Pink - 2 Gesichter. Paul Lester
Popularität – ihre nächste Single „Most Girls“ stieg auf den ersten Platz der Charts, wurde ein großer Hit und verkaufte sich mehr als 70.000 Mal, genug, um Platin zu „ernten“.
Pinks Debütalbum Can’t Take Me Home kam zeitgleich mit der Single „There You Go“ auf den Markt, also im April 2000. Die Sängerin und Songwriterin, die in naher Zukunft vom Erfolg in die Stratosphäre katapultiert werden würde, hatte fast an der Hälfte der 13 Tracks mitgeschrieben. Das Album markierte zugleich den Beginn und das schnelle Ende ihrer Rolle als R’n’B-Act. Denn schon auf der CD M!ssundaztood (2001) wurde ihr Wandel zum Pop und Rock deutlich. Ferner bedeutete es auch das Ende von Pinks Rolle als Möchtegernstar und Frau in der zweiten Reihe: Im Sommer 2000 trat sie noch im Vorprogramm der US-Boyband ’N Sync auf deren Amerikatournee auf. Danach aber stand ihr Name nur noch ganz oben auf den Konzertplakaten und zahlreiche andere Musiker sollten sich um die Rolle eines Support-Acts reißen.
Can’t Take Me Home produzierten Babyface, She’kspere, Kandi Burruss, Terence „Tramp Baby“ Abney (der auch Keyboards spielte und die Drum-Machines programmierte), Daryl Simmons und Tricky Stewart (letzterer nicht zu verwechseln mit dem britischen Trip-Hop-Pionier Tricky). Das Album war sehr erfolgreich und wurde in den USA, wo es Platz 26 ereichte und zwei Millionen Einheiten absetzte, mit Doppel-Platin honoriert. Weltweit gingen fünf Millionen Tonträger über die Ladentheke.
Mit den beiden Auskopplungen „There You Go“ und „Most Girls“ erreichten zwei Singles die Top 10 und ein dritter Song, „You Make Me Sick“, konnte sich unter den amerikanischen Top 40 platzieren. In Großbritannien kam der Track sogar in die Top 10. Er ist auch in dem Film Save The Last Dance zu hören, wohingegen „Split Personality“, die Eröffnungsnummer der Platte, auf dem Soundtrack des ersten Teils des Jugendfilms The Princess Diaries [Plötzlich Prinzessin] landete.
Die Besprechungen von Can’t Take Me Home fielen insgesamt sehr wohlwollend aus. Es gab positive Kommentare für die glitzernde, „auf Hochglanz polierte“ Produktion, die ausgearbeiteten und kunstvoll verzahnten Arrangements, die aufeinandergeschichteten Drum-Pattern und die erotisch langsamen Grooves. Die sorgsam komponierten Songs ernteten viel Lob, wenn auch nicht von allen Seiten. Ein Musikjournalist schrieb: „Eher schmeichlerisch als unmittelbar. Ein wichtiges Merkmal des Dance-Pop ist der sofortige starke Eindruck, der spätestens beim zweiten Hören, wenn nicht schon beim ersten entstehen sollte. Viele Songs auf Can’t Take Me Home benötigen einige Umdrehungen im CD-Player, bevor sie sich einprägen.“ Die meisten Redakteure schätzten und bewunderten Pinks Gesang. Ihm fehle, wie einige behaupteten, ein wenig Charakter, aber er funktioniere synchron zum von Computern und Effektgeräten geprägten R’n’B-Milieu. Andere wiederum bemerkten Pinks Zurückhaltung als Vokalistin und die Beschränkung der Emotionen, obwohl ein Schreiberling bissig eine Nähe zu anderen R’n’B-Divas hervorhob: „Sie stellt eine ganz gute Monica dar, aber von der Sorte hatten wir ja schon einige.“
Einige Journalisten beschrieben die Parallelen von Pinks Debüt zur schwarzen Dance Music, die nach TLCs Album Fanmail entstanden war. Dazu zählen die bahnbrechenden Arbeiten der R’n’B-Sängerin Aaliyah Mitte der Neunziger, bei denen Tim „Timbaland“ Mosley hinter dem Mischpult gesessen hatte, ein Genie, das die Soul-Musik auf unvorhergesehene Wege lenkte und dem weiblichen Soul ein ultramodernes Facelifting verpasste, das noch weit ins 21. Jahrhundert reichen sollte. Zu erwähnen sind ferner die gleichermaßen innovativen Werke von The Neptunes (dem Produzententeam Pharrell Williams und Chad Hugo), die mit ihrem eigenen Zögling, der Sängerin Kelis, auf sich aufmerksam machten.
„Wenn Can’t Take Me Home im Vergleich zu Fanmail verblasst, ist das nicht Pinks Schuld, noch ist das Album suboptimal. Es ist einfach die Tatsache, dass es auf eine Platte folgt, die so nahe an einen modernen Klassiker heranreicht, wie es zeitgenössischem Soul nur gelingen kann“, lautete ein Kommentar. Der Mann vom Rolling Stone schrieb: „Die kunstvoll verzierten Töne, alle abgehackten und schneidenden Harmonien, jeder Post-Timbaland-Beat, die Position der Synthies im Mix – wie der Cembalo-Sound im ‚No Scrubs‘-Stil –, alles stammt von irgendeinem R’n’B-Hit der letzten 18 Monate. Der wilde innere Monolog von ‚Split Personality‘ hätte vor der Veröffentlichung von Kelis’ ‚Caught Out There‘ origineller gewirkt.“
Obwohl Can’t Take Me Home aus der heutigen Perspektive im besten Falle als der erste Schritt hin zum Erfolg bewertet wird, den Pink mit dem Crossover von Punk und Pop auf M!ssundaztood erreichen sollte, ist das Album doch eine meisterhafte Kollektion glänzenden, zeitgenössischen Urban-Pops. Von einer gewissen Härte des gesanglichen Timbres abgesehen, liegt sie aber doch noch weit von dem bissigen, rotzfrechen Punk entfernt, den wir heute kennen und lieben. Das Album beginnt mit dem typisch abgehackten „Split Personality“, auf dem Pink eine stimmliche Reife zeigt, die schon fast unheimlich für eine 20-jährige Aufsteigerin anmutet. Mühelos bewegt sich ihre Stimme zwischen den Oktaven, was an Christina (Xtina) Aguilera erinnert, ein weiterer funkelnder und junger Stern des R’n’B-Kosmos im weitesten Sinne. „Hell Wit Ya“ basiert rhythmisch auf einem eingängigen Electro-Bass-Pattern, das an die auf Dauerfeuer eingestellte Knarre eines Computerspiels erinnert. Durch die Schimpfwörter wirkt Pink wie eine zensierte Xtina oder eine „böse Ausgabe“ von Britney Spears. „Most Girls“, eine Nummer im mittleren Tempo, präsentiert das für den damaligen R’n’B charakteristische Elektronik-Cembalo und kann als ein weiteres Beispiel für Pinks Ambitionen hin zu mehr Autonomie und künstlerischer Freiheit gedeutet werden. Der Song zeigt zudem die Ablehnung konventioneller Romanzen und Geschlechterrollen und eine Abneigung gegenüber dem ganzen Schmuck, den sich Girlies „anhängen“. „I never cared too much for love, it was all a bunch of mush … I’m not every girl and I don’t need that world to validate me.“
Als Single war „There You Go“ eine naheliegende Wahl. Der Song transportiert eine ähnliche Botschaft wie die Auskopplung „Independent Women“ (2001) von Destiny’s Child (obwohl Beyoncé und ihre Girl-Group die Arbeit mit She’kspere und Rodney Jerkins schon 1998 begonnen und seitdem ihre individuelle Version eines modernen R’n’B kreiert hatten). „You Make Me Sick“ wirkt formelhaft, entfaltet seine Wirkung aber durch populäre Hooks und die mehrfachen Vocals, sodass die Nummer durchaus für eine dritte Auskopplung in Frage kam. „Let Me Let You Know“, „Stop Falling“, „Do What U Do“, „Is It Love“ und „Love Is Such A Crazy Thing“ wurden dank der fabelhaften Produktion vor dem Status gewöhnlicher Balladen gerettet. Besonders der beeindruckende Synthie-Bass-Sound der letztgenannten Nummer, der durchgehend hörbar ist, könnte auch von einem alten Acid-House-Track stammen.
Der herausragende Song auf Pinks Debüt aber war zweifellos der Titeltrack, ein kleines Space-Disco-Meisterwerk mit zahlreichen Dubs und Post-Jungle-Rhythmen. Das Bild der Liebe als einer Krankheit nähert sich beinahe schon einem Elvis Costello auf dem Höhepunkt seines Selbstmitleids an, jedoch präsentiert sich Pink als eine außerordentlich selbstsichere junge Frau: „You should have thought about that before you fucked me“, singt sie, obwohl auf der ersten Fassungen „Kraftausdrücke“ gelöscht wurden. Der Höhepunkt des Stücks wird mit der Aussage „It’s a Pink thing“ erreicht. Hier kommt die Künstlerin im Zentrum ihres eigenen Universums an. Mit den Möglichkeiten des modernen Multi-Track-Aufnahmeverfahrens singt sie Harmonien zu ihrem Gesang und wirkt wie die ungezogene, solipsistische Herrscherin des 21. Jahrhunderts. Der Track stellt das künstlerische Zentrum eines superben Debüts dar, das seine Wirkung durch einen auf Hochglanz polierten Nightclub-Pop entfaltet.
Can’t Take Me Home präsentierte ein aufregendes, neues Talent und half Pink dabei, einen festen Platz auf der musikalischen Weltbühne zu finden. Es war der erste Schritt zu einer Karriere, während der sie bisher international 30 Millionen Alben absetzen und sich zu einem der größten Popstars des Planeten emporarbeiteten sollte.
Es wäre wohl schwer vorstellbar gewesen, wenn die Presse damals enthüllt hätte, dass Pink nur fünf Jahre zuvor mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden einer schäbigen Disco lag und nach einer Nacht des Drogenexzesses auf den Tod wartete. Denn im Jahr 2000 symbolisierte sie positives Denken und Selbstkontrolle und nur ein Idiot hätte darauf gewettet, dass sich innerhalb der nächsten Dekade etwas daran ändern würde.
Im August des Jahres kam „Most Girls“ als zweite Single des Debüts auf den Markt. Der Song erklomm den vierten