Dave Gahan. Trevor Baker
fehlte und nach Konzerten morgens erschöpft zur Arbeit kam, war ein großes Risiko.
Das erste Anzeichen dafür, dass es Depeche Mode schaffen könnten, kam von John Peel, der „Photographic“ in seiner Radiosendung spielte. In kommerzieller Hinsicht bedeutete das noch nicht viel, aber die Unterstützung durch den einflussreichen DJ hatte großes Gewicht bei der Kritik. Im Februar 1981, am Valentinstag, hatten Depeche Mode ihren bis dato prestigeträchtigsten Auftritt. Sie spielten als Vorgruppe von Ultravox im Londoner Rainbow Theatre. Der Abend war von Rusty Egan organisiert worden, der ihnen 50 Pfund für den Gig zahlte. Außer ihnen trat noch eine weitere Synth-Band namens Metro auf. Es war ihr erstes Konzert vor großem Publikum in London, und es gelang ihnen, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Der Erfolg von „Dreaming Of Me“ im Jahre 1981 trug ebenfalls dazu bei, dass sie ihre Zweifel bald vollends abschütteln konnten. Die Veröffentlichung erfreute sich recht ordentlicher Kritiken, obwohl die meisten DJs darin nur eine weitere coole, exzentrische Mute-Single sahen. Dann aber begann überraschenderweise Peter Powell von Radio One – nicht unbedingt ein Trendsetter unter den DJs – die Single zu spielen. Ende März stieg „Dreaming Of Me“ auf Platz 57 in die britischen Charts ein. Der Titel schaffte es zwar nicht in die alles entscheidenden Top 40, wurde aber Nummer eins in den Independent-Charts und schließlich die bestverkaufte Indie-Single des Jahres. Interessanterweise klingt die exzellente B-Seite viel mehr nach den späteren Depeche Mode als die berühmtere A-Seite.
Sie hat einen dunkleren, kraftvolleren Sound – eine Eigenschaft, die bewirkte, dass der Song bis 1984 fester Bestandteil des Live-Programms blieb. Das poppige „Dreaming Of Me“ war der Anfang vom Ende ihrer Reputation als coole Außenseiter. Zwischen den Bands der entstehenden Indie-Szene und Pop-Gruppen wie Depeche Mode hatte sich bereits eine stetig wachsende Kluft aufgetan.
„Es gab eine Nord-Süd-Trennlinie zwischen uns und den Leuten aus Manchester, der Regenmantel-Brigade, wie wir sie nannten“, sagt Rusty Egan. „Das waren energische, von sich selbst überzeugte junge Leute, die Dostojewski und Sartre lasen. Pop-Platten mit Synthesizermusik zu machen, betrachtete man dort wahrscheinlich als Ausverkauf. Dann kamen New Order mit ihrem Drumcomputer daher und hatten größeren Erfolg als alle anderen zusammen.“
Die Kluft zwischen Indie und Pop war vielleicht nicht ganz so groß, wie ständig behauptet wurde. Martin Gore begann zumindest später, ebenfalls Bücher von Hermann Hesse, Camus, Kafka und Brecht zu lesen. Für Publikum und Kritik sah es jedoch so aus, als hätten Depeche Mode unumkehrbar einen Weg in Richtung Mainstream-Pop eingeschlagen. Freilich kümmerte sie das wenig. „Dreaming Of Me“ war fast ein Hit, und sogar außerhalb Großbritanniens begann sich nun die Musikindustrie für die Gruppe zu interessieren.
Im April 1981 war der mächtige amerikanische Musikmanager Seymour Stein im Land. Er hatte bereits in der Vergangenheit mit Daniel Miller zusammengearbeitet und nahm sich stets die Zeit, sich im Rough-Trade-Laden ein Bild des aktuellen Stands der Indie-Szene zu verschaffen. Daniel schlug ihm vor, ein Konzert von Depeche Mode zu besuchen. So landete der Mann, der später die Talking Heads, die Pretenders und schließlich sogar Madonna entdeckte, an jenem Abend im Club Raquel’s in Basildon. Nach dem Auftritt wollte er die Band im Backstage-Bereich kennen lernen, doch der Laden war so klein, dass es dort keinen richtigen Backstage-Bereich gab. Also unterhielten sie sich im Treppenhaus. Stein war stark beeindruckt. Er machte ihnen an Ort und Stelle zwar kein Angebot, sagte jedoch, sie würden in Verbindung bleiben.
Trotz ihres wachsenden Erfolges hatte Dave niemals vorgehabt, seinen bürgerlichen Beruf an den Nagel zu hängen. Nach einem Vorfall 1981 überlegte er es sich jedoch anders. Er arbeitete gerade bei John Lewis im Schaufenster, als jemand an die Scheibe klopfte und fragte: „Bist du nicht bei Depeche Mode?“ Das hätte ihm eigentlich schmeicheln sollen, doch stattdessen kam er sich eher ein bisschen lächerlich vor und kündigte noch am selben Nachmittag.
Ihre zweite Single „New Life“, die abermals im Blackwing Studio aufgenommen wurde, rechtfertigte zweifellos diese Entscheidung. Sie war ultra-clean und poppig, mit einem Refrain, der wesentlich eingängiger war als alles, was ihre Kollegen auf dem Some Bizzare -Sampler bislang zu Wege gebracht hatten. Es war wenig verwunderlich, dass ihnen mit diesem Song der Sprung aus dem Art-Pop-Ghetto ins Tagesprogramm im Radio gelang. „New Life“ erreichte Platz elf in den Charts und verkaufte sich weit über 200 000 Mal. Es brachte der Band auch den Heiligen Gral für alle Pop-Gruppen der Achtziger ein – einen Auftritt in Top Of The Pops. Depeche Mode waren „angekommen“.
Der Tag, an dem die berühmte Fernsehsendung aufgezeichnet werden sollte, gestaltete sich indes ganz anders, als die junge Band es erwartet hatte. Sie hatten von Mute keinerlei Vorschuss bekommen, also mussten sie von Basildon aus mit dem Zug nach London fahren und dann die U-Bahn quer durch die Stadt nehmen. Martin und Andy übten ihre bürgerlichen Berufe noch aus und wirkten nicht gerade wie Popstars. Sie trugen Hemd und Krawatte und sahen von Kopf bis Fuß aus wie Angestellte an ihrem freien Tag. Als sie in den BBC-Studios eintrafen, gelang es ihnen nur mit einiger Mühe, die Portiere davon zu überzeugen, dass sie einen Termin hatten. Vom Moderator Peter Powell als „Depesch-ey Mode“ angekündigt (sie bestanden auf dieser Aussprache), absolvierten sie ihren Dreh trotzdem mit gewaltigem Enthusiasmus. Außerdem hatte ein Brotberuf zumindest eine gute Seite, die Dave nun entging – als Andy am nächsten Tag zur Arbeit kam, empfingen ihn seine Kollegen mit stehenden Ovationen.
Die Band wurde immer bekannter, und selbst Daves ängstliche Mutter musste zugeben, dass es nun so schien, als hätte er das Richtige getan. Die Vorstellung eines vaterlos aufgewachsenen Kindes, das in Musik und Auftritten vergeblich nach Zuneigung sucht, ist freilich ein Klischee, doch auf Dave Gahan trifft es wenigstens ein Stück weit zu. Als er älter wurde, akzeptierte er, dass der Wunsch nach Anerkennung eine der treibenden Kräfte seiner Persönlichkeit war. Er war sich trotzdem nie ganz sicher, ob alles anders gekommen wäre, wenn sein Vater bei ihnen gewesen wäre. Seine Mutter achtete stets darauf, dass all ihre Kinder in einem stabilen Umfeld heranwuchsen, sodass seine Entwicklung nicht gestört war. Nach den ersten Erfolgen mit Depeche Mode erwachte sein Interesse an Len von neuem. Also fragte er Sylvia, ob sie irgendwelche Fotos hatte. Sie zeigte ihm eines, auf dem er in einem Pub zu sehen war. Als Dave die Ähnlichkeit erkannte, sagte er trocken: „Ja, das ist wohl ganz offensichtlich mein Alter.“
Durch ihren Auftritt in Top Of The Pops betrachtete man Depeche Mode nun im gesamten Familien- und Freundeskreis als Erfolgsunternehmen. Mitte der Achtziger war es fast so, als existierten Bands gar nicht, bevor sie in der Sendung auftraten. Die Band selbst wusste aber, dass sie noch einen weiten Weg vor sich hatte. Noch in derselben Woche gingen sie wieder in das Blackwing Studio und verbrachten dort zusammen mit Daniel Miller sechs Wochen, um ihr Debütalbum zu produzieren. Das Resultat unterschied sich deutlich von allem, was sie im weiteren Verlauf ihrer Karriere abliefern sollten. Sie hatten die Songs bereits fertig und spielten sie seit anderthalb Jahren live. Sie mussten also nur noch ins Studio gehen, die Kopfhörer aufsetzen und sie spielen, wie sie es auf der Bühne schon so oft getan hatten.
Das Ergebnis war eine seltsame Mixtur aus Avantgarde-Einflüssen und Pop-Melodien. Bis auf zwei Songs stammten alle von Vince Clarke, der einen ausgesprochen ungewöhnlichen Geschmack hatte. Er liebte saubere, helle Klänge und hasste alles, was übermäßig dunkel oder prätentiös war. Sein Material klang sehr zuckrig und schwül, doch Daves jungenhafter Gesang mit dem typischen Essex-Einschlag bildete bei Songs wie „New Life“ einen guten Gegenpol zu den leichten Melodien.
Sie beschlossen, die Platte Speak And Spell zu nennen, nach einem ungeheuer beliebten Lernspiel der späten Siebziger und frühen Achtziger. Es war ein Titel, der das Album fest in der Zeit seines Entstehens verankerte.
Die Synthesizer, die sie einsetzten, waren dem Spielzeug technisch kaum überlegen, und doch gelang es der Band, ihnen ein paar außergewöhnliche Sounds zu entlocken. Später taten sie Speak And Spell häufig als Beginn einer langen Lernkurve ab, und doch kann man das Album über weite Strecken auch heute noch recht gut hören. Die technischen Beschränkungen verleihen ihm sogar einen gewissen naiven Charme. Zugegeben: Die Platte hat auch ihre Schwächen. Die pseudo-schwulen Hymnen „Boys Say No!“ und „What’s Your Name?“ klangen bemüht und unausgegoren. Niemand in der Band war wirklich schwul, doch für Vince schien das augenzwinkernde Liebäugeln