Fantasy. Martin Hein
er auf einmal anfing, uns zu schlagen, wenn wir zu spät nach Hause kamen. Vor allem auf mich hatte er es abgesehen. Ich habe mehr Schläge abbekommen als mein Bruder. Wahrscheinlich war er eifersüchtig auf mich, weil ich schon immer Mamas Liebling gewesen bin. Keine Ahnung. Ich habe ihn nie danach gefragt, weshalb er sich mir gegenüber so brutal verhielt.
Beim ersten Mal war ich so entsetzt und überrumpelt, dass ich gar nicht dazu kam, mich zu wehren. Er hatte mich an beiden Händen gefasst, zog mich mit seinen großen Händen hoch, bis ich in der Luft hing, und hat mir dann mit seinem breiten Ledergürtel auf den Hintern geschlagen. Meine Mutter wollte dazwischengehen: „Hör auf, meinen Sohn zu schlagen“, rief sie. Da ließ er mich runter. Mir hatte es nicht viel ausgemacht, ich war es ja von meinem Vater gewohnt, ab und zu geschlagen zu werden. Ich war einfach nur entsetzt und habe ihn ab dem Moment nicht mehr gemocht.
Als ich 13 war und er mich wieder einmal schlagen wollte, bin ich hinter den Tisch gelaufen und drohte ihm: „Wenn du mich noch einmal anrührst, sage ich meinem Onkel Bescheid, dann wird er dich mal ordentlich verprügeln. Du hast kein Recht dazu. Du bist nicht mein Vater.“ Ich hatte es in Wahrheit bereits meinem Onkel erzählt, dass Ivan mich schlug. Und der meinte: „Sag ihm, wenn er das noch mal macht, dann komme ich vorbei.“ Und von dem Tag an hat er mich wirklich nicht mehr angefasst. Er meinte lediglich zu meiner Mutter: „So, jetzt kannst du sie selbst erziehen. Es sind ja deine Kinder. Mir ist egal, was später mal aus ihnen wird.“ Und das war es.
Anfangs pendelten wir zwischen unserer und Ivans Wohnung, aber eigentlich waren wir öfter bei ihm. An den Wochenenden sowieso, da er unter der Woche auf Montage arbeitete und nur samstags und sonntags Zeit mit meiner Mutter verbringen konnte. Und wir mussten dann natürlich mitkommen, weil wir noch zu klein waren, um allein daheimzubleiben. Ivan hatte bloß eine Einzimmerwohnung mit einem Doppelstockbett: Meine Mutter und er haben unten geschlafen, mein Bruder und ich oben. Falls wir ihm zu laut wurden, weil das Bett natürlich quietschte, wenn sich zwei Jungs darin umdrehten, meinte er: „Die Matratze muss runter. Ihr pennt auf dem Boden.“ Ab da mussten wir auf dem Boden schlafen – die Matratze lag direkt neben dem Kühlschrank. Können Sie sich vorstellen, wie laut das ist, wenn man die ganz Nacht über dieses Brummen am Ohr hat? Wir taten kein Auge zu. Bei jedem Kühlschrankgeräusch (und die verdammten Dinger sind laut!) sind wir aufgeschreckt. Dieser eine Raum war ganz, ganz schlimm.
Ivan hat am Wochenende von morgens bis abends Fußball gehört. Diese kroatischen Mittelwellensender, bei denen man kaum etwas verstand, nur ein lautes Rauschen vernahm. Manchmal hörte er auch englische Sender, weil er Fan des englischen Fußballs war. Einmal, ich war zehn oder elf, wagte ich ihn zu fragen: „Verstehst du überhaupt was, du kannst doch gar kein Englisch?“ Er hob nur die Hand und sagte: „Halt die Klappe.“ Dann hat er weiter gehört. Die Aussagen des Moderators, wenn man ihn überhaupt verstand bei den lauten Nebengeräuschen, waren aber eh immer die gleichen: „One to two, one to two, one to three, one to four, one to two.“
Ivan hatte nur Fußball im Kopf. Und meine Mutter hat ihm währenddessen die Wohnung saubergemacht, seine Wäsche gewaschen und gebügelt, für uns alle gekocht und sich nach dem Abwasch damit begnügt, neben ihm auf dem Sofa zu sitzen – und Fußball zu hören. Wahrscheinlich ist aus mir deshalb nie ein Fußball-Fan geworden, weil Ivan das abschreckende Beispiel für mich war!
Irgendwann, man mag es kaum glauben, wurde er dann allerdings aus unerfindlichen Gründen sogar doch noch richtig nett, und da konnte ich ihn wieder recht gut leiden. Wir sind nach dem Tod meines Vaters immer wieder mit ihm gemeinsam in den Urlaub nach Kroatien gefahren und haben auch seine Mutter und seinen Bruder besucht, die dort lebten. Sie mochten mich und haben mich behandelt wie Ivans eigenen Sohn. Wirklich sehr lieb. Auch meine Oma hatte diesen komischen Kerl in ihr Herz geschlossen. Eigentlich muss ich sagen, dass wir in Kroatien wie eine kleine Familie waren. Dort schien er viel entspannter und gelöster als in Essen. Als ich 15 oder 16 Jahre alt war, hat meine Mutter die Beziehung zu ihm offiziell beendet, und ich muss zugeben, dass es mir ein bisschen leidtat.
Als ich 16 war, sind wir umgezogen, von diesem schrecklichen Altbau in eine Wohnung in der Viehofer Straße in Essen. Ich freute mich total, denn nun wohnten wir mitten in einer Einkaufsstraße. Außerdem war es ein relativ gutes Haus, und wir hatten sogar endlich unser erstes eigenes Badezimmer in der Wohnung, nicht mehr auf dem Flur wie in der Vergangenheit. Das Beste allerdings: Wir bekamen eine Heizung …
Ich besaß ein eigenes Zimmerchen. Ein ganz, ganz kleines, aber ich hatte einen Balkon, und es war tatsächlich mein eigenes Reich. Ich war das glücklichste Kind in der ganzen Stadt – und fing dann auch an, für mich zu singen. Zu der Zeit war das Duo Modern Talking total erfolgreich. Ich mochte deren Musik, und außerdem hatten sie immer auf der Rückseite ihrer Platten eine Instrumentalversion der ganzen Lieder. Das war praktisch, denn nun konnte ich zum ersten Mal mit Begleitung deren Lieder singen. Eine perfekte Übung.
Kapitel 5:
Fredis großer Bruder kommt ins Heim
Ich bin meinem Vater sehr ähnlich, obwohl mein Bruder immer behauptet, er komme mehr nach ihm als ich. Ich hingegen finde, Djordje sieht meiner Mutter ähnlich. Mein Bruder ist überhaupt ganz anders als ich. Was uns vereint, ist der frühe Tod meines Vaters, der uns beide völlig aus der Bahn geworfen hatte. Mein Bruder war immer Papas Liebling. Als mein Vater dann starb, war Djordje völlig am Boden, er war ja damals schon zehn Jahre alt und ahnte viel genauer als ich, wie sehr uns unser Papa fehlen würde. Mein Bruder hat damals komplett den Halt verloren und fand in dieser schweren Zeit leider die falschen Freunde. Irgendwann fing er an zu klauen und wollte auch mich dazu überreden. Da er mein großer Bruder war und ich mir wünschte, dass er stolz auf mich sein konnte, begleitete ich ihn auf seinen Streifzügen durch Kaufhäuser und Geschäfte. Wir haben Bleistifte und Süßigkeiten geklaut, ich auch, obwohl ich mir vor lauter Angst, erwischt zu werden, beinahe in die Hose machte. Gott sei Dank liefen wir nie einem Kaufhausdetektiv in die Arme. Das hätte unserer Mutter das Herz gebrochen, wenn die Polizei uns aufgegabelt und nach Hause gebracht hätte.
Meine Mutter musste auf jeden Pfennig achten. Es kam regelmäßig vor, dass wir nicht genügend Geld hatten, um Lebensmittel zu kaufen. Diese Tage, an denen der Kühlschrank leer blieb, waren die Hölle! Wir hatten Hunger. Also zogen mein Bruder und ich los, um einkaufen zu gehen. Djordje hatte viel mehr Mut als ich. Wir packten den Einkaufswagen voll, und als wir kurz vor der Kasse waren, sind wir losgerannt. An der Kassiererin vorbei. Er hat es sogar noch geschafft, Plastiktüten mitgehen zu lassen. Wir sind gerannt, als wäre der Teufel hinter uns her. In einer abgelegenen Straße packten wir alles in die Tüten, dann gingen wir nach Hause. Natürlich hatte ich jedes Mal Angst davor, erwischt zu werden. Ich habe auch geweint und mit meinem Bruder geschimpft: „Djordje, bist du bescheuert, du kannst doch nicht rausgehen und klauen. Wenn jetzt die Polizei kommt.“ Ich traute mich gar nicht, die Lebensmittel anzurühren, obwohl mir mein Magen vor lauter Hunger in den Kniekehlen hing. Ich war ja eh so dünn und klapprig, dass ich aussah wie ein hungriges Kind aus Äthiopien. Doch die Angst vor der Polizei lag mir wie ein Stein im Magen. Erst als drei, vier, fünf Stunden vergangen waren und keine Polizei vor unserer Tür stand, entspannte ich mich. Ich habe uns dann Nudeln mit Tomatensoße gekocht, das war mein Lieblingsessen.
Wir hatten einige dieser Situationen. Mein Bruder rutschte immer mehr ab, er ging kaum noch zur Schule, hing mit Kumpels ab, wurde frech, prügelte sich ständig. Als Djordje 13 Jahre alt war, wurde seine Klauerei so schlimm, dass er mehrfach von der Polizei aufgegriffen wurde. Auch das Jugendamt schaltete sich ein, und nun konnte meine Mutter ihre Augen vor diesem Drama nicht mehr verschließen. Die Dame vom Jugendamt war sogar noch ganz nett, als sie meine Mutter ins Gebet nahm: „Mensch, Frau Malinowski. Sie müssen sich jetzt um Ihren Sohn kümmern, das geht so nicht weiter. Bei uns stapeln sich Anzeigen und Beschwerden. Wenn das so weitergeht, kommt Ihr Sohn ins Heim.“
Da war natürlich zu Hause der Teufel los. Meine Mutter, gerade 30 geworden, war mit der Situation vollkommen überfordert. Und ich hatte jetzt natürlich erst richtig Angst, weil ich befürchtete, das Jugendamt könne unsere kleine Familie auseinanderreißen und womöglich auch mich in ein Heim stecken. An manchen Tagen war meine Panik so übermächtig, dass ich gar nicht mehr zur Schule gehen wollte. Ich hatte Angst, dass die Lehrer