Gonzo. Matthias Röhr
immer.
Und natürlich gibt es auch Reibung. Innerhalb der Onkelz, außerhalb der Onkelz. Durch Reibung entsteht Wärme. Und es gibt niemanden, der auf einem Onkelz-Konzert friert …
Auch wenn nichts jemals ein Ende nimmt, weil wir auf einer bestimmten Ebene alle eins und miteinander verbunden sind, wie Pe einmal so schön sagte, möchte ich den jetzigen, bereits weiter oben angerissenen Status quo der Böhsen Onkelz nicht mehr missen. Die Band hat sich freigeschwommen, nachdem es ganz so aussah, als wäre sie ertrunken. Die Musiker haben wortwörtlich so viel gefeiert, gelitten und geliebt, dass auch Matthias das „Jetzt“ am liebsten konservieren würde.
So, wie die Band in den letzten fünfeinhalb Jahren zusammengehalten hat, kann es gern noch weitergehen. Matthias fühlt sich wohl. Sehr sogar. Musik bestimmte Zeit seines Lebens seinen Tagesablauf und hat ihn zu einem Menschen reifen lassen, der gewisse Ideale behalten und manche Prinzipien bewahren möchte.
Ideale, die auch bis heute gern missverstanden und falsch kolportiert werden. Was er ist, und wichtiger, was er nicht ist, haben er und die anderen Onkelz schon hundertfach erklärt. Diese Geschichte ist immer weitererzählt worden. So lange, bis davon nur noch Gemurmel übrig war. Und aus diesem Gemurmel wurde die Legende der Böhsen Onkelz.
In diesem Buch wird es aber nicht um Legendenbildung gehen. Ich schiebe den Nebel beiseite, er stört doch nur. Ich will, dass wir gemeinsam hinter den Vorhang von Matthiasʼ Leben gucken. Ein Leben, das nicht zuletzt auch das eines „böhsen Onkel“ ist.
Und trotzdem werden die nächsten Seiten kein Onkelz-Biografie-Ersatz oder die Fortführung einer solchen. Die Perspektive ist eine andere, aber das heißt nicht, dass es keine Überschneidungen geben wird.
Matthiasʼ Geschichte erzählt von Widerstand und Aufbegehren. Von einer Kindheit in Hessen, mitten in den Sechzigern, während der Bonner Republik. Sie erzählt von jugendlichem Leicht- und erwachsenem Wahnsinn. Von einer Liebe zur Musik und einem Bestreben, dieser durch sein Gitarrenspiel Ausdruck zu verleihen.
Matthias, Marco Matthes und ich zeichnen den Weg nach, den die Onkelz gemeinsam gegangen sind, und auch jenen, den er mit seiner Matt „Gonzo“ Roehr Band seit 2005 allein beschreitet. Und so vieles dazwischen. Liebe, Verlust. Familiäres.
Beginnen wollen wir bei einem Missverständnis, das dringend korrigiert werden muss. Ich will den dichten Nebel rund um die Entstehung seines Spitznamens durchschreiten, um dort, tief im Wust der Erinnerung, für Klarheit zu sorgen. Denn eigentlich war alles ganz anders, als bislang angenommen …
„Gonzo“. Die Genese seines Künstlernamens ist, im Kosmos der Böhsen Onkelz und aus der Perspektive der Fans, eine dieser nebulösen Legenden. Und Legendenbildung bedeutet auch ein Stück weit immer das Herbeidichten von Informationen. „Smoke and mirrors“ nennen es die Amerikaner. Die eigentlichen Fakten werden durch das geschickte Hinzufügen von Dingen, die der Phantasie des Autors entspringen, ausgeschmückt. So poliert man auf.
Es funktioniert allerdings auch in die andere Richtung. Man hobelt ab. Möglich ist auch, eine Legende zu kreieren, indem man die Variante einer Geschichte für wahr erklärt, die größere Strahlkraft besitzt. Und so hat man sich landauf und landab die Version erzählt, Matthias „Gonzo“ Röhr verdanke seinen Künstlernamen Theodore Anthony „Ted“ Nugent. Falsch.
Zeit, die Wahrheit zu erzählen. Zeit, zurückzublicken und auszuholen. Rufen wir den Architekten der Zeit, steigen wir in seine Maschine, und reisen wir zuerst einmal in die ausklingenden Siebzigerjahre.
Zusammen.
Dennis Diel, im August 2019
Ein Schwein und
ein Mann ohne Geschichte
sind das Gleiche
(Irisches Sprichwort)
Die Sonne sank langsam über die grünbewachsenen Hügel Irlands. Es war ein Anblick, den ich, der noch nie zuvor in Dublin war, das erste Mal zu sehen bekam und der mich nachhaltig beeindruckte. Man kam sich vor wie in einer dieser modernen Fantasy-Serien. George R. R. Martin oder Tolkien, wenn es beliebt. Wanderte man auf einen Hügel (davon gab es dort zahlreiche) und die Sonne stand günstig, hatte man das Gefühl, man könne über das ganze Meer sehen. Unendliche Weite. Regnete es und hingen die Wolken wieder einmal grau, voller Wasser und so tief, dass man förmlich nur die Hand ausstrecken brauchte, um sie zu berühren, gaben sie der Szenerie einen beinahe phantastischen Anstrich. Mich wunderte es nicht, dass man Kindern dort gern von Feen und Kobolden, von wilden Kreaturen und allerlei Sonderbarem erzählte.
Dieses Land atmet. Es sind Geschichten von alten Frauen und alten Männern. Geschichten vom Saufen und Jagen. Vom Fressen und Gefressen werden. Weitererzählt – immer wieder – von Generation zu Generation. Pure Magie. Kein Harry-Potter-Hokuspokus. Keine Aleister-Crowley-Schwarzzauberei, sondern der Zauber der Wälder, der Hügel und der Wiesen und Weiden, auf denen Tiere und Menschen leben.
Man konnte einen ganzen Abend und eine halbe Nacht lang Bücher über die Mysterien und Geheimnisse Irlands wälzen, und wenn der neue Tag anbrach, hatte man das Gefühl, nur einen klitzekleinen Bruchteil der Wunder und Sagen dieses Landes entdeckt zu haben.
Man erzählt über Irlands Natur, dass sie Kranke heilen und Gesunde inspirieren könne. Sie versöhne einen Städter wieder mit seinen Wurzeln, erde die Menschen, die dort lebten, und hole einen erfolgsverwöhnten, ehrgeizigen Musiker auf den Boden der Tatsachen zurück.
Wie viele hippe Menschen schreiben noch im Jahr 2019 über die großen Themen der noch hipperen Gesellschaften, in denen sie sich verlustieren. In Berlin, Düsseldorf, Köln, München und anderen Metropolen hocken sie über ihren MacBooks und geben Tipps zur besseren Lebensgestaltung in Blogs und Netzwerken.
Entschleunigung. Zeitmanagement.
Wer sich in Dublin länger aufhält als einen Augenblick lang, der entschleunigt von allein. Der braucht keinerlei Experten, die einem dazu raten. Die einem zeigen, wie man sich ausruht.
Zeitmanagement spielte hier überhaupt keine Rolle, weil die Zeit vermutlich auf keinem Flecken der Erde weniger Bedeutung besaß als in Irland. Hier lebte jeder nach seiner eigenen Uhr. Kühe und Schafe weideten auf schier unendlich großen Wiesen, und irgendwo, ganz weit weg, hörte man Autos fahren. Allerdings nur dann, wenn man sich auf sie konzentrierte.
Mir schoss beim Anblick unseres Hotels, das den ganz wunderbaren Charme eines mittelalterlichen Schlosses besaß, unmittelbar durch den Kopf, dass wir uns an einem Ort befanden, an dem man sowohl das Leben in jungen Jahren genießen als auch sich ganz hervorragend im Alter zur Ruhe setzen konnte. Ich kannte ähnlich prächtige Bilder nur von meinem privaten Schottland-Urlaub, der aber zu diesem Zeitpunkt schon ganze einundzwanzig Jahre zurücklag. Hier war das Leben so leicht und schwerelos wie eine Feder im Wind.
Dublin bot im Spätsommer gemäßigtere Temperaturen als zu anderen Jahreszeiten. Die Schwere des industriellen, die Leichtigkeit des urbanen und die Zeitlosigkeit des maritimen Charakters der Stadt goutieren Touristen besonders gern im September und Oktober. Dann neigt sich die Hochsaison gerade ihrem Ende entgegen, die Pubs leeren sich, und die Chance, einen Mietwagen zu bekommen, ist weitaus größer als im Sommer.
Zu viert saßen wir auf einer großen, steinernen Terrasse bei Familie Röhr. Matthias und seine langjährige Frau Verena, liebevoll Vreni genannt, hatten eingeladen, und gemeinsam redeten wir über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Es duftete ganz vorzüglich nach gutem Essen. Der Geschmack eines süffigen Weins lag mir noch auf der Zunge. Es war der Abend unseres ersten Tages, und ich überlegte, wie das, was wir in den vielen zurückliegenden Stunden besprochen hatten, adäquat zu Papier gebracht werden könnte. Jedes der zahlreichen Gespräche zu diesem Buch galt es, gewissenhaft aufzuzeichnen. Die essentiellsten der unzähligen Informationen, Anekdoten und kleinen, aber feinen Erinnerungen wurden verarbeitet und ergeben das große Ganze.
Ich erinnere mich noch sehr gut an eines der ersten Gespräche, die wir mit Matthias führten. Natürlich