Dave Gahan. Trevor Baker
illustrierte, wie weit sie es gebracht hatten. Terry Murphy war begeistert, als er in die Garderobe kam, um ihnen ihren Anteil an den Eintrittsgeldern zu geben. Das Pub hatte damals gerade wirtschaftliche Schwierigkeiten und sollte bald geschlossen werden.
„Es waren bestimmt ein- oder zweitausend Pfund“, sagt er. „Jedenfalls weit über tausend. Sie aber sagten: ‚Nein, nein, behalte es. Lass’ das Pub geöffnet; es war ein tolles Konzert!‘ Das war sehr nett von ihnen, weil sie keinesfalls reich waren. Sie waren immer noch arm wie Kirchenmäuse!“
Der Wandel innerhalb der Band rührte teilweise von einer neuen Sicherheit her, die Alans musikalisches Können ihnen verschaffte. In späteren Jahren erwies sich seine hervorragende Studioarbeit als weiterer Pluspunkt für die Gruppe, nicht zuletzt deshalb, weil ein Großteil ihres Materials stärker denn je von der Elektronik abhing. Trotzdem wurde Alan in den nächsten zwei Jahren nicht als vollwertiges Bandmitglied aufgenommen – ein Weg, den viele Bandgründer wählen, wenn sie ein neues Gesicht in ihrem engsten Kreis willkommen heißen. Zunächst erhielt Alan nur einen bescheidenen Wochenlohn, angeblich nicht mehr als 100 oder 200 Pfund. Doch war dies ebenfalls nichts Ungewöhnliches.
Die Shows auf dem europäischen Festland waren eine besonders bizarre Angelegenheit. Trotz der Tatsache, dass die Pioniere von Kraftwerk aus Deutschland stammten, betrachtete man Depeche Mode in weiten Teilen des Kontinents beinahe wie einen exotischen Wanderzirkus. Die Journalisten hatten über die englische New-Romantic-Szene gelesen, und Depeche Mode wurden andauernd gefragt, ob sie „Blitz Kids“ seien. Oft wirkten Journalisten und TV-Moderatoren ein wenig verwirrt angesichts dieser naiven Jungs aus Basildon. Bei einem ihrer ersten TV-Auftritte, einer Sendung im schwedischen Fernsehen, wurde Dave gefragt, was ihre Texte bedeuteten, und er musste gestehen, dass er keine Ahnung hatte.
„Ich weiß nicht“, sagte er zu dem verwirrten Moderator. „Vince hat kürzlich die Band verlassen. Wir fragten ihn immer, was die Texte bedeuten, aber wir wissen es immer noch nicht.“
Es wäre im Prinzip in Ordnung gewesen, das zu sagen, wäre der Song, den sie in der Sendung vorstellen wollten, nicht ausgerechnet das von Martin geschriebene „See You“ gewesen! Daneben sorgten sie auf dem europäischen Festland auch deshalb für einigen Aufruhr, weil die englischen Synthesizerbands vom Mainstream als Kuriosität betrachtet wurden.
„Glauben Sie, dass Synthesizer echte Instrumente vollständig ersetzen können?“, wurde Dave gefragt. Seine Antwort war interessant: Anstatt darauf zu verweisen, dass Synthesizer sehr wohl richtige Instrumente seien, entgegnete er höflich: „Nein, ich denke Gitarren und Schlagzeuge wird es immer geben.“ Bei einem anderen Fernsehauftritt in Holland fragte der neugierige Moderator die einzelnen Bandmitglieder: „Wer ist denn jetzt der Gitarrist? Und wer der Bassist? Wer spielt Schlagzeug?“ Da mussten sie umständlich erläutern, dass sie solche Musiker gar nicht in der Band hatten, bis Dave eine kleine Führung gab, die Keyboards erklärte und den „Schlagzeuger“ vorstellte – eine etwas plump wirkende Bandmaschine. Zu dieser Zeit gaben sie es auch auf, darauf zu pochen, dass man ihren Bandnamen „Depesch-ey“ aussprach. Anfangs gefiel ihnen das, weil es sich so französisch und gebildet anhörte, dabei klingt die tatsächliche französische Aussprache wie „Depesch“.
Alan willigte ein, sich an sämtlichen Werbeaktivitäten zu beteiligen, die man der Band abverlangte. Hinsichtlich Musik und Kleidung war dies zweifellos der Tiefpunkt in der gesamten Karriere von Depeche Mode. Sie sahen nicht besonders aus und erledigten die meisten Aufgaben, die man ihnen stellte, ohne Murren und Knurren. Darunter waren auch einige ziemliche schräge Fernsehauftritte. In einer deutschen Sendung namens Bananas filmte man sie zu einem Playback von „See You“ in einer Scheune voller Stroh. Anfangs wirkte Dave in seinem schrecklichen Anzug und den hoch geschnittenen Hosen einfach nur leicht dämlich. Dann folgte eine Einstellung, in der er sitzend ein Huhn hält, während anderes Geflügel zwischen den Beinen der übrigen Bandmitglieder herumrennt. Alans Blick, als er sich todesmutig ebenfalls ein Huhn schnappt, ist unbezahlbar. Als wäre das noch nicht genug gewesen, vergnügt sich hinter ihnen ein Pärchen im Heu – im krassen Widerspruch zur Hauptaussage des Songs.
Doch nicht nur im Ausland kam es zu peinlichen Szenen. So traten Dave und Martin etwa in der Samstagmorgensendung Tiswas auf und versuchten, die üblichen Fragen zu beantworten („Warum verwendet ihr Synthesizer?“, „Warum heißt ihr Depeche Mode?“, „Wie spricht man Depeche Mode aus?“), während sich direkt hinter ihnen ein paar aufsässige Jugendliche laut lachend unterhielten. Erst gegen Ende schienen sie den Musikern etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als sie die Anweisung erhielten, die beiden Stars mit Papierschnipseln zu bewerfen und Dave eine Sahnetorte ins Gesicht zu pfeffern.
Etwa zur selben Zeit hatten Depeche Mode in der britischen Fernsehinstitution der Achtziger, Jim’ll Fix It, einen Auftritt, der sogar noch peinlicher war. Das Erfolgsgeheimnis der beliebten Sendung war, dass Kinder dem Moderator Jim Saville, einem ausgemachten Exzentriker, einen Brief schrieben und ihn baten, etwas für sie „zu deichseln“, sprich: ihnen einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen. Der Traum eines Mädchens war es, einmal zusammen mit Depeche Mode aufzutreten. Pflichtschuldig erklärten sie sich dazu bereit und ließen sie ein bisschen Keyboards spielen, dann bekam sie von Alan eine Trophäe überreicht, das begehrte Jim’ll Fix It-Abzeichen.
Damals unterschied man streng zwischen „ Popmusik“, die von vielen Fernseh- und Radio-Programmmachern als simple Unterhaltung für Kinder eingestuft wurde, und „Rockmusik“, die für Teenager gedacht war. Jemand über 30, der sich noch für einen der beiden Stile interessierte, wurde für ein bisschen seltsam gehalten. Depeche Mode hatten zwar kein Problem damit, dass Kinder ihre Platten kauften, doch es dämmerte ihnen langsam, dass Teenager und Erwachsene auf Grund ihres Images aus der Zielgruppe herausfallen könnten.
Als Depeche Mode ins Studio gingen, um ihr zweites Album A Broken Frame einzuspielen, mag ihnen schmerzlich bewusst gewesen sein, welch himmelweiter Unterschied zwischen den brillanten Chartstürmer-Singles von Yazoo und den eher geistlosen Songs bestand, die sie ohne Vince komponiert hatten. Wenigstens hatten sie eine Entschuldigung. Martin Gore war gezwungen gewesen, innerhalb weniger Wochen ein komplettes Album zu schreiben.
„Wir strampelten uns ab, ohne zu wissen, wohin die Reise eigentlich gehen sollte“, sagte Martin 2001. „Es war das erste Mal, dass ich mich als Songwriter versuchte, und heraus kam ein regelrechter Mischmasch. Ein paar Nummern waren alt, mit das Erste, was ich überhaupt jemals geschrieben hatte, andere wiederum fielen mir spontan während der Aufnahmen ein.“
Sie nahmen erneut im Blackwing Studio auf, doch dieses Mal machte die Arbeit weitaus weniger Spaß. „Das ist schon ein seltsamer Ort“, sagte Dave damals. „Draußen im Garten steht eine Statue von Jesus am Kreuz, die jemand mit Blut angemalt hat. Wir haben eine Menge Fotos dort gemacht, aber keines davon ist etwas geworden. Das ist schon recht seltsam.“
Sie lebten alle noch in Basildon, also nahmen sie jeden Morgen den Zug zur London Bridge und abends dann den letzten Zug zurück. Inzwischen waren ihre Gesichter allerdings in sämtlichen Musikzeitschriften erschienen, und sie waren häufig im Fernsehen gewesen, also wurden sie oft erkannt, was nicht immer vorteilhaft war. Viele Fahrgäste waren so genannte „Essex-Typen“, die seit Feierabendbeginn in London getrunken hatten. „Wir gerieten ständig in Schlägereien“, sagte Martin. „Manchmal, weil man uns erkannte, aber meistens war es die ganz normale Gewalt, die in Essex an der Tagesordnung ist.“
Dave beklagte sich später, die Leute hätten sie hängen gelassen. Bei ihrem zweiten Album habe es im Studio an Begeisterung gemangelt. Sie wussten, dass sie nicht mehr als Teenie-Pop-Idole betrachtet werden wollten, wussten aber nicht, wodurch sie Vince’ Sound ersetzen sollten. Sie hatten die vage Vorstellung, dass sie ein bisschen „düsterer“ als bisher sein wollten, und doch waren Songs wie „See You“ beinahe klebrigsüß. Martins Aufgabe wurde dadurch erschwert, dass er immer noch in Vince’ Schatten stand. Er gibt zu, dass er anfangs (vielleicht unweigerlich) noch stark von dem Stil ihres ehemaligen Bandkollegen beeinflusst war. Sie wussten, dass es riskant war, sich allzu weit von dem Stil zu entfernen, mit dem sie bekannt geworden waren – denn dann bestand die Gefahr, dass sich