Fantasy. Martin Hein

Fantasy - Martin Hein


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„Ich will wieder nach Kroatien, die sind alle blöd hier, die verstehen mich gar nicht.“ Meine Mutter entgegnete: „Was hast du denn gesagt? Hast du mit denen kroatisch gesprochen?“ Und ich: „Ja, aber die verstehen mich nicht.“ Da meinte sie: „Fredi, du musst doch deutsch mit ihnen sprechen.“ Als ich am nächsten Tag zum Spielen raus bin, redete ich deutsch, und alles war wieder gut. In jenem Moment machte es klick bei mir. Ich erinnerte mich daran, dass ich ja eigentlich Deutscher bin.

      Der spätere Umzug in eine Dreizimmerwohnung – Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche – kam uns vor wie ein Lottogewinn. Aber nur für kurze Zeit, denn wirklich verbessert hatten wir uns nicht. Mein Bruder und ich mussten uns mit unseren Eltern das Schlafzimmer teilen. Die Fenster waren alt, es zog wie Hechtsuppe. Es gab kein Badezimmer, die Toilette war im Flur. Wir hatten keine Heizung, sondern einen Kohleofen und so gut wie keine Möbel. Meine Mama und mein Papa waren eigentlich gut zu mir. Bis auf wenige kleine Ausnahmen. Aber da komme ich gleich noch drauf zu sprechen.

      Kurz bevor ich eingeschult wurde, hatte ich jedenfalls zum Beispiel noch nicht mal eine Schultüte. Es war schlicht kein Geld dafür da. Unten im Haus gab es einen Schreibwarenladen, „Schreibwaren Schiel“ hieß der. Früher war es gang und gäbe, dass man dort anschreiben lassen konnte. Ich habe dann so lange gebettelt, bis meine Mutter mit mir hingegangen ist und wir eine Schultüre aussuchten, die wir anschreiben ließen und in Raten abbezahlten. Ich war so stolz! Sie war blau, mit einer silberfarbenen Rakete draufgeklebt. In meiner Tüte waren jedoch nicht mal ansatzweise so viele Geschenke drin wie bei den anderen Kindern. Aber das störte mich nicht. Hauptsache, ich durfte sie im Arm halten.

      Im Kunstunterricht malte ich eines Tages ein Bild, darauf waren ein blauer Himmel, das Meer und eine Riesensonne. Meine Lehrerin sagte: „Das hast du ganz toll gemalt. Du hast das beste Bild gemalt in der ganzen Klasse.“ Obwohl ich sonst gar nicht so begabt war, was Malen angeht. An diesem Tag bin ich überaus glücklich nach Hause marschiert und dachte, jetzt würden mein Papa und meine Mama mich loben. Denkste. Sie haben mich ausgelacht und meinten: „Das hast du nie im Leben selbst gemacht. So toll kannst du gar nicht malen.“ Da war ich natürlich sehr enttäuscht und habe fürchterlich geweint. Und hatte auch danach irgendwie keine Lust mehr, ihnen noch mal was zu zeigen.

      Heute weiß ich, dass das Bild, das ich damals gemalt habe, sicherlich meine große innere Sehnsucht nach Kroatien widergespiegelt hat. Das Bild kam ganz tief aus meinem Inneren.

      Kapitel 3:

      Als Fredi sieben Jahre alt ist, stirbt sein Vater

      Als ich in der ersten Klasse war, wurde mein Vater krank. Meine Mutter musste nun die Familie allein ernähren. Sie war von früh bis spät arbeiten; verschiedene Putzstellen, Geschirr spülen in einer Kneipe bis in die späte Nacht hinein usw. Wir hatten kein Geld, mein Vater war immer wieder arbeitslos gewesen, weil seine Chefs über kurz oder lang mitbekamen, dass er heimlich zur Flasche griff, und er deshalb seine Jobs verlor. Richtig lang war er aber nie ohne Arbeit. Er trank auch nicht täglich, es waren immer nur Phasen.

      Eines Tages nahm er mich auf den Schoß. Meine Mutter war noch arbeiten. Es war schon abends, 22 Uhr, und mein Bruder und ich lagen bereits im Bett. Papa kam ins Zimmer, setzte sich ans Bett meines Bruders und bat mich, zu ihm zu kommen. Dann erklärte er uns, dass er bald sterben werde. Wir waren Kinder und überblickten die Bedeutung seiner Worte für unser weiteres Leben noch nicht wirklich. Er hatte Tränen in den Augen, deshalb waren wir natürlich ganz traurig, hatten Angst und sagten: „Papa, warum erzählst du denn so etwas? Das kann doch nicht sein. Nur alte Menschen müssen sterben, oder?!“ Er lächelte und sagte: „Nein. Auch Kinder oder Mamas und Papas müssen manchmal sterben. Ich bin schwerkrank und werde euch bald verlassen müssen.“

      Erst viel später erfuhren mein Bruder und ich, dass Papa zu diesem Zeitpunkt noch gar keine tödliche Diagnose bekommen hatte. Aber er ahnte und spürte wohl in jener Nacht, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Papa hatte Lungenkrebs. Und leider nahm dann auch alles schnell seinen Lauf. Allerdings verschlechterte sich nicht nur seine körperliche Verfassung. Auch sein Wesen veränderte sich komplett. Anstatt liebevoll und im Einklang mit uns die ihm verbleibende Zeit zu genießen, wurde er immer launiger und boshafter und flippte oft wegen Kleinigkeiten aus. Aber nicht nur das. Manchmal schrie und schlug er wild um sich. Heute erkläre ich mir sein Verhalten mit der Todesangst, die er gehabt haben muss. Er konnte nicht offen über seine Gefühle reden und versuchte die Angst, meine Mutter und uns zu verlieren, mit sich selbst auszumachen, was leider völlig nach hinten losging. Er wurde nervös, aggressiv und laut und hat des Öfteren meine Mutter geohrfeigt.

      Ich erinnere mich an eine Situation, da war ich sechseinhalb, kurz vor Papas Tod. Ich kam von der Schule nach Hause. Mein Vater lag im Bett, und meine Mutter war nicht da. Ich fragte: „Wo ist denn die Mama?“ – „Die ist weg. Die kommt auch nicht mehr“, antwortete er. Ich stand vor ihm und dachte, er mache einen Scherz. Doch er lachte nicht, und ich wollte ihn nicht unnötig anstrengen. Also ging ich ins Wohnzimmer und spielte. Als ich ins Bett ging, war meine Mutter immer noch nicht zu Hause. Ich war mir sicher, dass sie noch arbeitete, konnte jedoch die ganze Nacht über kein Auge zutun, weil ich lauschte, ob die Wohnungstür geöffnet würde. Aber sie kam nicht. Ich war schließlich todmüde, und irgendwann grübelte ich mich in den Schlaf und versuchte, mich zu beruhigen: Mensch, Fredi, die Mama kommt schon morgen früh, jetzt schlaf mal schön ein.

      Doch morgens war sie immer noch nicht da. Mein Bruder schmierte uns ein Marmeladenbrot, dann gingen wir zur Schule. Papa lag im Bett. Er verlor kein Wort über Mama. Als ich von der Schule heimkam, war sie noch nicht da. Und als ich ins Bett ging auch nicht.

      Am nächsten Morgen ging es meinem Papa plötzlich ganz schlecht. Er fing an, Blut zu spucken, auch aus der Nase lief Blut. Ab diesem Tag hatte er überhaupt keine Kraft mehr, aufzustehen. Er war ein Pflegefall geworden. Doch wer sollte ihn pflegen, wenn Mama nicht da war? Mama, wo bist du? Wir hatten keine Ahnung. Ich sah, wie schlecht es meinem Vater ging, und trotzdem habe ich immer noch gehofft, es würde alles wieder gut werden. Nie im Leben hätte ich daran gedacht, dass mein Vater wirklich sterben würde. Ich versuchte mich abzulenken und ging raus, um meine Mutter zu suchen. Jedes Mal, wenn ich eine Frau sah, die lange schwarze Haare hatte, bin ich ihr hinterhergerannt und habe ihr ins Gesicht geguckt. Mist, sie war es wieder nicht. Ich war sehr enttäuscht. Das war echt schlimm.

      Zwei Wochen lang blieb Mama verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Weder mein Vater noch mein Onkel Karlheinz oder meine Tante Eva, die im selben Haus wohnten wie wir, sprachen über sie. Während dieser zwei Wochen ging es meinem Vater immer schlechter. Als ich eines Abends vom Spielen nach oben in unsere Wohnung kam, lag Papa nicht mehr in seinem Bett. Ich rannte zu meiner Tante runter, klingelte wie wild und schrie: „Wo ist denn der Papa?“ Sie sagte: „Der ist hier bei mir, dem geht’s grad nicht so gut.“ Ich war erleichtert. Okay, hier unten war er in guten Händen. Onkel Karlheinz war der Bruder meines Vaters, sie hatten ein enges Verhältnis, was wohl auch der schlimmen Kindheit in Kroatien geschuldet war.

      In dieser Nacht kam ein Krankenwagen und holte Papa ab. Tante Eva war in unserer Wohnung. Sie flüsterte: „Kinder, ihr bleibt im Bett. Der Papa muss jetzt ins Krankenhaus.“ Dann war mein Papa im Krankenhaus, meine Mutter blieb verschwunden, und mein Bruder und ich waren allein. Wir wohnten zwar bei unserer Tante. Aber ich fühlte mich total verloren und im Stich gelassen und hatte schreckliche Verlustangst. Jetzt waren alle beide weg! Wo steckten sie denn? Die kommen nicht mehr wieder, ging es mir durch den Kopf, und ich muss bei meiner Tante bleiben. Ich will aber nicht bei meiner Tante bleiben. Ich will zu meiner Mama und zu meinem Papa.

      Ich heulte Rotz und Wasser. Ein typisches Kinderverhalten eben. Zwei Tage später hatte ich mich mit der Situation arrangiert. Ich verdrängte die Wahrheit und war nach der Schule draußen bei den anderen Kindern, wir spielten. Plötzlich rief mich unsere Nachbarin zu sich und sagte: „Fredi, komm schnell her. Du sollst sofort zu deiner Tante gehen, dem Papa geht’s nicht gut im Krankenhaus.“ Sie kannte die Wahrheit, weil ihr Mann im selben Klinikzimmer lag wie mein Papa.

      Meine Tante und mein Onkel sind dann sofort ins Krankenhaus gefahren –

      und ich durfte nicht mitkommen. Ich wollte jedoch so gerne mit. Aber meine Tante hat es mir verboten.


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