100 Prozent Anders. Tanja Mai
um bei meiner Mutter die Bestellungen für die Wochenendlieferung aufzunehmen. Es war damals eine komplett andere Welt. Nicht wie heute, wo man über Scannerkassen den Warenablauf festhält und der angeschlossene Computer auf Knopfdruck im Zentrallager die fehlende Ware ordert, damit sie am nächsten Vormittag geliefert wird. Nein, der Handelsvertreter kam mit seinem Bestellblock zu uns ins Esszimmer, machte bei einer Tasse Kaffee und selbstgebackenem Kuchen auf seiner Liste an der gewünschten Ware seinen Haken, und freitags war die Anlieferung.
Ich nutzte bei jedem Besuch des Handelsvertreters die Gelegenheit, mein neuestes Repertoire zum Besten zu geben. Sämtliche Lieder von Heintje oder Gus Backus. Später auch von Vicky Leandros, Katja Ebstein und Lynn Anderson mit „Rosegarden“.
Unser Esszimmer war sozusagen meine erste Bühne. Das Unterhaltungsprogramm in unserem kleinen Dorf hielt sich in Grenzen. Es gab einen Schützenverein und eine jährliche Kirmes. Keine glamourösen Festlichkeiten, aber die wenigen Veranstaltungen, übers Jahr verteilt, waren für mich als Kind immer ganz besonders. Ich war sechs Jahre alt, als in unserer neuen Dorfkneipe mal wieder die traditionelle „Dorfweihnachtsfeier“ anstand und ich gefragt wurde, ob ich ein paar Weihnachtslieder singen wolle. Es hatte sich herumgesprochen, dass der Kleine von Weidungs gerne singt. Klar! Wie aufregend! Endlich mal nicht nur vor der Tante oder dem Onkel – oder dem wöchentlichen Handelsvertreter. Nein, endlich ein richtiges Publikum!
Damit die anwesenden Personen, es sind in meiner Erinnerung maximal 50, mich auch sehen konnten, stand ich auf einem Stuhl. Ich wurde angekündigt mit: „Jetzt singt der kleine Bernd“, und ich schmetterte „Heidschi Bumbeidschi“ und noch zwei Weihnachtslieder, a cappella, also ohne begleitende Musik. Als ich meine Lieder gesungen hatte, gab es Applaus und Bravo-Rufe sowie eine Tafel Schokolade und eine Tüte Chips.
Wow! Der Virus war entfacht! Was für ein Nährboden für eine jungfräuliche Künstlerseele. Ich tat etwas, das mir Spaß machte, und bekam dafür als Lohn etwas, das mir schmeckte.
Hallo, ihr Bühnen der Welt, ich komme!
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Im Februar 1970 veränderte sich mein familiäres Leben. Meine Schwester Tanja wurde geboren, und ich war damals mindestens genauso aufgeregt wie mein großer Bruder bei meiner Geburt.
Ich hatte mir immer eine kleine Schwester gewünscht. Seit ich fünf Jahre alt war, legte ich fleißig Zuckerstücke für den Klapperstorch auf unsere Küchenfensterbank. In unserer Weidung-Großfamilie mit vielen Tanten und Onkel gab es 16 Enkel, davon aber nur drei Mädchen. Seit ich denken kann, hieß es bei uns zuhause: „Bei den Weidungs kommen immer Jungs raus. Die können keine Mädchen.“ Aber ich wünschte mir eine kleine Schwester. Als Tanja geboren wurde, war das für mich natürlich großartig. Gleichzeitig fand ich es auch völlig normal, dass der Klapperstorch sich über meinen Zucker gefreut und deshalb meinen Wunsch erfüllt hatte. Erst Jahre danach fragte ich mal vorsichtig nach, wer eigentlich den Zucker von der Fensterbank weggenommen habe. Es war meine Mutter.
In Mörz gab es keine Schule, deshalb verbrachte ich die ersten beiden Jahre meiner Grundschulzeit in einem Nachbarort, und danach besuchte ich die Grundschule in Münstermaifeld. Zwischen Lernen und familiären Verpflichtungen trat ich zwischendurch bei diversen Dorffeiern im Umland und im Altenheim auf und sang einige Lieder meines Repertoires. Meine komplette Freizeit bestand aus Singen! Während meine Kumpels aus dem Dorf auf dem Bolzplatz umhertobten, hüpfte ich zuhause in meinem Zimmer vor dem Spiegel herum und sang. Kurzzeitig war ich einmal Messdiener in unserer kleinen Dorfkirche. Da man dabei ja auch irgendwie im Rampenlicht stand und etwas Besonderes war, hatte ich mich freiwillig gemeldet. Als Messdiener stand man ja irgendwie auf einer Bühne und wurde vom Publikum bestaunt. Da wir keinen eigenen Pfarrer hatten, fand sowieso nur alle sechs Wochen ein Gottesdienst in Mörz statt. Zwischendurch gab es lediglich die eine oder andere Beerdigung.
Meine Eltern erzogen uns Kinder zwar nach katholischem Glauben, aber besonders streng wurde das bei uns nie gesehen. Ich fand es witzig, Messdiener zu sein. So erlebte man wenigstens mal etwas. Am ulkigsten war der Pfarrer. Wenn ich oder der zweite Messdiener ihm die Karaffe mit Wein brachten, hielt er seinen Kelch bewusst so, dass wir ihn vollmachen mussten. Wollten wir Jungs stilles Wasser dazu gießen, zischte er uns an: „Kein Wasser, kein Wasser“, und kippte sich den Wein unverdünnt in seinen gierigen Schlund. Als Junge nimmt man das ja noch nicht so wahr. Außerdem hat man in dem Alter noch Respekt vor dem Herrn Pfarrer. Erst später ging mir ein Licht auf, und ich dachte mir: „Was für eine alte Schnapsdrossel.“
Alle Jungs, die ich kannte, wollten Feuerwehrmann oder Lokomotivführer werden – ich Sänger. Da gab es für mich auch gar keine Alternative.
Doch bevor ich mich voll und ganz auf meine Karriere als kommender Superstar konzentrieren konnte, musste ich zunächst eine etwas weniger glamouröse Laufbahn einschlagen. Mein Vater beschloss nämlich, dass er uns ein weiteres Haus bauen wollte. Achim fand die Hausbau-Idee ganz toll und half in jeder freien Sekunde auf dem Bau mit: Er konnte schon früh Leitungen legen und Schlitze klopfen und war schon immer wahnsinnig praktisch veranlagt. Mein Vater machte fast alles in Eigenleistung. Er kam jeden Abend um fünf Uhr nach Hause. Wir aßen zu Abend, dann zog er seine Arbeitsklamotten an und verschwand mit meinem Bruder auf die Baustelle. Uns ging es finanziell nicht schlecht. Aber dennoch musste während dieser Bauphase das Geld zusammengehalten werden. Auch Zeit für Urlaube gab es keine, da mein Vater jedes Wochenende und seinen kompletten Urlaub für den Hausbau nutzte.
Die ersten Wochen drückte ich mich erfolgreich vor dieser mühsamen Arbeit. Bis mich eines Abends mein Vater zu sich rief und mir mitteilte, dass auch ich mit zwölf Jahren alt genug sei, um eine gewisse Verantwortung zu übernehmen. Ab sofort wurde ich also zum Steine schleppen und Mörtel anrühren verdonnert.
Wer Thomas Anders kennt, der weiß, dass diese Arbeit und ich in keiner Form zusammenpassen. Heute nicht und damals auch nicht. Schließlich macht man sich auf einer Baustelle schmutzig, man schwitzt und ruiniert sich die Hände. Der ganze Staub und Kalk machten mich schier irre. Mein persönliches Grauen war, wenn mein Vater freitagabends zu mir sagte: „Morgen früh um sechs Uhr kommst du mit auf den Bau, nicht immer nur dein Bruder.“ Achim und ich haben einfach total verschiedene Gene, obwohl wir dieselben Eltern und dieselbe Erziehung hatten. Es gibt ein Foto von mir, wie ich eine Schubkarre voller Steine schiebe und dabei ein helles Jackett und eine Lederkrawatte trage. Kaum hatte ich zwanzig Steine weggebracht, rannte ich zum Waschbecken, wusch mir die Hände und cremte sie ein. Mein Vater wurde fast verrückt, wenn er das mitbekam. Zum Glück sah dann auch er schnell ein, dass ich als Bauarbeiter zwei linke Hände hatte.
„Ich kann das nicht mehr ertragen. Mach bloß, dass du hier wegkommst“, schrie er eines Abends. Nichts lieber als das. Fortan wurde ich nur noch für niedere Dienste wie Rasenmähen, Straße kehren oder Müll wegbringen eingeteilt. Ich war auch ein ganz passabler Babysitter für Tanja, was meine Mutter gern und oft ausnutzte. Ich hatte Spaß daran, mit der Kleinen zu spielen. Sie war zwar ein Mädchen, doch auf sie aufzupassen, war für mich bei weitem nicht so nervig wie auf der Baustelle zu helfen. Wir wurden von unseren Eltern dazu erzogen, dass man Pflichten zu erfüllen hat und anderen helfen muss, so gut man kann. Außerdem ließ mir dieser Job noch genügend freie Zeit für meine Musik.
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Während ich zuhause vorm Spiegel stand und übte, wie es ist, ein Sänger zu sein, stellte ich mir immer vor, ich performte auf einer großen Konzertbühne oder vor einem großen Fernsehpublikum und würde mit meiner Musik Tausende von Menschen zu Tränen rühren. Diese Vorstellung fand ich immer wieder aufs Neue klasse. Oft konnte ich es gar nicht erwarten, vom Spielen oder später aus der Schule wieder nach Hause zu kommen, um endlich Musik machen zu können. Das wussten auch meine Kumpels. Es kam oft vor, dass sie bei uns zuhause klingelten, um sich mit mir zu verabreden, und ich sie wieder wegschickte, weil ich lieber Musik machen wollte.
In einem Dorf, in dem gerade mal 130 Menschen leben, davon höchstens vier, fünf Kinder im selben Alter, ist jeder potenzielle Spielkamerad, der keine Lust hat auf Fußball oder Räuber und Gendarm, natürlich ein Totalausfall für die anderen. Ich wundere mich heute noch, wie ich es geschafft habe, kein verschrobener Einzelgänger zu werden. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass meine Stimme durch dieses damals ja noch spielerische