Fantasy. Martin Hein
Wir gingen also gemeinsam zum Frisör. Ich bekam die coole Frisur, er hat bezahlt. Ich glaube, es hat sieben Monate gedauert, bis ich schuldenfrei war.
Ich besaß immer viele Freunde, war jedoch nicht unbedingt der allerbeste Schüler. Besserer Durchschnitt, würde ich sagen. Ich war nie ein Einser- oder Zweier-Kandidat, aber meine Drei in allen Fächern hatte ich sicher. Sport war mein Lieblingsfach, vor allem Fußball. Davon konnte ich nie genug bekommen, an den Wochenenden war ich teilweise von morgens 10 bis abends um 20 Uhr auf der Straße, mit einer kleinen Mittagspause. Ich war natürlich auch im Fußballverein, machte Karate und spielte viele Jahre Tischtennis. Bis dann irgendwann die Mädels interessant(er) wurden.
Mit meinem Bruder hatte ich, zumindest bis ich 13, 14 wurde, ein ziemlich inniges Verhältnis. Ich übernahm für ihn die Beschützer-Rolle, da ich schließlich der Ältere war. Letztendlich war es schließlich dann sogar die Musik, die uns ein wenig entzweite. Mein Bruder liebte Depeche Mode und spielte später in einer Death-Metal-Band Gitarre, ich wiederum liebte und sang Schlager, und da ist dann jeder seines Weges gegangen. Wir haben aber nie den Kontakt zueinander verloren und sind als Brüder bis heute eng verbunden. Wir telefonieren auch regelmäßig und versuchen, uns alle paar Wochen zu treffen.
Meine Jungs aus Voerde und ich haben bis heute engen Kontakt. Wir treffen uns, so oft es geht. Ein Ritual besteht seit unserer Jugend: Wir fahren einmal im Jahr für vier Tage in den Urlaub. Nur wir vier Männer, ohne Frauen. Für diese besondere Freundschaft bin ich unendlich dankbar. Durch Frank, Stefan und Oliver habe ich erst so richtig Deutsch gelernt. In Polen redete ich zwar mit meinen Großeltern ein bisschen. Aber erst in Voerde, zusammen mit den Jungs, wurde es zu meiner Muttersprache.
Eines Tages sagte meine Mutter dann: „Kinder, morgen gibt es neue Sachen zum Anziehen.“ Da haben wir uns sehr gefreut. Allerdings sind wir nicht zu Kaufhof oder C&A gegangen, um eine neue Jeans zu kaufen. Sondern es ging zur Kleiderkammer des Deutschen Roten Kreuzes. Wir stellten uns in eine Schlange mit etwa 20 Mitwartenden, und nach gut einer Stunde kamen wir endlich dran. Wir durften uns zwei Pullover, eine Hose, Strümpfe, eine Jacke und ein Paar Schuhe aussuchen und kamen uns vor wie unterm Weihnachtsbaum. Die Sachen gefielen mir. Erst auf dem Heimweg schoss mir ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf: „Was passiert, wenn einer meiner Klassenkameraden seinen alten, ausrangierten Pullover weggeworfen hat und ihn nun an mir wiedererkennt?“ Ich malte mir aus, wie ich ausgelacht werden würde, weil einer der Jungen rief: „Hey, Martin. Den Pulli hast du wohl aus dem Altkleidersack gestohlen, oder!?“
Ich schämte mich. Die neuen-alten Sachen trug ich wochenlang erst mal nur zu Hause. Irgendwann ging ich damit dann aber auch zur Schule. Und: Es ist gutgegangen. Selbst wenn einer wusste, woher ich meine Kleider hatte, so war er doch so anständig und hat den Mund gehalten.
Die ersten Wochen in Deutschland lebten wir von Sozialhilfe. Erst später fand meine Mutter den Job in der Raststätte. Nebenbei besuchte sie einen Sprachkurs, um Deutsch zu lernen. Dort hat sie auch meinen Stiefvater kennengelernt: Franz. Wir mochten ihn auf Anhieb. Er besaß einen Videorecorder und einen Golf und war fast wie ein Kumpel zu Damian und mir. Wir durften ihn gleich duzen. In Polen ist das Kindern bei Erwachsenen nicht erlaubt, außer bei den Eltern und den Großeltern. Zu allen anderen musste man extrem höflich sein.
Als meine Mutter uns ihren neuen Freund vorstellte, sagte er hingegen sofort, wir sollten Franz zu ihm sagen. Meine Mutter war sicherlich erleichtert, dass wir den neuen Mann an ihrer Seite so offen und großherzig aufgenommen haben. Aber Franz machte es uns auch einfach. Wir konnten es kaum abwarten, bis endlich wieder Wochenende war. Er ging mit uns zum Eis essen oder zum Fußball und brachte jedes Mal, wenn er kam, einen neuen Videofilm aus der Videothek mit. Ab sechs Filmen wurde es billiger. Wir durften uns aussuchen, was wir sehen wollten. Wir liebten Karate-Filme. Vor allem den Schauspieler Bruce Lee, der ein begnadeter Kampfkünstler war. Seine Filme, um die wir uns regelrecht rissen, hießen: Todesgrüße aus Shanghai, Der Mann mit der Todeskralle, Die Geburt des Drachens. Er war so cool!
Franz wurde in unserer Familie also extrem schnell aufgenommen. Einen besseren Mann und Menschen an ihrer Seite hätte meine Mutter nicht finden können. Er hat uns Kinder niemals angebrüllt oder geschlagen. Egal, welchen Mist wir anstellten, er war für uns da und stand uns sogar bei, wenn meine Mutter schimpfte. Franz war etwa zur selben Zeit wie wir aus Polen ausgewandert. Im Sprachkurs in Oberhausen lernten meine Mutter und er sich kennen. Dank Franz besaß sie schnell einen großen Freundeskreis, denn in unserer Nähe lebten viele Polen. Wir waren wie eine große Familie, trafen uns regelmäßig zum Grillen oder am Badesee. Das war toll. Und durch Franz hatten wir nun auch ein eigenes Auto und endlich wieder einen normalen, in unseren Augen schon fast luxuriösen Lebensstandard. Als meine Mutter fragte, ob wir etwas dagegen hätten, wenn Franz bei uns einziehe, jubelten wir vor Freude …
Der Videorekorder gehörte nun also auch fest zur Familie. Franz arbeitete als Bergmann unter Tage. Er ackerte ziemlich hart, 1.000 Meter unter der Erde, acht Stunden täglich bei 40 Grad. Ich bin mir sicher, dass er diese Tortur in erster Linie für meine Mutter und für uns Kinder auf sich genommen hat. Er war es, der uns keinen Wunsch abschlug, im Gegensatz zu meiner Mutter. Wenn ich ein Paar neue Turnschuhe haben wollte, sagte sie nein, Franz ja. Er ermöglichte uns ein Leben, in dem wir uns schöne Dinge leisten konnten, und schenkte uns dazu noch ganz viel Liebe und Zuwendung. Wann immer wir ihn brauchten, Franz war und ist (bis heute) für uns da.
Für sich und für uns hätte meine Mutter keinen besseren Menschen finden können. Nie hat er sich in ihre Erziehung eingemischt. Ich kenne das gar nicht, dass er irgendwie brüllte: „Martin, komm mal her, was habt ihr da gemacht?“ Er hat mit uns immer nett gesprochen und uns verwöhnt. Ich weiß noch, dass ich einmal unbedingt eine Hose der Marke Vanilla haben wollte, die aber über 100 Mark kostete. Undenkbar für meine Mutter! Mein Kumpel Frank, dessen Eltern wesentlich mehr Geld zur Verfügung hatten als wir, besaß diese Hose natürlich schon in drei Farben. Klar, dass ich auch eine haben wollte. Ich steckte mitten in der Pubertät und nervte meine Mutter kolossal. Sie aber blieb streng: „Nein, die Hose gibt es nicht.“ Ich maulte tagelang. Irgendwann sagte Franz in seiner ruhigen Art zu meiner Mutter: „Ach, komm doch, Ursula, wir kaufen Martin diese Hose, wenn er sie sich so sehr wünscht.“ Meine Mutter gab nach, wahrscheinlich des lieben Friedens willen. Franz hatte einmal mehr in meinem Sinn gesprochen. Ihn als Stiefvater zu haben war ein Traum.
Trotzdem hatte ich regelmäßigen Kontakt mit meinem leiblichen Vater, der etwa 70 Kilometer von uns entfernt wohnte. Ich bin mir sicher, dass ich meine Liebe zur Musik und meine lustige, vorlaute Art von ihm geerbt habe. Zumindest sagen alle in unserer Familie, dass ich wie eine jugendliche Kopie von ihm wirke. Und meine Mutter behauptete immer, ich hätte sogar die Art, wie ich gehe, von ihm geerbt.
Kapitel 8:
Martins Vater verlangt einen Vaterschaftstest
Mein Papa hat die Trennung von meiner Mutter nie verkraftet. Er wollte sie nicht. Ich habe später oft darüber nachgedacht, weshalb diese Jugendliebe scheitern musste. Für mich steht eindeutig fest, dass die Erwartungen auf beiden Seiten zu hoch waren. Keiner konnte dem anderen geben, was er all die Zeit über vermisst hatte und sich nun so sehr wünschte. Meine Mutter wusste, dass sie ihre Schwiegermutter hätte aus der Wohnung werfen müssen, aber das wollte sie natürlich nicht. Mein Vater wiederum zeigte sich überhaupt nicht einsichtig, und als sie ihm die Meinung geigte, fing die Trennungsschlacht an.
Vater sah plötzlich alles nur noch negativ und überzog seine Noch-Frau mit einer juristischen Klage nach der anderen. Jeder Mist wurde vor Gericht verhandelt. Er quälte und schikanierte meine Mutter, wo er nur konnte. Sogar die Tatsache, dass meine Mutter bei unserer Ausreise aus Polen seinen alten braunen Filzhut vergessen hatte, war ihm einen Gerichtsprozess wert. Er führte an, es habe sich immerhin um ein recht wertvolles Erbstück gehandelt. Meine Mutter musste also in den Zeugenstand, wir Kinder saßen weiter hinten auf den Besucherplätzen im Saal und verfolgten staunend den Streit zwischen unseren Eltern. Dem Richter sagte sie keck: „Entschuldigen Sie mal bitte, Herr Richter. Sie wollen mich bestrafen, weil ich diesen alten Hut vergessen habe, mit dem die Kinder in Polen Räuber und Gendarm spielten? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?!“ Die Klage wurde abgewiesen. Meine Mutter kochte trotzdem vor Wut.
Sie