You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson. Jermaine Jackson
Luft, aber irgendwann beruhigte Mutter sich und beschloss, Joseph zu vertrauen, dass die Investition sich tatsächlich auszahlen würde. Wir bekamen allerdings überhaupt nicht mit, dass jetzt die Chips in unserem Namen aufs rote Feld geschoben wurden.
Das Radio knisterte und knackte bei der Übertragung in jener Nacht im Jahr 1964, und das Haus war so still wie noch nie zuvor. „Guten Abend, liebe Sportfreunde im ganzen Land“, meldete sich der Box-Kommentator, „bald werden eure Fragen beantwortet. Liston in weißen Hosen mit schwarzen Streifen. Clay, eineinhalb Zentimeter größer, in weißen Hosen mit roten Streifen …“ Es faszinierte mich, dass uns dieser Mann so mitten ins Geschehen versetzen konnte und ein so lebendiges Bild von der Szene malte, dass wir sie selbst zu sehen glaubten. Josephs Spannung verstärkte sich, er saß vornübergebeugt auf dem Küchenstuhl direkt neben dem Radio, das auf einer kleinen Anrichte stand. „Der Schwergewichts-Weltmeister“, fuhr die Stimme fort. „Wenn dieser Kampf über die erste Runde hinausgeht, wäre das bereits eine Überraschung …“
Wir hörten den Rundengong. Die Menge brüllte. Wir stellten uns vor, wie der Herausforderer – Cassius Clay, der Mann aus Louisville in Kentucky – mit einem Satz aus seiner Ecke sprang, um den amtierenden Weltmeister Sonny Liston anzugreifen. „Und nun geht es los!“
Lange bevor der damals 22-jährige Cassius Clay als Muhammad Ali, „der Größte“, bekannt wurde, hielten wir ihm die Daumen, weil Joseph seine Art zu Boxen liebte und außerdem meinte, wir sollten den Underdog unterstützen, der mutig genug war, den Besten herauszufordern. Joseph hatte selbst als Jugendlicher in Oakland an Boxwettkämpfen teilgenommen; er forderte Tito, Jackie und mich auf dem Rasen vor dem Haus immer wieder heraus, wenn wir unsere roten Handschuhe trugen, und er brachte uns bei, „nie und vor niemandem Angst zu haben“. Er spielte den Schiedsrichter bei Kämpfen mit anderen Kindern aus der Straße, und Michael saß dann auf der Eingangstreppe und rief: „Schlag ihn! Schlag ihn! Schlag ihn!“
Joseph brachte uns die richtige Technik bei und zeigte uns, wie man auf seine Deckung achtete. „Niemand schlägt einen Jackson“, pflegte er zu sagen, und tatsächlich gelang das auch niemandem. Joseph sagte, er habe früher mit einer der soliden Eichentüren von Papa Samuel trainiert, nicht mit einem Sandsack – das stärke die Hornhaut und härte den Geist ab. Er war der stärkste, härteste und zäheste Mann, den wir kannten, und ich bin mir sicher: Als wir dem Kampf im Radio lauschten, stellte er sich vor, selbst im Ring zu stehen.
Auch in diesen Momenten konnte er es sich nicht verkneifen, einen Zusammenhang mit dem Entertainment auf der Bühne herzustellen. „Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene – so müsst ihr bei euren Auftritten sein“, erklärte er in Anlehnung an einen Ausspruch Clays auf der Pressekonferenz in der Vorwoche. Joseph fand überall nützliche Assoziationen und verpackte sie als kleine Lektionen. Genauso war es mit Jim Brown von den Cleveland Bears, wenn wir vom Football schwärmten. Die Nummer 32, der größte Runningback aller Zeiten, war ein Beispiel für Entschlossenheit und harte Arbeit: „In den letzten neun Jahren hat er nie ein Spiel oder ein Training ausgelassen, weil er weiß, dass man sich immer wieder anstrengen muss, wenn man der Beste bleiben will.“
Sogar in die Aufgaben, die er uns übertrug, verpackte Joseph nützliche Lehren. Der Stapel Steine, der sich noch immer hinter dem Haus befand – jene Steine, von denen Mutter inzwischen wusste, dass aus ihnen nun doch kein Anbau mehr werden würde –, erfüllten immer noch einen Zweck. Es waren sicher um die hundert richtig schwere Betonsteine, die links vom Haus aufgeschichtet waren, und uns wurde aufgetragen, sie einen nach dem anderen auf die andere Seite zu schleppen. Eine völlig sinnlose Übung, aber wir hinterfragten sie nicht, wir taten, wie uns geheißen wurde. Wenn Joseph nach Hause kam, nahm er unsere Arbeit in Augenschein. Alle Steine hatten genau bündig auf den anderen zu liegen, so dass die Kanten eine gerade Linie bis zum Boden bildeten. „Nein … das macht ihr noch mal. Ich möchte, dass sie ordentlich aufgestapelt sind.“ Also schleppten wir sie von rechts zurück nach links, bis sie eben ordentlich lagen. Blasen, Schürfwunden und kleine Schnitte lehrten uns Disziplin, Perfektion und Teamgeist. Wie man alles richtig macht. Keine Fehler zulässt. Wenn einer aus der Gruppe patzt, dann kommen auch alle anderen aus dem Tritt, und es sieht nicht mehr gut aus. Wie sich zum Beispiel auch bei der Choreographie zeigte.
All das erklärt vielleicht, wieso einige von uns als Erwachsene Zwangsstörungen entwickelten. Wenn Michael in ein Zimmer kam und sah, dass ein Kissen „falsch lag“, dann rückte er es zurecht. „Das kann ich nicht mit ansehen“, sagte er dann lächelnd. Mir ging es genauso, und Rebbie auch. „Erinnert ihr euch an die Betonsteine?“, fragten wir uns dann und lachten uns kaputt.
Als dann Cassius Clay in der Boxszene von sich reden machte, diente er Joseph als hervorragendes neues Beispiel für seine Lektionen. Denn hier war ein neues Gesicht, ein Mann, dem keiner der Experten etwas zutraute, aber der dennoch ein unerschütterliches Selbstbewusstsein besaß. Während wir dem Kampf lauschten und der Kommentator uns die erste Runde schilderte, lieferten sich Michael und Marlon einen Schattenboxkampf. Sonny Liston schlug öfter daneben, als dass er traf. „Die Beinarbeit ist das Wichtigste“, erklärte Joseph. Mutter brummte leise vor sich hin, dass sie von einem so gewalttätigen Sport prinzipiell nichts halte, aber Joseph hörte nicht zu – er war viel zu sehr damit beschäftigt, den Radiobericht mit Blick auf unsere Ziele für uns zu übersetzen. „Sonny Liston ist wie euer Publikum – ihr müsst raus auf die Bühne, richtig explodieren und die Leute umhauen!“
An jenem Abend gewann Cassius Clay, und er war der jüngste Boxer, der je einem Schwergewichts-Champion den Titel abluchste. „Ich habe die Welt erschüttert“, erklärte er den Medien. Das traf wohl zu – auf seinen Auftritt im Ring, aber auch auf die Wirkung, die er auf ein paar Kinder in Gary, Indiana, hatte, von denen er gar nicht wusste, dass sie ihm die Daumen drückten.
Auf dem Rasen zwischen unserem Kinderzimmerfenster und der 23. Avenue stand ein Baum. Wenn Stürme oder sogar Tornados über Indiana hinwegfegten, dann saßen Michael und ich oft am Fenster und staunten, wie viel Kraft tatsächlich in ihnen steckte. Wir waren fasziniert davon, den Kampf zwischen Mutter Natur und den Muskeln unseres Baumes zu beobachten. Er bog und neigte sich, zuckte und duckte sich wie Ali, aber nie brach er auseinander oder kippte entwurzelt um. Für mich stehen diese starken Bäume für den Familienverband, und die Äste sind wie Kinder, die mit ihrem Leben in alle möglichen Richtungen wachsen. Aber sie alle gehören zum selben Baum und stammen aus derselben Saat, und sie stehen stets fest verwurzelt da, ganz gleich, bei welchem Wetter.
Irgendwann erzählte ich Michael von dieser Analogie, und er ließ sie auf eine Plakette schreiben, die er in Neverland aufhängte. Inspiriert war der Gedanke sicherlich davon, dass Joseph uns als Kindern gesagt hatte, dass die Wurzeln unserer Familie so tief und so verzweigt seien wie die eines Baumes. Eine intakte Familie war unseren Eltern, die beide aus schwierigen Verhältnissen stammten, sehr wichtig. Das endlose Tauziehen zwischen Josephs Vater und Mutter, das er so intensiv miterlebt hatte, wollte er auf keinen Fall selbst wiederholen. Mutters Eltern wiederum hatten sich scheiden lassen, nachdem sie von Alabama nach Indiana gezogen waren, und Mutter war bei ihrem Vater, Papa Prince, geblieben, während ihre Schwester Hattie mit Mama Martha ging. Mutter und Joseph hatten sich geschworen, die Familie stets zusammenzuhalten, und uns immer wieder gepredigt, dass wir uns von nichts und niemandem auseinanderbringen lassen dürften.
Bevor die Jackson 5 erstmals öffentlich auftraten, führte uns Joseph eines Tages im Herbst nach draußen, um uns eine letzte Lektion fürs Leben zu geben. Wir gingen zu unserem Baum. Rings um den Stamm lagen abgebrochene, kleine Zweige, und er bückte sich, um sechs davon aufzuheben, die alle ungefähr dieselbe Länge hatten. Dann befahl er uns, um ihn herum Aufstellung zu nehmen und gut aufzupassen.
Er erinnerte uns daran, wie wichtig der Zusammenhalt war und dass wir stets aufeinander Acht geben sollten. Dann löste er einen Zweig von den anderen und brach ihn in der Mitte durch. „Wenn ihr getrennt seid, dann kann man euch einzeln brechen“, sagte er und hob die fünf anderen Zweige, die er noch in der Hand hielt, hoch. Er fasste sie eng zusammen und versuchte, sie erst mit den Händen und dann übers Knie zu brechen. Doch so sehr er das mit der ganzen Kraft eines Fabrikarbeiters auch versuchte, es gelang ihm nicht. „Wenn ihr aber zusammenhaltet, kann euch niemand etwas anhaben.“