Macht. Klaus-Jürgen Bruder
offenstand, als das Annehmen neuer Regeln des (Nicht-)Kontakts: den anderen nicht heranzulassen, ja ihn zurückzuweisen, wenn er zu nahe kommt, überhaupt misstrauisch gegen jeden zu sein, die bisherigen Regeln lauthals zu sanktionieren, beispielsweise bisher übliche Einkaufgewohnheiten als »Hamsterkauf« zu diffamieren, das nicht sofort einwilligende Denken zum Feind zu erklären.
Gewiss: Ganz so naiv war die Bevölkerung auch vorher nicht: Unzufriedenheit hatte viele Gründe und Anlässe, auch Ängste, den bisherigen Standard zu verlieren, nach unten zu fallen, breiteten sich aus und waren bereits »nach unten« weitergegeben worden.
Aber diese Reaktion hatte jetzt Verstärkung erfahren, ebenso wie das Erleben der Bedrohung. Es ist ja auch bedrohlich zu hören, dass eine ungeheure Epidemie, die bereits in China viele Opfer gefordert hat, nun auch uns in Europa erreicht. Und nachvollziehbar ist ebenso, dankbar die vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen anzunehmen und darauf zu achten, dass auch die anderen diese befolgen.
Aber einigermaßen verblüffend ist, dass dies alles so ohne jede Frage und in einer Heftigkeit geschieht, dass vereinzelter Widerspruch sofort aggressive Abwehr hervorruft, wie wir sie schon lange nicht mehr erlebt haben, wie wir sie eigentlich nur aus Zeiten kennen, in denen Kritik an den Handlungen des Staates zur Denunziation des Feindes geführt hatte.
Gut, man kann einwenden, dass zu diesem Zeitpunkt niemand die Anweisung aus dem Bundesinnenministerium9 gekannt hatte, in der die Bearbeitung der Bevölkerung durch massive und geschlossene Angstkampagnen vorgeschlagen worden war – denn diese kursierte nur als Verschlusssache für den Dienstgebrauch.
Und Angst zu machen ist eine alte Herrschaftstechnik.
Aber trotzdem gab es nicht den Funken von Nachdenken: dass es ja sehr auffällig hätte sein müssen, dass dieselben Leute und Stellen keinerlei Vorsorge für den Fall getroffen hatten, dass das bereits seit Monaten grassierende Virus auch zu uns kommen könnte – und es war ja auch nicht die erste Epidemie. Wie sich ebenfalls erst jetzt herausstellte, waren epidemiologische Forschungen, die in der Folge früherer Epidemien deren Erfahrungen berücksichtigen hätten können, eingestellt worden. Ebenso wie der gesamte Gesundheitssektor, sowohl personell als auch materiell abgebaut und privatisiert worden war und damit dem Regiment und Prinzip der Profitproduktion Einzelner unterstellt.
Den dafür Verantwortlichen nahm man plötzlich die Sorge um uns ab, man sprach ihnen die Kompetenz zu, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen und Maßnahmen ergreifen können! War Angst – vor der Gefahr des Virus – doch das Entscheidende, das das Denken ausgeschaltet hat? Die Angst, die Panik, die geschürt wurde durch unzureichende Information – sowohl über die Gefahren, vor denen sich zu schützen sei, als auch über das »Wie« des Schutzes.
Ununterbrochen wurden die neuesten Meldungen über steigende Zahlen – von Infizierten – durchgegeben, als »Fälle« wurden sie bezeichnet, womit der Anschein erweckt wurde, es handle sich um Kranke. Nur höchst selten wurden diese Zahlen ins Verhältnis gesetzt zu den Zahlen der durch die Infektion Gestorbenen. Wie Klaus Püschel, Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Hamburg nachweisen konnte (2020), war bis zum Zeitpunkt seiner Untersuchungen Anfang April 2020 noch niemand an einer Corona-Infektion gestorben, sondern allenfalls mit einem positiven Testwert – »im Zusammenhang mit Corona«! Ebenso wurden die Zahlen nicht ins Verhältnis zu den Zahlen anderer Jahre gesetzt, sodass das Gefühl des Schreckens an keinen Grenzen innehalten konnte. Nur nebenbei erfuhr man, dass im Jahr zuvor 24 000 Menschen an Grippe gestorben waren – was zum Zeitpunkt der damaligen Epidemie keiner einzigen Erwähnung wert gewesen war (Schiffmann 2020).
Eine zentrale Rolle spielten bei der Entfesselung der Panikstimmung die Medien. In der Verschlusssache des Innenministeriums wird ihnen diese Aufgabe zugeschrieben, die Bevölkerung durch Angstkampagnen zur Zustimmung zu den neuen Verhaltensvorgaben und Einschränkungen zu bringen. Das geschlossene Auftreten der Medien entspricht den Anweisungen des Ministeriums. Viele Medien, die bereits vorher unkritisches Sprachrohr der Politik waren, wurden zum Organ der Verbreitung der offiziellen Verlautbarungen, das keiner anderen Stimme Raum ließ. Der Vergleich mit George Orwells 1984 drängte sich auf: »Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke« – die Verkehrung aller Begriffe in ihr Gegenteil.
Wir kannten das zwar bereits aus der Zeit, als der Neoliberalismus aus der Umkodierung der Werte der 68er-Bewegung Profit zu schlagen versuchte, in dem er die Verwirklichung von »Autonomie, Selbstbestimmung, Emanzipation« versprach. (vgl. Boltanski & Chiapello 1999). So wurde nun »Solidarität« die fraglose Übernahme der Parolen, der Ansagen der Regierung genannt – die »Volksgemeinschaft« war nicht weit entfernt. »Zu ihrem Schutz« wurde die Anordnung begründet, ältere Menschen abzusondern. »Verantwortungslos« wurde nun genannt, wer sich nicht bedingungslos einreihte.
Auch wenn diese Verkehrungen an Menschenverachtung grenzten, grundlegende Selbstverständlichkeiten ethischer Gebote, ja des menschlichen Wesens schlechthin missachten, so das Kontaktverbot, auch zwischen Großeltern und Enkeln, von der praktisch vollständigen Schließung der Restaurants, Cafés und Freizeiteinrichtungen oder dem Verbot öffentlicher Treffen und Demonstrationen zu schweigen, wurden sie mit einer empirisch nicht belegten »erhöhten Ansteckungsgefahr« begründet, selbst wenn diese von Experten, die nicht zu den Regierungsberatern im weiteren Sinne zählten, bestritten worden war.
Die Statistiken der Anzahl der mit Corona-Infektion Gestorbenen wurden inkorrekt geführt, man muss es Fälschung nennen. Und trotzdem stellten sich die Millionen nicht ein, die zur Begründung der Maßnahmen herangezogen worden waren. Und dann, als die Zahlen einfach nicht steigen wollten, wurden die »Ausnahmeregelungen« immer noch aufrechterhalten, ja sogar für die »Risikogruppen« verschärft (Telefonschaltkonferenz 2020): Pauschal sollen Ältere in Quarantäne abgesondert werden, gleichgültig ob sie »Vorerkrankungen« haben oder nicht haben.
Selbstverständlich wurde der Begriff der »Zwangsimpfung« zur gleichen Zeit aus dem Verkehr gezogen und stattdessen ein sogenannter »Immunitäts-Pass« als Bedingung, am sozialen Leben teilnehmen zu dürfen (Deutscher Ethikrat 2020),10 in das Vokabular des »Neusprech« aufgenommen: Nicht die Immunität des Trägers wird mit diesem Dokument belegt, sondern die Impfung – von der noch nicht mal sicher ist, ob sie Immunität herstellt oder zerstört (vgl. Bhakdi 2020; Yeadon 2020).11 Der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, gab im Interview bei »phoenix persönlich« zum Besten:
Wir gehen alle davon aus, dass im nächsten Jahr Impfstoffe zugelassen werden, wir wissen aber nicht genau, wie die wirken, wie gut die wirken, was die bewirken […] aber ich bin sehr optimistisch, dass es Impfstoffe gibt.
Also müsste die »Wirkung«, »Immunität« zu erreichen, auch auf einer anderen Ebene liegen, als der medizinischen. Als Psychoanalytiker kommt man ohnehin nicht umhin, an anderes zu denken, als an die uns unter die Nase gehaltenen Begründungen, entweder Überreaktion mit dem vorangegangenes Versagen bei der Vorsorge verdeckt werden soll oder Ausnützen der sich bietenden Gelegenheit, Probleme zu lösen, die unter zivilen Bedingungen auf Widerstand gestoßen wären, oder die Versuchung zum Staatsstreich und das Ausprobieren, wie weit die Bevölkerung das mit sich machen lässt: »Wir alle sind in einem riesigen psychologischen Experiment«, meinte der Psychologe Arno Deister – was er nicht sagt: ein Experiment über die Wirkungsweise des Diskurses der Macht –, gerade rechtzeitig vor der ökonomischen Krise (IWF 2020).
Und dieses Experiment zeigt uns, dass der Diskurs der Macht sich nicht nur auf der Ebene des Sprechens bewegt, der Ebene der Desinformation durch die Medien, sondern gleichzeitig auch die Handlungsebene einbezieht, die in den meisten Fällen der Wahrnehmung, dem Bewusstsein – der Bevölkerung – entzogen ist, »unbewusst gemacht« (Erdheim 1982). Die Maßnahmen, die zur Abwendung der behaupteten Gefahr der Bevölkerung aufgezwungen worden waren, hatten die Funktion, die Behauptungen über die Gefährlichkeit des Virus zu »beweisen«. Je mehr die Maßnahmen verschärft wurden, umso mehr stieg das Gefühl des Bedrohtseins durch das Virus, sollten sie doch dem Schutz vor diesem dienen. Dieses Gefühl aufrechtzuerhalten, ständig daran zu erinnern, ist die Funktion der Mund- und Nasenmaske. Dasselbe galt auch für die Taktik, die Maßnahmen immer wieder zu verlängern und nur »in kleinen Schritten« abzubauen, ebenso wie die gleichzeitige Erklärung