So wird man Rockstar und Millionär. Gene Simmons
hier ganz normaler Alltag. Fast schon öde. Darin zeigt sich der Luxus der USA – es ist alles relativ.
Als ich zum ersten Mal zum Ende der Straße ging, in der Tante Magda und Onkel Harry wohnten, hatte ich Angst, die kreuzende Fahrbahn zu überqueren. Egal in welche Richtung ich blickte – die Straßen schienen mit Autos vollgestopft zu sein. Ich hatte zuvor noch nie eine Ampel gesehen und verstand somit auch nicht, wie man denn auf die andere Seite gelangen konnte. Als ich bemerkte, wie Passanten die Straße überquerten, folgte ich ihnen schleunigst. Und dort – auf der anderen Seite – besuchte ich den ersten Supermarkt.
Zu behaupten, ich wäre vor Ehrfurcht erstarrt gewesen, würde der Reaktion nicht gerecht. Das hier übertraf einfach alles, was ich mir jemals hätte vorstellen können. Es wirkte auf mich wie eine Stadt voller Lebensmittel, wobei die sich kreuz und quer dahinziehenden Gänge die Straßen darstellten. Ich erlebte einen mir vollkommen neuen Überfluss. Niemals hätte ich ahnen können, aus 50 verschiedenen Kaffeesorten auswählen zu dürfen. In Wahrheit hätte ich mir eigentlich nie vorstellen können, allzu große Wahlmöglichkeiten zu haben.
Während eines Besuchs meiner Mutter bei ihrem anderen Bruder, meinem Onkel George, und seiner Frau Florence sah ich den ersten Fernseher. Es war ein großes Möbelstück, vielleicht einen Meter breit, mit zuklappbaren Türen an jeder Seite und einem großen gebogenen Bildschirm in der Mitte. Es muss wohl die Zeit der Abendnachrichten gewesen sein, denn ich erinnere mich an die Nahaufnahme des Gesichts eines Mannes in diesem Kasten in schwarz-weiß. Ich stellte mir vor, wie er dort drinnen saß und zu uns sprach. Ich starrte nur noch auf den Bildschirm, vollkommen überwältigt vom Wunder des Fernsehens. Beim Besuch von Onkel George und Tante Florence ging ich einmal nach draußen und schlenderte die Straße entlang. An der Ecke bemerkte ich ein auffälliges rotes Metallobjekt. Es war nicht groß und schien über einen Hebel zu verfügen. Ich streckte den Arm aus und riss daran.
Um mich herum brach sofort die Hölle aus. Eine Glocke schrillte mit ohrenbetäubendem Lärm. Ich stand wie angewurzelt da. Innerhalb weniger Sekunden hörte ich die näherkommenden Sirenen. Ich hatte noch nie einen Straßenfeuermelder oder diese Art Sirenen gehört, geschweige denn einen Feuerwehrwagen gesehen. Als ich panisch zurück zu Onkel Georges Haus rannte, sauste an mir das längste und größte Fahrzeug vorbei, das ich je in meinem Leben erblickt hatte. Es war blutrot lackiert, genau wie diese Metallkonstruktion, die so einen entsetzlichen Lärm machte, und größer als ein Bus. Ich bemerkte sogar zwei Fahrer, von denen einer vorne und der andere hinten saß. Die Sirenen erschreckten mich zu Tode. Schnell rannte ich in Onkel Georges Haus und setzte mich vor Angst wie von Sinnen still in eine Ecke. Das hört sich jetzt wie eine Übertreibung an, doch ich fühlte mich damals wie ein Außerirdischer. Ein Fremder in einem fremden Land.
Mutter war eine stolze, unabhängige Frau. Obwohl ihre Brüder George und Larry ihr die Miete für eine Unterkunft und Hilfe anboten, entschied sie, dass wir beide später eine eigene Wohnung suchen und ausziehen sollten. Sie weigerte sich, ein Darlehen anzunehmen und bestand darauf, für ihren Lebensunterhalt allein aufzukommen. Sie brachte mir diese Haltung bei – niemals ein Bittsteller zu sein. Mum zog nach Brooklyn, um mich von der Straße fernzuhalten. Das war noch bevor ich die englische Sprache gemeistert hatte oder etwas von der amerikanischen Kultur wusste. Allerdings konnte sie sich kein Apartment für uns beide leisten und schrieb mich daraufhin im theologischen Seminar der Yeshiva Torah Vadas an der Third Street und Bedford Avenue ein, im Stadtteil Williamsburg.
Es war eine jüdische Institution, sehr konservativ und spezialisiert in Bibelstudien. Mit der Yeshiva University wurde das Arrangement getroffen, bei der Scheinlen-Familie zu leben, die eine Bäckerei besaß, während Mum übergangsweise bei ihrem Bruder Larry wohnte. Die Scheinlens behandelten mich wie ein Familienmitglied. Ich werde ihnen für immer und ewig dankbar sein, dass sie mir ein behütetes Umfeld boten und damit Mum die Chance gaben, mit Blick auf Arbeit vorwärtszukommen – auch damals weigerte sie sich, Almosen anzunehmen.
Die Yeshiva stellte eine harte und schwierige Erfahrung dar. Ich musste an sechs Tagen in der Woche um 6 Uhr aufstehen und um 7.30 Uhr dort sein. Wir begannen unseren Tag mit einem Gebet im Tempel, zumindest die, die tatsächlich beteten. Um 8.30 Uhr fing der Unterricht in den Fächern amerikanische Geschichte, Mathematik und Englisch an. Den Rest des Tages verbrachten wir mit Bibelstudien in verschiedenen Räumlichkeiten. Nach 18 Uhr kehrten wir nochmals in die Yeshiva zurück und nahmen das Abendessen zu uns, wonach sich die Bibelstudien bis 21.30 Uhr hinzogen.
Im Alter von achteinhalb Jahren sah ich zum ersten Mal Santa Claus, und zwar auf einer Reklametafel für Kent-Zigaretten. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nie etwas von Santa oder Weihnachten oder Jesus Christus gehört. Santa trug einen Rauschebart und paffte eine Zigarette. Auf seinem Kopf entdeckte ich eine Fellmütze, wodurch ich annahm, dass es sich um einen russischen Rabbi handelte. Und dann hörte ich Geschichten von Jesus, dass er auch ein Jude und sogar ein Rabbi gewesen sei und dass keiner der ihn anbetenden Menschen der jüdischen Religion angehöre. Er war Gott und gleichzeitig (!) der Sohn Gottes, und da gab es sogar noch einen Heiligen Geist.
Das verwirrte mich. Und so begann mein Interesse an der Theologie und unterschiedlichen religiösen Glaubensansätzen. Begierig begann ich das Neue Testament zu lesen, den Koran und weitere geistliche Bücher. Ich erfuhr etwas über den Islam, der sowohl die Christen als auch die Juden wertschätzte. Damals lernte ich so viel, dass ich bei heutigen Begegnungen mit den verschiedensten religiösen Fanatikern im Vorteil bin. Wenn sie versuchen, mich zu überzeugen, wird es sehr schwierig, denn ich kann ihnen problemlos mit Psalm und Zeile kontern. (Kleiner Hinweis: Der Stolz war schon immer meine Lieblingssünde.)
Für mich bedeuteten die USA eine vollkommen neue Welt, die ich mir nie hätte vorstellen können, voller unterschiedlicher Menschen mit unterschiedlichen Religionen, die alle zusammenlebten. Ich empfand es als aufregend, dass die Amerikaner so unterschiedliche Menschen willkommen hießen und Immigranten die gleichen Chancen boten wie den im Land selbst Geborenen. Das verblüffte mich und zählt zu einem der Gründe, warum ich die USA bis zum heutigen Tag aus ganzem Herzen liebe.
Ich durfte alles lesen, was ich wollte, und meine Meinung sagen. Darüber hinaus waren Mutter und ich frei – es gab keine Nazis, die uns umbringen wollten, oder angrenzende Staaten, die unser Verschwinden begrüßt hätten. Die freie Meinungsäußerung war im Gegensatz zu meiner früheren Heimat nicht ständig bedroht.
Durch die Einwirkung des neuen Umfelds begann ich meine Stärke zu spüren. Ich entwickelte ein neues Lebensgefühl. Daran war das Fernsehen nicht ganz unschuldig. Ich sah Superman, der von einem anderen Planeten kam, aber dennoch zu wahrer Größe aufstieg. Ich fühlte mich – ja, wie Superman. Mein Selbstwertgefühl wuchs, und ich war endlich jemand, da mir die USA das Recht einer eigenen Identität zusicherten. In den USA herrschte die Vorstellung: „Nichts ist unmöglich.“ Man erkannte die Einstellung auf den Gesichtern der Menschen, die zur Arbeit fuhren, und man empfand es beim Fernsehen, wenn irgendwelche Kerle durch die Luft folgen und Kugeln an ihnen abprallten. Man roch sie förmlich. Man spürte es überall. Sie mussten nicht zwangsläufig aus den USA kommen – wie Superman, der von Krypton stammte, und später die Beatles, die von Großbritannien aus ihren Siegeszug antraten. In meiner jungen Perspektive betrachtet, schien das Heldentum sich im Leistungsdenken des amerikanischen Schmelztiegels der Kulturen auszudrücken.
Die USA lehrten mich, dass niemand besser ist als der andere. Egal welche Hautfarbe, welchen Akzent oder religiösen Glauben man hatte – niemand durfte sich herausnehmen, dir ein Gefühl der Minderwertigkeit zu vermitteln.
Niemand!
Diese Grundeinstellung gehörte zu den Faktoren, durch die ich vorwärtskam und von denen ich mich niemals abbringen ließ. Der einzigartige amerikanische Geist der Individualität und des Stolzes erlaubten mir, mich mit der Idee des Unternehmertums auseinanderzusetzen: Man konnte nicht nur einiges erreichen – man konnte alles erreichen. Diese Vorstellung und das zugrundeliegende Gefühl ermöglichten es mir, zusammen mit meinem Partner Paul Stanley eine Band zu gründen. Die Band, die wir liebend gerne auf der Bühne gesehen hätten, aber als Zuschauer nie sahen. Doch davon später mehr.