nach Konzerten gemeinsam bis morgens früh um vier und schliefen dann ihren Rausch aus. Die Attitüde von Composition Of Sound war eine ganz andere. „Sie blieben nie länger hier, um noch etwas zu trinken“, sagt Terry. „Sie torkelten nicht besoffen im Bridge herum. Ein paar von ihnen hatten feste Jobs, also mussten sie am nächsten Morgen wieder zur Arbeit. Bei vielen anderen Bands schimpfte man nach dem Konzert: ‚Scheiß Band, macht jetzt endlich, dass ihr rauskommt!‘ Bei ihnen dauerte es hingegen zwanzig Minuten, maximal eine halbe Stunde, dann waren sie weg.“
Ihre Hartnäckigkeit und Professionalität wurde schließlich mit einem Auftritt im Ronnie Scott’s belohnt, einem berühmten Londoner Jazzclub. Es sollte ein bedeutender Meilenstein in ihrer Karriere werden, und sie traten zum ersten Mal unter einem neuen Namen auf — Depeche Mode. Der neue Gruppenname war ein Vorschlag von Dave gewesen. In seiner College-Zeit war ihm einmal eine französische Modezeitschrift mit diesem Titel in die Finger gekommen. Er klang cool, wenngleich er nicht ganz genau wusste, was er bedeutete. Es war jedoch immer noch besser als Composition Of Sound und viel, viel besser als die anderen Vorschläge für einen neuen Bandnamen wie Peter Bonetti’s Boots, The Lemon Peels, The Runny Smiles und The Glow Worms.
Mit ihrer Karriere schien es zwar steil bergauf zu gehen, doch Depeche Mode mühten sich immer noch ab, Konzerte im Herzen von London zu bekommen. Es half auch nicht viel, dass sie ständig in Clubs und Konzertschuppen rannten, um den Betreibern ein von ihnen aufgenommenes Demoband mit drei Stücken vorzuspielen – zwei Instrumentalnummern und einen von Vince’ besten Songs, „Photographic“.
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