100 Prozent Anders. Tanja Mai

100 Prozent Anders - Tanja Mai


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kommt unser Sohn eigentlich immer auf solche Ideen?“ Das gute Stück steht heute noch im Haus meiner Eltern. Wir haben ihn mal schätzen lassen. Er stammt aus dem Jahr 1815 und ist noch mit dem Originalstoff bezogen.

      ***

      1979 musste ich nach den Sommerferien die Schule wechseln, da unser Gymnasium in Münstermaifeld geschlossen wurde und die Oberstufenschüler auf andere Gymnasien verteilt werden sollten. Ich hatte mir das Eichendorff-Gymnasium in Koblenz ausgesucht, denn dort gab es einen Musikleistungskurs. Wie immer war ich ein bisschen spät dran, die Anmeldefrist für das neue Schuljahr war bereits abgelaufen. Mein Vater fuhr also mit mir zum Direktor und schaffte es, mich doch noch einzuschleusen. Kaum hatte ich die Zulassung, bahnte sich jedoch schon die nächste Katastrophe an. Im Verhältnis zu unserem kleinen Gymnasium in Münstermaifeld mit seinen 300 Schülern gingen auf das Eichendorff-Gymnasium 900 Jungen und Mädchen. Jeder beäugte jeden. Mich kannte niemand. Ich war ein Schüler aus der Provinz, mehr nicht. Natürlich freundete ich mich mit Gleichgesinnten an. Mitschüler, die auch Musik als Hauptfach gewählt hatten. Doch von meiner großen Passion für die Musik wusste zunächst niemand etwas. Es war auch in dem Alter nicht gerade besonders hip, deutschen Schlager zu hören oder sogar selbst zu singen. Neu am städtischen Gymnasium, ein Landei und dann noch ein Schlagerheini, das überschritt bei vielen meiner Mitschüler einfach die Toleranzgrenze. Morgens nahm mich mein Vater, der in Koblenz arbeitete, im Auto mit. Am Nachmittag fuhr ich mit dem Zug nach Hause, und meine Mutter holte mich am Bahnhof ab.

      In der Oberstufe gab es keine Klassen mehr, sondern jeder Schüler belegte Kurse, drei Hauptfächer und verschiedene Nebenfächer. In den ersten Wochen hatte ich erst einmal genug damit zu tun, mich an der neuen Schule zurechtzufinden. Das neue Kurssystem, die komplett neuen Lehrer. Eine Woche nach Schulbeginn hingen am Schwarzen Brett auf dem Schulhof die Listen für unsere Sportkurse aus. Alle Schüler hatten bei der Anmeldung an der Schule ihre Lieblingssportarten angeben müssen und wurden nun in die jeweiligen Sportkurse eingeteilt.

      Doch wo stand mein Name? Okay, wir waren insgesamt über 110 Schüler in der 11. Jahrgangsstufe, da kann man sich schon mal verlesen. Aber auch beim dritten und vierten Durchsehen war kein Bernd Weidung auf der Liste zu entdecken. Was war passiert? Ich ahnte es. Weil ich mich erst sehr spät, im Grunde schon nach Ablauf der Frist, auf dem Eichendorff-Gymnasium angemeldet hatte, legte man mir keine Sportwunschliste vor. Klassischer Fall von „durchs System gerutscht“! Ich dachte mir: Tja, wenn ich nicht auf der Liste stehe, muss ich ja auch nicht zum Sportunterricht. Logisch, oder?

      Für mich begann das Wochenende also schon zwei Stunden früher als für den Rest meiner Klasse. Entweder ging ich in mein Lieblingscafé oder zum Einkaufen. Natürlich wusste ich, tief drin in meinem Herzen, dass es nicht richtig war, was ich tat. Aber da es keinem aufzufallen schien, dass ich beim Sportunterricht nicht dabei war, konnte es so schlimm ja nicht sein. Dachte ich. Denn einige Wochen später hatte mich ein Klassenkamerad beim Lehrer verpfiffen. Nach den Herbstferien musste ich bei unserem Sportlehrer, Herrn Harder, antanzen, der mir die Leviten lesen wollte. Nun gut, ich hatte einen Fehler gemacht, aber ich erklärte ihm, dass sein System ja auch Lücken aufweise, sonst hätte er mich spätestens beim Schülerabgleich zu Schuljahresbeginn namentlich erfassen müssen.

      Mensch, ich und meine große Klappe! Einfach „Entschuldigung“ zu sagen, das hätte ja auch gereicht. Und nicht noch mehr Öl in die Flamme gießen. Doch es war bereits zu spät. Herr Harder hatte schon eine leicht rötliche Gesichtsfarbe. „Herr Weidung“, kam es gepresst aus Herrn Harders Mund, „ab kommenden Freitag spielen Sie Fußball.“ Fußball? Fußball?? Ich wurde blass um die Nasenspitze und schrie innerlich: „AHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!“

      Oh Mann, war das Zufall, oder sollte er tatsächlich so viel Menschenkenntnis besitzen, dass er wusste, wie man mich an meiner empfindlichsten Stelle treffen konnte?

      Der Freitag nahte, und meine Laune sank auf den Gefrierpunkt. Ich stand auf dem Fußballplatz und sollte dribbeln, Pässe spielen, Dehnübungen und Sprint-Stopps machen. Hallo, ging’s noch? Ich war Sänger. Ich war schon fast 200 Mal auf der Bühne gestanden, sang das Repertoire der weltgrößten Künstler nach und hier, auf diesem piefigen Sportplatz, sollte ich Fußball spielen? Meine Entscheidung stand fest, und zu mir selbst sagte ich: „Sorry, Herr Harder, auch auf die Gefahr hin, dass ihr Blutdruck durch die Decke schießt: Heute habe ich meine letzte Vorstellung auf diesem Fußballplatz gegeben.“

      Das Argument, das ich mir bei möglicher Kritik von Lehrerseite an meinem Verhalten in Gedanken schon zurechtgelegt hatte, lief darauf hinaus, dass jeder außer mir die Chance gehabt hatte, seinen Sportkurs frei zu wählen. Nur mir war Fußball aufgezwungen worden. Das konnte nicht sein. Argumentativ fühlte ich mich völlig auf der sicheren Seite. Deshalb hatte ich auch kein schlechtes Gewissen – doch dazu später mehr.

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      Meine Eltern besaßen elf Jahre lang ein kleines Ausflugscafé im Ort vor der Burg Eltz. Ich liebe diese romantische, märchenhafte Burg bis heute. Immer in der Woche vor Ostern fand die große Eröffnung unseres „Café Weidung“ statt. So oft es ging, habe ich meiner Mutter dort geholfen. Am tollsten fand ich es immer, wenn der Laden proppenvoll war und richtig viel Hektik herrschte. Unser Café befand sich an der Durchgangsstraße zur Burg Eltz. Auf dem Weg nach oben hielten die Busfahrer bei uns an und reservierten für zwei Stunden später schon einmal Tische für ihre Reisegruppen. Das waren dann gerne um die 50 Personen auf einen Schlag, die innerhalb von fünf Minuten ihr Kännchen Kaffee und ihr Stück Schwarzwälder Kirschtorte serviert bekommen wollten. Ich habe dann serviert, meine Mutter stand an der Kuchentheke und kam aus dem Schneiden gar nicht mehr heraus. In der Küche hatten wir eine Aushilfe, die den Kaffee kochte und für das Geschirr zuständig war. Je voller, desto lieber war es mir. Im größten Trubel fing ich an zu singen, und so war jedes Mal eine Bombenstimmung bei uns im Café.

      Auf der Kuchentheke hatte meine Mutter immer frische Blumen stehen. Daneben dekorierte sie eine meiner Singles, die ich neu produziert hatte. Die war nie zum Verkaufen gedacht, sondern einfach nur als Zeichen dafür, wie stolz meine Eltern auf mich waren. Eines Tages ging unsere Industriekaffeemaschine kaputt, die pro Stunde rund 400 Tassen Kaffee kochen konnte. Da so ein Teil locker 15 000 Mark kostet, konnten wir nicht mal schnell eine neue kaufen, sondern mussten einen Elektriker rufen, der sie reparieren sollte. Als der Mann fertig war, plauderte er noch ein wenig mit meiner Mutter. Als er meine Single entdeckte, erzählte er: „Ich mache auch Musik, habe eine eigene Band. Der Thomas Anders bewirbt sich ständig bei uns, doch wir wollen ihn nicht haben, weil er so schlecht ist und nicht singen kann. Ich habe auch gar keine Ahnung, wie der es überhaupt geschafft hat, eine eigene Single aufzunehmen.“ Meine Mutter schwieg. Erst als der Handwerker fragte: „Kennen Sie den Anders denn persönlich?“, antwortete meine Mutter mit eisigem Blick: „Ja, ich kenne ihn. Um es kurz zu machen: Er ist mein Sohn. Und eines gebe ich Ihnen noch mit auf den Weg – unsere Kaffeemaschine reparieren Sie ganz bestimmt nicht mehr. Auf Wiedersehen!“

      In unserem Café hatten meine Eltern auch zwei Fremdenzimmer eingerichtet. Eines Tages kamen zwei Frauen zu meiner Mutter in den Laden, die eine war Anfang 30, die andere Ende 40, und fragten, ob sie ein Zimmer mieten könnten. Ich stand an dem Tag zufällig auch hinter der Theke. Meine Mutter sagte ja. Worauf eine der Frauen wissen wollte: „Ist das hier vorn der einzige Eingang?“ Meine Mutter: „Nein. Wir haben noch einen Hinterausgang.“ Die Frau: „Kann man die Rollläden im Zimmer so dicht schließen, dass kein Tageslicht ins Zimmer fällt?“ Meine Mutter: „Ich habe noch nie in unserem Gästezimmer geschlafen. Aber es sind ganz normale Rollläden.“ Die Frau: „Dürfen wir das vorher ausprobieren, bevor wir das Zimmer mieten?“ Meine Mutter: „Das können Sie gern tun.“ Dann wieder die Frau: „Ist das hier die Hauptstraße des Ortes? Wie weit ist es denn von hier bis zur Autobahn?“ Meine Mutter beantwortete sämtliche Fragen. Dann meinte die Frau, sie würden sich das mit dem Zimmer überlegen und sich wieder melden. Als sie weg waren, sagte meine Mutter zu mir: „Mit denen stimmt doch was nicht. Das sind sicher Terroristinnen.“ Ende der Siebzigerjahre war immerhin die Hoch-Zeit der RAF, und die Menschen waren sensibilisiert mit Blick auf verdächtige Personen. In sämtlichen öffentlichen Gebäuden hingen ja damals


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