You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson. Jermaine Jackson

You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson - Jermaine  Jackson


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manchmal auch verschieden schmeckende Schichten offenbarte.

      Aber gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass Michael auch ein Junge war, der anderen gern Streiche spielte. Es gab also nicht nur Tränen und Theater in unserem Leben. Aus der Comedy-Sendung mit den drei Stooges hatte er sich abgeguckt, wie man herumblödelte und andere zum Lachen brachte. Das liebte er. Er schnitt gern Gesichter, riss die Augen groß auf, blies die Backen auf und schürzte die Lippen, vor allem dann, wenn jemand gerade ganz ernsthaft sprach. Einmal hielt mir Joseph einen Vortrag, weil ich irgendetwas nicht erledigt hatte. Es war nicht so schlimm, dass ich deswegen Prügel kassiert hätte, aber ich musste mir eine ziemlich Standpauke gefallen lassen. Während unser Vater mit zornesrotem Gesicht vor mir stand, entdeckte ich plötzlich Michael hinter ihm, wie er diese Grimasse zog. Ich versuchte mich auf Joseph zu konzentrieren, aber nun steckte sich Michael auch noch beide Finger in die Ohren, und damit hatte er mich. Unwillkürlich musste ich grinsen. „Junge!“, donnerte Joseph. „Lachst du etwa über mich?“ Michael war in diesem Augenblick natürlich schon wieder in unser Zimmer verschwunden.

      Er und Marlon hatten sich sogar einen Spitznamen für Joseph einfallen lassen: Eimerkopf. So nannten sie ihn natürlich nur hinter seinem Rücken; wenn er dann gerade zufällig des Weges kam, brachen sie in lautes Kichern aus. Wir nannten ihn aber auch „der Falke“, weil er sich immer einbildete, dass er alles sah und wusste. Das war der einzige Spitzname, den wir ihm jemals verrieten. Der gefiel ihm – er hörte sich respektvoll an.

      Josephs Jähzorn und sein harter Erziehungsstil werden heute sicherlich kaum noch Unterstützung finden, aber im Laufe meiner Jugend begann ich zu verstehen, welche Überlegung hinter den Schlägen steckte. Zunächst war uns überhaupt nicht bewusst, was für große Sorgen es unseren Eltern bereitete, dass der Einfluss gewalttätiger Banden Mitte der Sechzigerjahre enorm wuchs und sich in der Nähe viele Jugendgangs gründeten. Die Polizei im Bundesstaat Indiana richtete ein eigenes Dezernat für Bandenkriminalität ein; an der Schule kursierten Gerüchte, dass in unserem Viertel mit Automatikwaffen geschossen werde und das FBI die Nachbarschaft überwache. In Chicago wurden in einer Woche 16 Jugendliche von Kugeln getroffen, zwei davon tödlich.

      Im Regal Theater ging das Management so weit, uniformierte Polizisten dazu anzuheuern, damit sie in der Lobby und vor den Ticketschaltern patrouillierten, weil Gangs die Gegend unsicher machten. Diese Geschichten kamen natürlich auch den Vätern im Stahlwerk zu Ohren. Joseph war nicht nur fest entschlossen, dass wir unser Leben nicht in der Fabrik vergeuden sollten, er wollte auch um jeden Preis verhindern, dass wir uns mit den Gangs einließen – und damit womöglich unseren (und seinen) Traum ruinierten. 1970 sagte er in einem Zeitungsinterview: „In unserem Viertel kamen viele Kids auf die schiefe Bahn, und wir waren der Ansicht, dass es für die Familie sehr wichtig sei, andere Beschäftigungen für unsere Kinder zu finden, um sie von der Straße und den Versuchungen der modernen Zeit fernzuhalten.“

      Die Anwerber der Gangs stürzten sich vor allem auf Jugendliche, die leicht zu beeindrucken waren (und das waren wir alle). In einer Stadt mit hoher Scheidungsrate, in denen Kinder vielfach keinen Respekt vor ihren Vätern hatten, bot die Zugehörigkeit zu einer Gang eine Art Ersatzfamilie und die Möglichkeit, sich die Liebe seiner „Brüder“ zu verdienen. Genau davor hatte Joseph Angst, und natürlich auch davor, dass uns etwas Schlimmes zustoßen würde. Seine Sorgen bekamen neue Nahrung, als Tito auf dem Weg von der Schule abgepasst und mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurde, sein Essensgeld herauszugeben. Wir erfuhren davon, als er ins Haus gestürmt kam und schrie, ein anderer Junge habe versucht, ihn umzubringen.

      Joseph traf nun seine eigenen Maßnahmen. Zum einen sorgte er dafür, dass wir eine Aufgabe hatten, nämlich die ständigen Proben. Dadurch waren wir gezwungen, sofort nach der Schule nach Hause zu kommen, und hatten keine Zeit, draußen zu spielen. Und zum anderen wurde Joseph zu einem Menschen, den wir mehr fürchteten als alles andere. Indem er sich zum Haustyrannen entwickelte, verhinderte er, dass wir uns von den Tyrannen der Straße einschüchtern ließen. Das funktionierte auch; wir hatten vor ihm wesentlich mehr Angst als vor irgendwelchen Gang-Mitgliedern. Michael hat einmal gesagt, dass Joseph am Anfang recht viel Geduld mit uns hatte, später dann aber immer strenger wurde, und das geschah just zu der Zeit, als die Gang-Kriminalität immer weiter anstieg. Während unserer Kindheit wurden wir dazu angehalten, mit unseren Geschwistern zu spielen; nie durften wir bei irgendwelchen Freunden übernachten. Außer Bernard Gross und Johnny Ray Nelson von nebenan kannten wir andere Kinder eigentlich nur aus der Schule.

      „Die Außenwelt hereinlassen“, wie Mutter das nannte, brachte einige Gefahren mit sich, weil niemand wissen konnte, was ein Kind aus einer anderen Familie an schlechten Gedanken, schlechten Angewohnheiten und häuslichem Ärger mit sich bringen mochte. „Eure besten Freunde sind eure Brüder“, pflegte sie zu sagen.

      Nach unserem Verständnis waren „Außenstehende“ allesamt Menschen, denen nicht recht zu trauen war, und wenn man so aufwächst, dann gibt es darauf nur zwei Reaktionsmöglichkeiten: Man wird entweder sehr vorsichtig und misstraut jedem, der nicht zur Familie gehört, oder man verfällt ins andere Extrem und lässt jeden an sich heran, um die Einschränkungen der Vergangenheit zu vergessen.

      Nachdem die Bedrohung durch die Gangs immer mehr zum Problem wurde, hielten unsere Eltern uns noch mehr im Haus; wir wurden sogar für den letzten Tag im Schuljahr entschuldigt, weil das traditionell der Termin war, an dem unter den Kindern Rechnungen beglichen wurden. Joseph dachte darüber nach, mit uns nach Seattle zu ziehen, weil es dort angeblich sicherer war. Unter seinem Regime sahen wir zwar vielleicht manchmal Sterne, wenn er unsere Hinterteile mit einem Ledergürtel, der Rute oder manchmal auch dem kaputten Kabel des Bügeleisens verdrosch, aber Messer, Schusswaffen, Schlagringe, Polizeiwachen oder die Notaufnahmen der Krankenhäuser blieben uns erspart. Joseph tat vermutlich, was er im Licht der damaligen Zeit und der damaligen Umstände für das Beste hielt.

      Tito und ich nahmen auf dem Weg zu unserer neuen Schule, der Beckman Middle, oft eine Abkürzung über ein Stück unbebautes Land, das sich zwischen unserem Haus und der Delaney-Siedlung befand, wo sich die Gangs zusammenrotteten. Eines Tages sahen wir einen Polizisten, der neben einem großen Blutfleck stand, der sich im Schnee ausgebreitet hatte. Wir fragten, was passiert sei, und bekamen zur Antwort, dass wir das wohl nicht wirklich wissen wollten. Aber wie Kinder nun einmal sind, ließen wir ihm keine Ruhe. Also bot er uns ein ungewöhnliches Wort an, um der Sache die Härte zu nehmen. Zu Hause fragten wir, was „enthauptet“ bedeutete. Jemand war „enthauptet“ worden. Mutter war völlig entsetzt, ebenso wie ein paar Wochen später, als ich ihr erklärte, dass mein neuer Schulweg gar nicht so übel sei; die Gang-Mitglieder waren wirklich freundlich und winkten, weil wir als Jackson 5 einigen Respekt genossen. „Diese Jungs sind nicht gut, Jermaine. Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat – halte dich von ihnen fern.“ Also wurde der Weg zur Schule durch die Delaney-Siedlung mit ihren Wäscheleinen, den verstreut herumliegenden Spielsachen und ausgeweideten Autowracks ein Spießrutenlaufen mit gesenktem Kopf, bei dem wir versuchten, jeglichen Blickkontakt mit anderen zu vermeiden.

      Aber dann rückten die Gangs und ihre Kämpfe immer weiter an unsere Straße heran. Von unserem Wohnzimmerfenster aus bekamen wir drei üble Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Banden mit. Als die Gangs sich näherten – eine kam die 23. Avenue herunter, die andere die Jackson Street –, schrie Mutter, wir sollten sofort alle ins Haus kommen und die Türen und Fenster schließen. Unsere fünf kleinen Köpfe sahen vermutlich aus wie Orgelpfeifen mit Afro, als wir aufgereiht am Fenster standen und das Geschehen zu beobachten versuchten.

      Einmal liefen die Dinge völlig aus dem Ruder. Zwei Gangs hatten sich ausgerechnet an unserer Straßenecke zu einem Kampf verabredet, und in der Schule war schon viel über diesen Showdown geredet worden. An besagtem Tag wurden wir wieder im Haus eingeschlossen, und als wir lautes Geschrei hörten, wussten wir, dass die Kontrahenten ganz in der Nähe sein mussten. Und dann ertönte ein Knall, ein Schuss. Wir machten lange Hälse. „Runter! Alle runter!“, brüllte Joseph. Die ganze Familie warf sich auf den Boden. Rebbie, La Toya, Michael und Randy schrien und weinten, Joseph hatte die Wange auf den Teppich gepresst und die Augen weit aufgerissen. Es wurden wohl noch zwei weitere Schüsse abgefeuert, und wir blieben eine Viertelstunde regungslos liegen, bevor Joseph vorsichtig prüfte, ob die Luft rein war. „Versteht ihr jetzt, was ich euch immer gesagt habe?“, fragte er.


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