100 Prozent Anders. Tanja Mai
ich gebe es zu, war ich schon als Kind. Ich wusste immer, wer ich bin und was ich wollte, und das habe ich auch deutlich gesagt. Ich hatte auch nie Angst vor fremden Menschen. Je mehr in einem Raum waren und mir beim Singen zuhörten, desto mehr Spaß hatte ich. Unseren Nachbarn muss ich heute noch danken. Sie bekamen meine Gesangsübungen ja quasi live mit. Vor allem im Sommer, wenn in allen Häusern die Fenster offen standen, war ich beinahe im ganzen Dorf zu hören. Und zwar täglich.
Als unser örtlicher Schützenverein 2003 sein 100jähriges Gründungsjubiläum feierte, gab ich in Mörz ein großes Konzert und bedankte mich bei allen Einwohnern dafür, dass sie meine Gesangsübungen jahrelang so tapfer ertragen hatten. Ein Mann rief: „Zum Glück hat es sich ja gelohnt.“ Natürlich fingen sofort alle an laut zu lachen.
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Ich war wohl ein extrem liebes und pflegeleichtes Kind. Zumindest erzählt das meine Mutter immer. Ich hätte meinen Eltern nie großartig Schwierigkeiten gemacht, sagt Mama. Ich weiß nicht, ob das an meinen Genen liegt. Ich war von klein auf sehr gewissenhaft und diszipliniert. Für ein Kind vielleicht schon fast zu vernünftig und brav. Wenn mir jemand sagte, was ich machen solle, tat ich das anstandslos. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, meinen Eltern etwas zu verheimlichen. Lügen war mir viel zu anstrengend. Ich machte meiner Mutter auch nie Vorwürfe, dass sie wegen des Ladens keine Zeit hatte, mit uns in den Urlaub zu fahren oder ins Schwimmbad zu gehen. Ich vermisste das alles nicht, da ich meine persönliche Erfüllung in meiner Musik gefunden hatte. Was jedoch dazu führte, dass ich mich sportlich nicht besonders engagierte.
Mit zehn Jahren konnte ich immer noch nicht richtig schwimmen. Mein Bruder war da ein ganz anderer Typ. Er war DLRG-Schwimmer. Eines Tages meinte ein Kumpel zu mir: „Du, ich habe gestern meinen Freischwimmer gemacht. Lass uns ins Schwimmbad gehen, dann mache ich dir das mal vor.“ Ich ließ mich breitschlagen und ging mit. Als wir im Wasser waren, packte er mich und schwamm mit mir los. An der tiefsten Stelle ließ er mich plötzlich los. Da ich nicht schwimmen konnte, ging ich unter wie ein nasser Sack. Ich schluckte literweise Wasser, bekam keine Luft mehr und strampelte um mein Leben. Der Bademeister sah, was los war, sprang ins Wasser und zog mich an den Beckenrand. Ich war völlig panisch und ließ mich nur schwer beruhigen.
Seitdem hatte ich das absolute Trauma im Hinblick auf Schwimmbäder und weigerte mich jahrelang, überhaupt auch nur den großen Zeh ins Wasser zu stecken. Das galt auch fürs Schulschwimmen. Jede Woche hatte ich Streit mit meinem Lehrer, weil er einfach nicht verstehen wollte, dass ich im Wasser Angst hatte.
Als ich 20 war, nahm ich mir einen Schwimmlehrer. Ich hatte keine Lust mehr darauf, stets als Spielverderber zu gelten, wenn ich mit Freunden im Urlaub war oder beruflich in einem schönen Hotel mit Pool wohnte. Also engagierte ich einen privaten Schwimmtrainer. Doch jeder Versuch des armen Kerls, mir das Schwimmen beizubringen, endete in einem Fiasko. Kaum nahm ich im Wasser die Schwimmhaltung ein, spielten sich vor meinem geistigen Auge wieder die Szenen im Freibad ab, und sofort hatte das Trauma mich erneut im Griff. Mein Schwimmlehrer und ich gaben entnervt auf. Zwei Jahre später wollten Nora und ich mit unserer Clique in den Urlaub fahren. Natürlich wussten alle, dass ich nicht schwimmen konnte. Einer aus der Clique, ein Schwimmbesessener, meinte zu mir: „Ich bringe dir das Schwimmen bei!“
Diese Vorstellung war für mich gleich das nächste Drama: Ich fahre in den Urlaub, und da ist einer, der mich jeden Tag mit diesem blöden Schwimmen nervt. Nein, darauf hatte ich überhaupt keine Lust. Ich war so wütend, dass ich beschloss, mir selbst das Schwimmen beizubringen. Noras Schwester hatte in ihrem Haus einen Indoor-Pool. Ich kaufte mir orangefarbene Schwimmflügelchen und trainierte jeden Tag allein. Etwa zwei Wochen lang stand ich täglich im Wasser und machte Schwimmbewegungen. Erst im Stehen, irgendwann richtig. Tag für Tag ließ ich ein bisschen mehr Luft aus den Schwimmärmelchen. Bis ich mir irgendwann selbst sagte: „Alter, bist du eigentlich bescheuert? Du hast da zwei Plastiklappen an den Armen, die dich eigentlich stören. Jetzt zieh endlich diesen Scheiß aus und schwimm.“ Von dem Moment an konnte ich schwimmen.
Ich bin zwar bis heute kein Michael Phelps, aber im Pool unseres Hauses auf Ibiza schwimme ich jeden Morgen meine 25 Bahnen. Bei einer Maximaltiefe von 1,60 Metern fühle ich mich sicher. Nur mein Kopf darf nicht unter Wasser, da bekomme ich sofort Panik. Auch ins Meer oder in einen See traue ich mich nicht. Mir macht die Strömung zu schaffen, außerdem kann ich nicht sehen, wie tief es da ist und wohin ich trete. Das finde ich eklig. Fazit: Schwimmen wird garantiert nie meine Lieblingsbeschäftigung werden. Dafür ist mein Kindheitstrauma einfach zu groß.
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Mein Talent als Kinderstar hatte sich in Mörz und Umgebung schnell herumgesprochen. Plötzlich bekamen meine Eltern immer mehr Anfragen, ob ich Lust hätte, bei einem Firmenjubiläum oder einem runden Geburtstag zu singen. Ein Weinfest hier und eine Kirmes dort. Ob ich Lust hatte? Und wie, das stand wohl außer Frage! So wurde quasi über Nacht aus mir eine Art Kinderstar. Zwar auf niedrigem Niveau, aber immerhin durfte ich vor Publikum singen. Meine Eltern waren stolz darauf, einen Sohn zu haben, der sich freiwillig auf eine Bühne stellte und losschmetterte. Allerdings haben sie mich nie zu etwas gezwungen. Im Gegenteil. Meine Mutter sagte immer: „Wenn du das möchtest, darfst du auftreten. Wenn du keine Lust hast, lässt du es bleiben.“
Und mittlerweile gab es dafür auch keine Süßigkeiten mehr, sondern 50 oder 60 Mark, also so um die 25, 30 Euro.
Mit meinen acht bis zehn Auftritten pro Jahr peppte ich mir mein Taschengeld auf. Ich war damals wohl das glücklichste arbeitende Kind in ganz Deutschland! Noch ahnte ich nicht, dass mein nächster Karrieresprung bereits vor der Tür stand.
Anfang der Siebzigerjahre baute unser Schützenverein eine neue Halle. Da mein Vater ja Vereinsvorsitzender war, kam ein Journalist von der Lokalzeitung zu uns nach Hause. Er hieß Hans Stein und wollte mit meinem Vater ein Interview führen. Während dieses Gesprächs kam die Rede auch auf mich. Herr Stein hatte gehört, dass ich singen könne, und erzählte meinen Eltern, dass seine Frau einen Kinderchor leite. Mein Vater wurde sofort hellhörig und sagte zu ihm: „Hören Sie sich unseren Bernd doch einfach mal an. Vielleicht kann Ihre Frau ja noch Verstärkung im Chor gebrauchen.“ Mein Vater wollte nie einen Star aus mir machen. Er hat mein Singen auch nie zu stark glorifiziert. Vielmehr hoffte er, dass ich im Kinderchor Gleichgesinnte treffen würde, mit denen ich auch mal was anderes außer Musik machen könnte.
Ich wurde also ins Wohnzimmer zu den Erwachsenen gerufen und sollte ihnen etwas vorsingen. Herr Stein saß im Sessel und lauschte. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sein Gesichtsausdruck immer ernster wurde. Als ich fertig war, starrte er mich einfach nur an. Irgendwann fragte meine Mutter in die Stille hinein: „Und, hat Ihnen unser Bernd gefallen?“ Herr Stein schüttelte den Kopf: „Der Junge kann unmöglich in den Kinderchor. Das passt nicht.“ Ich sah meinen Eltern an, wie enttäuscht sie waren. Da erklärte Herr Stein: „Ihr Sohn muss alleine singen. Seine Stimme ist zu gut für einen Chor. Auch seine Ausstrahlung und seine Bewegungen sind viel zu professionell. Man kann ihn nicht in eine Gruppe integrieren. Da würde er stets herausstechen.“ Herr Stein war so begeistert von mir, dass er mir versprach, einen professionellen Bühnenauftritt zu vermitteln. Ich war damals acht Jahre alt.
In Koblenz gab es zu dem Zeitpunkt ein großes Tanzhaus mit integrierter Gaststätte, den „Mosel-Tanzpalast Hommen“. Heute würde man so etwas „Event-Gastronomie“ nennen. In diesem „Tanzpalast“ gab es einen großen Tanzsaal für 1 000 Personen, eine Speisegaststätte, eine Kellerbar, eine Kegelbahn und eine einfache Kneipe.
Herr Hommen buchte mich auf Empfehlung von Herrn Stein für eine Weihnachtsfeier an einem Dezembernachmittag. Ich fuhr mit meinem Vater und einer „UHER“-Bandmaschine (UHER war eine professionelle Firma für Tonequipment) nach Koblenz, wir machten einen Soundcheck, und ich stand zwei Stunden später, Weihnachtslieder singend, auf der Bühne. Und die Bandmaschine lieferte die Musik dazu.
Kaum war ich fertig, kam auch schon Herr Hommen auf meinen Vater zu und sagte: „Herr Weidung, Ihr Sohn hat aber eine tolle Stimme. Auch sein Auftreten ist für das Alter erstaunlich. Hätte er vielleicht