Fantasy. Martin Hein
fast 40 Jahre her. Doch sobald ich an den Tag zurückdenke, weine ich sofort los. Das ist wirklich schlimm.
Als mein Onkel und meine Tante nach Hause kamen, sahen sie erschöpft und traurig aus. Sie nahmen uns in den Arm und sagten: „Papa ist gestorben.“ Ich habe geantwortet: „Siehst du, du hast mir verboten, mit ins Krankenhaus zu kommen. Ich wollte den Papa doch so gern noch mal sehen. Das geht jetzt nicht mehr …“ In diesem Moment sind viele, viele Tränen geflossen – und von meiner Mutter gab es immer noch kein Lebenszeichen.
Mein Papa starb am 9. September 1978.
Ein Tag später ist meine Tante mit uns in die Stadt gegangen, um uns schwarze Kleider zu kaufen. Trauerklamotten. Wir waren bei C&A, und ich bin herumgerannt und habe nach bunten Sachen gesucht. Ich wusste ja nicht, dass man Schwarz tragen musste, wenn der Papa gestorben ist. Tante Eva hat mir eine geklatscht und gesagt: „Spinnst du? Du musst nach schwarzen Sachen suchen!“ Aber wie gesagt, ich wusste es nicht. Eine Stunde später sind wir mit zwei Plastiktüten voll schwarzer Kleidung mit dem Bus nach Hause gefahren. Tags darauf kam eine Frau vom Jugendamt. Sie hatte irgendwie mitbekommen, dass meine Mutter weg war und mein Vater gestorben. Sie wollte meinen Bruder und mich ins Heim bringen. Doch meine Tante trat ihr energisch entgegen: „Nein, das machen Sie nicht. Mein Mann und ich nehmen unsere Neffen bei uns auf. Wir werden sie adoptieren. Wir lieben sie ohnehin schon wie eigene Kinder.“
In dem Moment klingelte es. Tante Eva öffnete die Tür – und meine Mutter kam rein. Ich war so was von heilfroh, habe geschrien vor Freude, rannte zu meiner Mutter und habe sie ganz fest gedrückt. „Mama, Mama, du bist wieder da! Geht’s dir gut?“ Sie nickte und weinte und hielt meinen Bruder und mich fest in ihren Armen.
Die strenge Frau vom Jugendamt wirkte nicht besonders erfreut und fing natürlich sofort an, Mama zu verhören: „Sie haben sich nicht um Ihre Kinder gekümmert. Wo waren Sie denn?“ – „Ich wusste nicht, dass mein Mann im Krankenhaus ist. Ich dachte, meine Kinder sind bei ihrer Tante in guten Händen. Mein Mann wollte mich umbringen. Ich bin abgehauen, weil ich Angst hatte. Ich war mir sicher, dass er den Kindern nichts tun würde, da sich ja auch meine Schwägerin um sie kümmerte. Ich wusste, meinen Jungs würde es gutgehen. Aber erst einmal musste ich mich in Sicherheit bringen.“
Na ja, da war meine Mama also wieder zurück und ich heilfroh. Wir konnten dann auch sofort wieder hoch in unsere eigene Wohnung.
Mama hat uns später erzählt, sie habe bei der Nachbarin angerufen und gefragt: „Hat sich mein Mann endlich beruhigt?“ Die habe ihr dann erzählt, dass er gestorben sei und sie nun keine Angst mehr zu haben brauche, wenn sie nach Hause komme. Natürlich kann man sich nun zurecht fragen: Wieso lässt eine Frau ihre Kinder allein beim Vater zurück, wenn dieser sie umbringen wollte? Was ist, wenn er auch den Kindern etwas angetan hätte? Es war in der Zeit seiner Krankheit ja nicht nur einmal vorgekommen, dass unser Vater unsere Mutter verprügelte. Wir haben das als Kinder alles mitbekommen.
Mein Papa hätte aber auch mich einmal beinahe mit einem Kissen erstickt. Obwohl er mich sehr liebte. Damals bin ich drei oder vier gewesen. Er war kein von Natur aus aggressiver Mensch. Nur wenn er sich im Alkoholrausch befand – und in der Zeit, als er krank war. Ich kann mich noch gut erinnern, wie das damals war, obschon ich noch so klein war. Ich verhielt mich an diesem Abend wohl ziemlich hysterisch, und mein Vater war mit der Situation komplett überfordert. Er nahm ein Kissen, drückte es mir aufs Gesicht und wollte mich so beruhigen. Was natürlich komplett nach hinten losging. Ich bekam vor lauter Panik sowieso schon keine Luft mehr und schrie noch lauter. Meine Mutter kam dann ins Zimmer gerannt: „Bist du denn verrückt geworden? Lass den Jungen in Ruhe.“ Sie stürzte sich auf ihn und schlug auf ihn ein. In dem Moment ließ er von mir ab.
Apropos: Als Baby wäre ich eines Tages fast schon einmal erstickt. Mein Papa kam damals von der Arbeit und hatte was getrunken. Meine Mutter bat ihn, auf uns Kinder aufzupassen und uns etwas zum Abendbrot zu machen. Er schob einen Braten in den Ofen und ist dann auf dem Sofa eingeschlafen. Ich lag im Bett, mein Bruder spielte. Der Braten fing an zu brennen, die ganze Wohnung war schon voller Qualm. Als meine Mutter von der Arbeit zurückkehrte, riss sie die Fenster auf. Sie erzählte mir, ich hätte einen knallroten Kopf gehabt, geschrien und total schlimm gehustet. Sie ist bis heute davon überzeugt, dass ich erstickt wäre, wenn sie nicht rechtzeitig zurückgekehrt wäre. Mein Vater hat seelenruhig seinen Rausch ausgeschlafen und nichts von dem angebrannten Stück Fleisch mitbekommen.
Mein Papa wurde drei Tage nach seinem Tod in Essen beerdigt. Diesen Geruch in der Leichenhalle werde ich niemals vergessen. Es stank nach Holz und Lack, ein eigenartiger Geruch war das. Hin und wieder mal, wenn ich in ein Möbelgeschäft gehe, steigt mir der Geruch von Schränken in die Nase, die so riechen wie der Sarg meines Papas. Das ist für mich ein unerträglicher Geruch …
Wir sind also in die Leichenhalle rein – meine Mutter und Tante Eva kümmerten sich um meinen Bruder und mich. Wir standen dann alle da, und meine Tante schob mich zum Sarg und sagte: „Jetzt geh mal hin, und küss deinen Vater auf die Stirn, so wie es in Kroatien üblich ist. Du siehst ja, alle hier machen das.“ Sie war streng, deshalb kannte sie keine Gnade mit mir.
Ich habe meinen Papa dann angeguckt und fand, dass er sehr schön aussah im Sarg. So blöd das auch klingen mag, aber er sah wirklich so aus, als würde er ganz friedlich schlafen. Er hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, ein Auge war leicht geöffnet. Man hätte denken können, er würde uns zusehen, wie wir um ihn trauern. Trotzdem war er mir auch ein wenig unheimlich, und ich hatte das Gefühl, dass dieser Mann hier nicht mein Papa war, weil er sich gar nicht bewegte. Als ich ihn dann küssen sollte, bin ich aus der Leichenhalle abgehauen. Ich rannte raus, habe fürchterlich geweint und wiederholte ständig: „Den Mann küsse ich nicht. Das ist doch nicht mein Vater. Warum bewegt er sich denn nicht?“
Beim Leichenschmaus passierte etwas Skurriles. Heute kann ich darüber lachen. Als Kind war ich jedoch einfach nur schockiert. Unter den Gästen befand sich auch eine uralte Tante meines Vaters. Sie hieß Tante Luise und stammte aus der deutschen Familie meines Vaters, wir hatten nie engen Kontakt mit ihr gehabt. So saßen wir also bei Kaffee und Kuchen, ich bekam ohnehin keinen Bissen runter, weil ich so traurig war, und mitten in die Stille hinein sagte diese alte Frau: „Wisst ihr was: Wenn ich sterbe, könnt ihr mich auf den Bauch legen und alle mal am Arsch lecken.“ Es war mucksmäuschenstill. Ich riss die Augen auf und dachte: Wie kann sie denn bloß so etwas sagen? Dann fing ich an zu weinen und sagte, das sei doch mein Papa, wie sie so etwas Böses sagen könne? Ich war entsetzt. Das war nicht lustig. Niemand hat in dem Moment gelacht.
Kapitel 4:
Für Fredi, seinen Bruder und seine Mutter geht das Leben weiter
Einige Monate später haben wir erfahren, dass meine Mutter einen neuen Freund hat. Heute nehme ich an, dass es ihn schon gab, als sie zwei Wochen lang verschwunden war, und dass sie bei ihm Unterschlupf gefunden hatte. Sie wollte nie so recht mit der Sprache rausrücken, wenn wir sie fragten, wo sie gewesen sei. Sie meinte, anfangs sei es nur ein guter Bekannter gewesen, der sich um sie gekümmert habe, als es ihr wegen Papa so schlechtgegangen sei. Irgendwann sei dann Liebe daraus geworden. Letztendlich war und ist es mir auch egal. Ich gönne meiner geliebten Mutter alles Glück dieser Welt, da sie noch viel zu jung war, als mein Vater starb. Was sie in den Jahren davor erlebte, war ja auch nicht gerade toll gewesen. Meine Mutter war mit 27 bereits Witwe, hatte zwei kleine Kinder, und mein Vater hinterließ ihr nur Schulden.
Mein Bruder und ich freuten uns über den neuen Mann im Haus – auch wenn wir unseren Vater natürlich vermissten. Aber Kinder arrangieren sich meist (und zum Glück) sehr schnell mit den Gegebenheiten und leben absolut im Hier und Jetzt. Ich sah ihren neuen Freund Ivan jedenfalls vollkommen pragmatisch: Er war zwar nicht mein Papa, aber Mama hatte nun wenigstens einen Mann.
Bei Ivan haben wir dann recht schnell für viele Jahre gewohnt. Wir Kinder kannten ihn übrigens bereits vom Sehen, als er mit Mama zusammenkam. Er hatte früher mit meinem Vater und meinem Onkel gearbeitet; und er wohnte sogar für eine gewisse Zeit bei meinem Onkel und meiner Tante, weil er damals keine Wohnung besaß. So hat er wohl auch meine Mutter kennengelernt und war von Anfang an mit unseren schwierigen familiären Umständen vertraut. Deshalb war er mir