Dave Gahan. Trevor Baker
die Ereignisse durcheinander gebracht hatten. Vince war stets ein wenig introvertiert gewesen. Obwohl sie anfangs gut miteinander ausgekommen waren, bestand nun eine gewisse Distanz zwischen ihnen. Im September 1981 erreichten sie einen neuen Meilenstein in ihrer Karriere – ihre erste Auslandstournee. Der erste Termin war in Hamburg, genau wie zwanzig Jahre zuvor bei einer anderen Teenager-Band, den Beatles. Anschließend standen Amsterdam, Brüssel und Paris im Kalender. Während beinahe der gesamten Dauer der Tournee saß Vince vorn im Bus und sprach kaum ein Wort mit den anderen.
Ironischerweise war die Aufmerksamkeit, die seine Teenie-Pop-Songs erregten, ein Problem für ihn. Er wollte die ganzen Interviews und Fototermine nicht machen müssen. Wenn er komponierte oder im Studio arbeitete, war er am glücklichsten. Ebenso wenig mochte er die Demokratie, die typischerweise innerhalb einer Band herrscht. Viele Jahre später gestand er gegenüber der Times in einem Interview über sein späteres Vehikel Yazoo: „Die Kommunikation in einer zwischenmenschlichen Beziehung lag mir nie besonders. Im Studio fühlte ich mich sicher, aber eine Unterhaltung mit jemandem zu beginnen …“
Er konnte es nicht ausstehen, wenn die übrigen Bandmitglieder seine Songs infrage stellten. Zum Beispiel hatten sie immer an seinen Texten herumkritisiert. Dave, der sie schließlich singen musste, empfand sie bisweilen als Zumutung. Besonders schlechte Erinnerungen verknüpft er mit „New Life“.
„Ich erinnere mich, wie ich eines Abends durch Basildon ging und auf einmal bemerkte, dass mir zwei Mädchen folgten“, berichtete er 1982 in einem Gespräch mit Mark Ellen. „Ich wusste, dass sie mich erkannt hatten. Dann begannen sie zu singen: ‚I stand still stepping on a shady street‘ (etwa: Ich stehe still, eine schattige Straße betretend). Ich begann, ein bisschen schneller zu gehen, und stellte meinen Kragen auf. Dann sangen sie (stöhnt): ‚And I watch that man to a stranger‘ (Etwa: Und ich beobachte den Mann zu einem Fremden). Und ich dachte: Oh nein, ist das peinlich! Verstehen sie denn diese Texte überhaupt?! Vielleicht tun sie es ja und wir nicht!“
Vince schrieb seine Texte oft passend zu einer bestimmten Melodie, ohne Rücksicht auf den Inhalt und die Grammatik. Es war seine normale Arbeitsweise. Einmal präsentierte er der Band drei neue Songs aus seiner Feder. Als er den Raum verließ, um auf die Toilette zu gehen, steckten die anderen die Köpfe zusammen und sagten: „Die sind scheiße! Die können wir nicht aufnehmen.“ Als er wieder zurückkam, teilten sie ihm diese Entscheidung nur einen Hauch höflicher mit. „Das könnte der Wendepunkt gewesen sein“, sagte Martin Jahre später.
Rückblickend glaubt Terry Murphy, dass Vince eines Abends im Bridge House erwog, einen neuen Weg einzuschlagen. „Als Vince vorbeikam, um den Auftritt von Alison Moyet zu sehen, kam mir der Gedanke, er könnte vielleicht aussteigen. Er kam vorbei, um sich das Konzert mit ihrer Band The Little Roosters anzusehen, und sagte zu mir: ‚Alison stammt aus Basildon, da dachte ich, ich schaue mal vorbei.‘ Damals dachte ich, er wollte Alison als Sängerin für Depeche Mode anwerben. Das sind viel beschäftigte Jungs, und wenn sie es erst einmal geschafft haben, gehen sie nicht einfach so zu einem Konzert. Also dachte ich: Was macht der denn hier? Alison in der Band wäre doch ein Witz gewesen, weil sie so eine tiefe Stimme hat. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.“
Freilich hatte Vince auch keinesfalls die Absicht, Alison Moyet für Depeche Mode zu engagieren. Etwa ein Jahr später wurden die beiden unter dem Namen Yazoo zu einer der erfolgreichsten Gruppen des Landes.
Im Spätsommer 1981 suchte Vince Dave und Fletch zuhause auf und teilte ihnen mit, dass er die Band verlassen werde. Sie waren wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatten drei Singles veröffentlicht, und das Album sollte jeden Moment erscheinen. Sie hatten auf dem Höhepunkt der schlimmsten Rezession seit Jahren alle ihre Jobs hingeworfen – und jetzt das!
Die Erklärung von Vince war einfach. „All das, was der Erfolg mit sich bringt, war plötzlich wichtiger als die Musik geworden“, resümierte er, als die Trennung offiziell war. „Anfangs bekamen wir Fanpost, in der es hieß: ‚Mir gefallen eure Songs sehr.‘ Dann kamen Briefe, in denen gefragt wurde: ‚Wo kauft ihr eure Hosen?‘ Da fragt man sich doch, was kommt als Nächstes?“
Vince versprach zwar, die geplante Tournee noch zu absolvieren und bot an, weiterhin für sie zu schreiben, aber es war ein schwerer Schlag. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht einmal der Vertrag mit Seymour Stein und Sire Records in Amerika unter Dach und Fach. Also verschoben sie die Veröffentlichung von Speak And Spell. „Ehrlich gesagt, war das Ganze meiner Meinung nach eine totale Katastrophe“, sagt Terry Murphy. „Sie hatten ihren Songwriter eingebüßt. Das war ihre Stärke, die Songs. Ich dachte, das wäre nun unwiderruflich das Aus für die Band. Ich konnte es nicht glauben, dass er ausstieg.“ Es war schwer vorstellbar, dass Martin künftig die Aufgaben von Vince übernahm. Sämtliche Bandmitglieder waren ziemlich still und schüchtern, aber er war vermutlich der Unscheinbarste von allen. Fletch fungierte oft als „Manager“, während Dave und Vince eindeutig im Mittelpunkt des Interesses standen.
„Martin war der Stille in der Ecke“, sagt Terry. „Sagte nie ein Wort. Keiner von ihnen sprach viel. Man musste sie erst ansprechen. Das war keine Arroganz, sie waren einfach schüchtern. Schließlich stammten sie aus Basildon und machten nun auf einmal Karriere in der Metropole, in London.“
Trotzdem zogen sie es nie in Betracht, aufzuhören. In jugendlichem Selbstvertrauen dachten sie, sie könnten einfach weitermachen wie bisher – mit Martin als Hauptsongwriter. „Ich glaube, wir hätten uns ein bisschen mehr sorgen müssen, als wir das getan haben“, sagte Martin später. „Wenn dein Hauptsongwriter aussteigt, solltest du dir ein paar Gedanken machen.“
Depeche Mode tourten unbeirrt weiter und gaben im Oktober und November 1981 insgesamt vierzehn Konzerte. Vince’ letzter Auftritt mit der Band fand am 16. November im Lyceum in London statt. Zu diesem Zeitpunkt hätte er zu Recht annehmen können, dass Depeche Mode am Ende waren. Ihr neuer „Songwriter“ Martin war ein extrem schüchterner, zurückhaltender Mensch, und weder Dave noch Fletch waren besonders begabte Musiker. Anfangs herrschte ihm gegenüber daher eine gewisse Feindseligkeit wegen seines plötzlichen Ausstiegs, doch legte sich diese rasch wieder.
„Als Vince ausstieg, überlegten wir einen Augenblick lang, ob wir ihn nicht verhauen sollten, weil wir gerade erst unsere Jobs aufgegeben hatten und so weiter“, sagte Andy 1986. „Doch selbst die Trennung erfolgte auf einer recht freundschaftlichen Basis. Also gingen wir einfach wieder ins Studio und machten weitere Aufnahmen.“
Nach dem Weggang von Vince mussten sie beweisen, dass sie trotzdem noch eine Zukunft hatten, und zwar weniger allen anderen als vielmehr sich selbst. Mit dieser Einstellung nahmen sie noch vor der Veröffentlichung von Speak And Spell den Titel „See You“ auf, den Martin im Alter von 17 Jahren geschrieben hatte. Er war stark von dem Pop der frühen Sechziger geprägt, den seine Mutter so geliebt hatte, und klang wie eine seltsame Mischung aus seinem eigenen Stil und dem Versuch, Vince zu kopieren. Die Version, die später auf ihrem zweiten Album erschien, begann mit einer dunklen, düsteren Melodie, die sich rasch in etwas Sanftes und Süßliches auflöste. Die Single-Version hingegen wollte so rasch wie möglich zum Refrain gelangen. Daran ließ sich ablesen, dass sie sich um ein Überleben ohne Vince’ Melodien mehr Sorgen machten, als sie zugaben.
Die Ergebnisse waren jedoch gut genug, dass sie neue Zuversicht schöpften und übereinkamen, ihn nicht zu ersetzen. Kurzfristig aber mussten sie jemanden finden, der auf der nächsten Tournee seine Keyboardparts übernahm. Zu diesem Zweck setzten sie eine ziemlich plumpe Anzeige in den Melody Maker: „Bekannte Band sucht Synthesizer, muss unter 21 sein.“
Alan Wilder sagte später, er habe erraten, dass es sich dabei wahrscheinlich um Depeche Mode gehandelt habe. Es gab nicht allzu viele „bekannte“ Bands, deren Mitglieder unter 21 waren, die auf ihren Synthesizer-Sound stolz waren und die unlängst ein Mitglied verloren hatten. Er war damals schon 22 und hatte bereits in verschiedenen Bands gespielt, jedoch ohne großen Erfolg. Seine aktuelle Band, The Hitmen, machte keinerlei Fortschritte, also ging er zu dem Vorspielen im Blackwing Studio.
Als er dort eintraf, standen Depeche Mode gerade kurz davor, zu verzweifeln. Daniel Miller nahm die Bewerber unter die Lupe, und das Niveau war nicht besonders hoch. Wie vorherzusehen gewesen war, tauchten zwar allerlei bunte Vögel zu dem Termin auf, aber die musikalischen