100 Prozent Anders. Tanja Mai
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Es lag etwas in der Luft, und das schon seit Monaten. Eine explosive Mischung aus Unlust, Ignoranz, Unzufriedenheit und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung. Keiner von uns beiden wollte die Situation ansprechen, um bloß nicht den großen Knall auszulösen. Ich war auf dem Weg von Berlin nach Rostock, wo an diesem Abend im Juni 2003 unser Eröffnungskonzert für die Universe-Tournee 2003 stattfinden sollte. Wie so oft in den vergangenen Monaten spürte ich dieses Unwohlsein in der Magengrube. Mir war richtig schlecht, wenn ich an Dieter dachte. Mit meiner Frau Claudia wohnte ich in unserem Lieblingshotel „Adlon“ in Berlin. Mein Fahrer holte mich zur Fahrt nach Rostock dort ab und begrüßte mich mit einem freundlichen und respektvollen „Guten Tag, Herr Anders“, als er mir die Wagentür der Limousine öffnete. Claudia blieb im Hotel. Sie hatte schon zig Shows von Modern Talking gesehen und hatte keine Lust auf ein Zusammentreffen mit Dieter Bohlen. Es blieb ja doch jedes Mal nur bei ein paar gequält hervorgebrachten Höflichkeitsfloskeln vor der Show. Hinterher sagte Dieter in der Regel nicht mal „Tschüß“ zu uns.
So saß ich also alleine im Wagen und die vergangenen Monate zogen an meinem inneren Auge vorüber wie die Landschaften rechts und links der Autobahn. Es waren immer dieselben Fragen, die mich beschäftigten: Weshalb hatte die Beziehung von Dieter und mir schon wieder den gleichen (Null-)Punkt wie 1987 erreicht, bei der ersten Trennung von Modern Talking? Das Ende kommt, aber niemand weiß, wann! Okay, wir waren älter und auch abgeklärter als in den 80er Jahren und hätten es doch wie zwei erwachsene Männer hinbekommen müssen, miteinander zu reden. Doch das schafften wir einfach nicht. Dieter und ich konnten noch nie vernünftig miteinander umgehen. Jetzt, wo das Ende definitiv bevorstand, hatten wir wohl beide gleichermaßen Angst davor, Modern Talking den endgültigen Todesstoß zu versetzen. So etwas ist nie leicht.
Was war die Ursache für den ganzen Schlamassel, wer hatte Schuld daran? Seit Dieter Juror bei der RTL-Casting-Show „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS) war und sein erstes Buch „Nichts als die Wahrheit“ auf Platz 1 der Bestsellerliste stand, hatte er meines Erachtens die Lust verloren. An Modern Talking und an mir. Das fühlte ich. Dieter tickt ganz simpel, wahrscheinlich hat er sich gedacht: Wieso das Geld mit anderen teilen, wenn er doch alles für sich haben könnte. Warum sollte er sich einem musikalischen Partner anpassen, wenn er doch auch als Patriarch, von oben herab, alleine die Dinge bestimmen konnte?
Das Schöne am Älterwerden sind die Erfahrungen, die man macht. Man ignoriert nicht mehr die kleinen Zeichen des Schicksals, die man in der Jugend voller Überschwang gar nicht sieht. Ich kannte Dieter mittlerweile in- und auswendig. Daher wusste ich, dass der große Knall und somit unser Ende als Duo unmittelbar bevorstand.
***
Im Herbst 2002 hatte Modern Talking zum ersten Mal eine Anfrage für Shows in New York und Atlantic City erhalten. Wie cool! Wir gaben zwar jedes Jahr viele Shows im Rahmen einer Tournee oder von privaten Gala-Veranstaltungen im europäischen Raum, aber Amerika war noch nie dabei gewesen. Ich war mir ziemlich sicher, dass Dieter dies „hammermäßig“ finden und wie üblich zu seinen Freunden der Bild-Zeitung rennen und prahlen würde: „Ey, wie geil. Ich hab jetzt die USA klargemacht.“ Doch da hatte ich mich gründlich geirrt.
Wir bekamen die Anfrage über unsere Booking-Agentur Lutz-Rainer Seidel aus Berlin, die unsere Auftritte organisierte. Lutz hatte Unterschriftsvollmacht für die Verträge, sicherte sich bei uns aber, aus gutem Grund, per Fax stets ab. Ein Fax ging an Dieter raus, eines an mich, und wir bestätigten beide per Unterschrift. Als die USA-Anfrage kam, sprach Dieter mich bei einem Treffen darauf an. „Du, Thomas, wie findest du das? Ist das geil da? Ich meine ja nur. Eigentlich hab ich gar keine Zeit, weißt du, ich muss ja die DSDS-Jury machen und so und muss ja unser neues Album noch machen und so – und dann noch den Sieger von DSDS produzieren. Sollen wir das nicht in den Februar verlegen?“ „Ja. Für mich ist das kein Problem“, sagte ich, „nur, du weißt schon, dass wir immer mal in den USA auftreten wollten. Diese Chance sollten wir uns nicht entgehen lassen. Aber ich spreche mit Lutz. Er soll den Termin beim US-Veranstalter auf Februar 2003 verlegen.“
Einige Zeit später wurde uns aus den USA ein neues Angebot unterbreitet. Dieselben Städte, nur für Ende Februar terminiert. Also: Lutz schickte wieder die beiden Faxe an uns raus, damit wir bestätigen konnten. Nach ein paar Tagen kam die Antwort von Dieter: „Kann nicht! DB.“ Aha, was war das? Ich war alarmiert. Da war es wieder, dieses mulmige Gefühl im Magen. Ich kannte Dieter gut genug, um zu wissen, dass er niemals ein Geschäft ausschlagen würde, wenn er nicht längst ein besseres in petto gehabt hätte. Trotzdem konnte ich seine Absage nicht einfach so hinnehmen. Ich griff zum Telefonhörer und rief Götz Kiso an. Götz war unser gemeinsamer Anwalt für die Belange von Modern Talking und auch der ehemalige Chef von Dieter. Doch dazu komme ich später.
Götz war immer der Vermittler zwischen uns beiden. Er nahm sich Dieter zur Brust, wenn dieser bei seinen Höhenflügen mal wieder nicht mehr zu stoppen war, und er bat mich oft um Erklärungen in schwierigen Situationen. Ich erzählte Götz von der Amerika-Sache.
Ich hatte nichts dagegen, dass Dieter Bohlen sich bei DSDS verwirklichen wollte oder in seinem Buch sein Leben als Comic illustrierte. Aber ich hatte etwas dagegen, wenn man Modern Talking und mich im Regen stehen ließ. Ich fragte Götz, was ich tun solle. Denn ich liebe es, auf der Bühne zu stehen, und ich verdiene schließlich mein Geld damit. „Ich werde jetzt unsere US-Shows zum zweiten Mal absagen. Wann ist denn der beste Zeitpunkt für einen Alternativtermin?“, fragte ich Götz. „Ich kann es dir nicht sagen“, war seine lapidare Antwort. „Aber ich kann doch nicht darauf warten, bis Dieter irgendwann mal wieder Lust darauf hat, mit Modern Talking aufzutreten“, erwiderte ich. Ich werde die Antwort von Götz nie vergessen: „Thomas, ich gebe dir den guten Rat, nimm mit, was du kriegen kannst.“ Diese Botschaft war für mich eindeutig! Der „große Meister“ hatte keinen Bock mehr auf Modern Talking, wusste aber noch nicht, wie er das Ende für sich medial nutzen konnte.
Ich schrieb daraufhin Dieter ein Fax, dass ich seine Absage zwar nicht verstehe, als Alternative könne ich aber noch mal versuchen, die USA-Termine in den Mai zu legen. Ich sei auch gewillt, die Auftritte für mich alleine durchzuziehen, erklärte ich ihm. Ich bekam nie eine Antwort von Dieter.
Zwischenzeitlich hatte Lutz-Rainer Seidel immer wieder Kontakt mit unserem Agenten für die Amerika-Jobs. Lutz erklärte ihm, dass Dieter Bohlen keine Zusage für die Konzerte in den USA geben würde. Über dessen Antwort muss ich auch heute noch, nach so vielen Jahren, schmunzeln: Er fragte einfach, wo denn das Problem sei? „Dann soll Thomas Anders eben ohne seinen Gitarristen auftreten.“
Zwei Wochen später erfuhr ich über Dritte des Rätsels Lösung. Dieter hatte schon lange für eine Tournee mit den Teilnehmern der DSDS-Staffel im Mai 2003 unterschrieben und deshalb keine Zeit mehr für die Auftritte mit Modern Talking. Ich rief sofort Lutz an und sagte: „Unterschreibe bitte für die Shows in den USA. Ich mache es allein.“
***
Nach rund zweieinhalb Stunden Fahrt kamen wir in Rostock vor der Konzerthalle an. Ich ging direkt in meine Garderobe. Ich wusste nicht, ob Dieter schon da war. Ich hatte aber auch nicht das dringende Bedürfnis, ihn freundlich zu begrüßen. Ich sagte „Hallo“ zu meinen Musikern, und wir stimmten uns auf die Show ein. Es ist immer etwas Besonderes vor der Eröffnungsshow einer Tour. Das Programm ist noch nicht hundertprozentig eingespielt, man singt neue Songs, man ist einfach etwas nervöser als sonst.
Mittlerweile waren auch Dieter und seine damalige Lebensabschnittsgefährtin Estefania (die eigentlich Ingrid Stefanie heißt) eingetrudelt. Wir nickten uns kurz zu. Minuten vor der Show bat Dieter mich in seine Garderobe, und da wusste ich, es drohte mal wieder Ärger. Wir standen uns gegenüber. Er sah mich missmutig an und fragte: „Bist du in Amerika aufgetreten?“ „Jetzt tu doch nicht so, als wüsstest du das nicht. Es ist schließlich schon einige Wochen her“, antwortete ich. „Damit das klar ist“, fauchte er, „ich verbiete dir mit Modern-Talking-Songs aufzutreten.“ „Du kannst es mir nicht verbieten“, gab ich scharf zurück. „Und ob ich das kann! Ich verbiete dir, mit meinen Songs aufzutreten. (Aha dachte ich, es sind also seine Songs.) Ich bin der Produzent und der Schreiber der Songs.“ Meine Freunde wissen, wie süffisant