You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson. Jermaine Jackson
Messlatte für unsere eigene Leistung. Dabei erwartete er von uns nicht etwa, dass wir mit Ruffin gleichzogen, sondern dass wir ihn übertrafen. Die Temptations mochten ja eine ziemlich große Nummer sein, aber für unseren Vater waren sie gerade die unterste Stufe dessen, was er sich für uns vorstellte. Überall in Amerika gebe es Gruppen, die es darauf anlegten, die nächsten Temptations zu werden, sagte er. „Ihr werdet nicht die nächsten sein, sondern schlicht viel besser!“
Mit einer Handbewegung deutete er unsere Zielrichtung an. „Wir wollen euch nicht hier“, sagte er und hielt die Hand auf Hüfthöhe. „Wir wollen euch hier“, die Hand wanderte zu seinem Scheitel, „und wenn ihr da angekommen seid, dann hier!“ Nun schwebte sie ein gutes Stück über seinem Kopf. „Zielt ganz nach oben … immer höher und höher …“ Die Reaktion der Zuschauer sollte nicht etwa sein: „Für so kleine Kids waren die ziemlich gut.“ Joseph wollte etwas anderes hören: „Wow – wer sind denn die?“ Das würde uns gelingen, indem wir Auftritte ablieferten, die das Publikum emotional berührten, sagte er. „Wenn die Leute euch zusehen, dann kontrolliert ihr sie und zieht sie in eure Welt. Ihr müsst den Text richtig verkaufen. Bringt sie dazu, dass sie aufstehen und kreischen.“
Wir fünf Jungen, die noch nicht einmal das Teenageralter erreicht hatten, fragten uns insgeheim, wodurch man Leute zum Kreischen brachte.
Wenn Mama Martha beim Abwaschen das Geschirrtuch auswrang, dann quetschte sie dabei auch noch den letzten Wassertropfen heraus. Joseph machte es mit uns genauso. Und als wir allmählich ein Gefühl dafür bekamen, wie sich unser Auftritt entwickelte, verstanden wir auch besser, in welche Richtung es gehen sollte, und wir schmückten unsere Show entsprechend aus, allen voran Michael. Wenn Joseph uns sagte, wir sollten ein wenig zur Seite rutschen oder auf die Knie fallen oder einen bestimmten Gesichtsausdruck aufsetzen, dann legten wir noch eine Schippe drauf. Wir sahen uns Dave Ruffins emotionale Performance und James Browns Seelenpein an und lernten davon.
Als die Jackson 5 dann schließlich erste Auftritte absolvierten, sagten viele Leute, dass Michael über eine Körpersprache verfüge und Gefühle zeige, die seine jungen Jahre Lügen straften. Damals wie heute erzählte man sich, dass er eine alte Seele war, die auf Emotionen zurückgriff, von denen er als Kind noch gar nichts wissen, geschweige denn sie begreifen konnte. Es wurde oft gesagt, dass sich daran ablesen lasse, wie schnell er habe erwachsen werden müssen. Die Wahrheit ist dabei viel einfacher: Er war einfach ein Kind, das Erwachsene imitierte. Michael war ein Meister der Nachahmung, und Joseph, unser Schauspiellehrer, betreute ihn meisterhaft. Wenn ein Lied Herzschmerz oder Leid erforderte, dann sagte er immer: „Zeigt das auf euren Gesichtern, ich will es fühlen …“ Michael fiel dann auf die Knie, schlug die Hände gegen die Brust und sah … gequält aus. „Nein. NEIN!“, rief unser härtester Kritiker. „Es sieht nicht echt aus! Ich fühle es nicht.“
Michael studierte menschliche Gefühle, indem er die Gesichter anderer auf genau dieselbe mikroskopische Weise untersuchte, mit der er sich auch den Themen Gesang und Tanz widmete. Wenn man ihn gefragt hätte, was er tue, hätte er unseren Vater zitiert: „Ich verkaufe nur den Text …“ Er begann sich immer mehr auf die Performance zu konzentrieren, auf die Show, und nun hörte er sich James Browns Platten an und zerlegte die Musik in einzelne Schritte und Tanzfiguren. Oder er lag auf dem Teppich im Wohnzimmer, das Kinn in die Hände gestützt, und sah sich Filme mit Fred Astaire an. Er machte sich keine Notizen; er war einfach wie vom Donner gerührt und saugte alles auf wie ein Schwamm. Wenn er schon im Bett lag und Joseph zur Arbeit war, kam Mutter leise in unser Zimmer, wenn Shows mit James Brown oder Fred Astaire liefen und flüsterte: „Michael! James Brown ist im Fernsehen!“
Für Michael hörte die Welt auf, sich zu drehen, wenn es um James Brown oder Fred Astaire ging. Er betete den Boden an, auf dem sie tanzten.
Wir hatten einen Schwarzweißfernseher der Marke Zenith, dessen Empfang davon abhing, ob der Kleiderbügel aus Metall, der als Antenne diente, gerade in die richtige Richtung wies. Um ein farbiges Bild zu bekommen, klebten wir eine dieser durchsichtigen Plastikfolien vor den Bildschirm, wie sie damals recht beliebt waren. Sie war oben blau eingefärbt für den Himmel, hatte in der Mitte einen gelblichen, bronzefarbenen Ton, um dem Gesicht und der Haut der Schauspieler Farbe zu verleihen, und war unten grün wie Gras. Selbst, wenn es ums Fernsehen ging, mussten wir unsere Phantasie bemühen.
Michael nutzte es als Werkzeug, um sich alles einzuprägen. Wenn er sah, wie jemand eine bestimmte Tanzbewegung oder Schrittfolge machte, dann internalisierte er das, als hätte sein Hirn ein Signal an seinen Körper geschickt. Wenn er sich James Brown ansah, wurde er James Brown Junior. Von Anfang an bewegte er sich mit einer enormen Finesse und Geschmeidigkeit. Und es war ein Mann, der in einem Kinderkörper tanzte. Das war ihm einfach angeboren. Er kannte immer genau seinen Part, und er fragte niemals, auf welche Position er sich stellen sollte.
Sein Selbstvertrauen färbte auf uns ab. Joseph hatte seine alte Gitarre neu bespannt und ernannte mich zum Bassisten. Zwar hatte ich genau wie Tito nicht die geringste Ahnung, wie man Noten las, aber ich hörte mir die Songs an, spielte drauflos und fand heraus, wie es ging. Keiner von uns kannte sich mit der Theorie rund um Noten, Akkorde und den ganzen Kram aus. Ich könnte heute noch nichts vom Blatt spielen. Noten auf Papier, also geschriebene Instruktionen, übertragen keine Gefühle. Wenn man musikalisch ist, dann liegt es einem im Blut. Das sieht man ja an Stevie Wonder, der als blinder Musiker völlig ohne Noten auskommt und beweist, dass es beim Spiel nur ums Gefühl geht.
Michael und ich teilten uns zwar oft den Leadgesang und wechselten uns bei den Strophen ab, aber im Grunde war er der Frontmann unserer Gruppe, wenn er am Mikrofon stand. Wir stellten uns im Wohnzimmer so auf, wie wir uns auch auf einer Bühne präsentieren wollten. Ich stand, wenn man in Richtung Publikum blickte, ganz links am Bass, Michael rechts neben mir, dann folgten Jackie und Marlon, der etwa genauso groß wie Michael war, und schließlich Tito ganz rechts außen an der Gitarre. Tito und ich waren gewissermaßen wie Buchstützen, die unsere Gruppe zusammenhielten, und Jackie als der Größte dominierte in der Mitte, was optisch eine gewisse Symmetrie erzeugte.
Aber wir waren nicht die einzige Gruppe, die in dieser Zeit in Gary entstand. Auch in anderen Häusern versuchten die Menschen, ihre Träume zu leben, denn der Markt für Soul Music im nahegelegenen Chicago boomte. Es gab einige Barbershop-Quartette, die auch sehr stark mit Choreographie arbeiteten. Aber wir spürten von Anfang an, dass wir etwas Einzigartiges besaßen, und zwar nicht nur in Josephs Kopf. Dass wir Brüder waren, sorgte für einen ganz speziellen Gleichklang und eine Verbundenheit, die andere Gruppen nicht hatten. Diese Einheit war unser Trumpf, und ich glaube nicht, dass irgendeine andere Gruppe irgendwo in Amerika auf einen Coach zurückgreifen konnte, der auch nur annähernd so viel Leidenschaft und Entschlossenheit mitbrachte wie Joseph. Die Leute fragen immer nach dem Druck und der Belastung, die all das für uns bedeutet haben müsss, aber wir empfanden das nicht so. Wir hatten keine Angst vor dem Scheitern, weil Joseph uns dazu brachte, uns den Erfolg vorzustellen und an ihn zu glauben: einen Gedanken in Worte fassen, daran glauben, ihn umsetzen. Michael formulierte es in einem Interview mit dem Magazin Ebony 2007 einmal so: „Mein Vater war in einer Hinsicht ein Genie: Er brachte uns bei, wie man die Bühne beherrscht, das Publikum für sich gewinnt und instinktiv weiß, was man als Nächstes tun muss. Wir lernten auch, dass man die Zuschauer niemals spüren lässt, dass es einem nicht gut geht oder etwas nicht stimmt. Er war in dieser Hinsicht phänomenal.“
Eines Tages befahl Joseph, wir sollten uns ein Stück von der Wand entfernt aufstellen und die Hände ausstrecken. Wir taten wie geheißen, und unsere Finger waren einige Zentimeter von der Wand entfernt. „Ihr könnt sie berühren“, sagte Joseph.
„Wie das denn? Unsere Finger sind nicht lang genug … das ist unmöglich“, maulten wir.
„Seid fest davon überzeugt, dass ihr die Wand berühren könnt!“, wiederholte er.
Und hier bekamen wir eine weitere Lektion in mentaler Stärke: Der Geist ist stärker als der Körper. „Glaubt daran, dass ihr diese Wand berühren könnt“, sagte Joseph. „Wenn ihr glaubt, ihr seid am Ende eurer Reichweite, dann probiert es weiter. Stellt euch vor, wie ihr sie erreicht. Macht euch ein Bild davon, wie ihr die Wand anfasst.“ Michael stand auf Zehenspitzen und machte sich so lang, wie es irgendwie ging, um weiter zu kommen als wir anderen. Wir mussten lachen.