Gonzo. Matthias Röhr
Guy. John Lee Hooker. Auch den Blues Rock von Johnny Winter, diesem legendären Gitarristen aus Texas, der, neben dem irischen Gitarristen Rory Gallagher, noch in den wilden Siebzigern zu Matthiasʼ größtem Idol an der Gitarre avancierte. Die Musikszene der amerikanischen Südstaaten kannte er bald aus dem Effeff.
Aber ebenso die größten Hits von Neil Young, Crosby, Stills, Nash and Young, den Byrds, Jimi Hendrix und vom geilen Rockabilly der Marke Link Wray. Grandioses, süchtig machendes Zeug wurde auf diesem Radiosender gespielt. Keine deutsche Provinzscheiße. Echte Weltmusik.
Schloss man die Augen, während im Hintergrund die heisere Stimme von Johnny Cash zu hören war, konnte man sicher sein, dass es keinen besseren Ort auf der Welt gab als jenen, auf dem diese Musik produziert wurde.
Das Live-Album One More From The Road der epischen Lynyrd Skynyrd rotierte während dieser unbeschwerten Jahre Hunderte Male auf dem Plattenteller Röhrs. Viele große Interpreten lernte Matthias – ausschließlich aufgrund dieses Senders – bereits zu so früher Zeit kennen.
Sie zogen ihn in ihren Bann. Die Jeff Beck Group, Jimmie und Stevie Vaughan und – natürlich – Mister Eric Clapton, der noch heute von ihm verehrt wird. Durch seine Liebe zum Rockabilly eignete er sich schon in den ganz jungen Jahren seines Gitarrespielens Licks an, deren Grundessenz man noch viele Jahre später in einigen Onkelz-Songs („Gehasst, verdammt, vergöttert“, „Finde die Wahrheit“, „Terpentin“ und anderen) wiederentdecken konnte.
Herr Ullrich vermochte die Musikbesessenheit seines jungen Schülers förmlich in dessen Augen zu sehen. Da bemerkte er immer stärker dieses Lodern, das er selbst sehr gut kannte. Weil er es einst selbst besaß. Ein Funkeln, das nur Menschen hatten, deren wahre Bestimmung die Kunst und nichts anderes ist. Das Flackern der Entschlossenheit derjenigen, die wollten, aber noch nicht konnten, weil sie noch an der Leine der Gesellschaft hingen. Irgendwo auf offener See, während der ach so wichtigen Lebensmissionen.
Geh deinen Weg, Sohn. Pass ja gut in der Schule auf, finde eine Ausbildung, eine Arbeit, und gründe eine Familie. Baue ein Haus.
Meistens kenterte genau dort das Schiff. Orientierungslos schwammen schon damals unzählige Teens und Twens um ihr Leben, auf der Suche nach einem Strohhalm. Nach einem kleinen Funken Hoffnung.
Ullrich nutzte die Gunst der Stunde, auch weil er wusste, dass ungenutztes Talent, das zu lange brachliegt, irgendwann zu faulen beginnt, und schubste Matthias in die Schulband der Realschule Kelkheim.
Fortan wurden Mini-Konzerte in der Aula oder der Kirche gegeben. Es fanden sogar kleinere Band-Casting-Wettbewerbe in den Vorräumen der Schule oder in Pfarrhäusern statt.
Und während einer dieser Auditions tauchte René auf. Ein Klassenkamerad von Matthias, der seiner Zeit eine ganze Armlänge voraus war. Oberlippenbart mit fünfzehn und einer der ersten Halbstarken mit einer echten Bomberjacke, frisch aus London importiert, von wo aus gerade die Subkultur der Punks ihre Finger nach der Jugend ausstreckte.
René war im Allgemeinen ein etwas zu alt aussehender Typ, dessen Aura Ernsthaftigkeit und Wahnsinn ausstrahlte. Er besaß zwar Gitarre und Verstärker, jedoch scheinbar kein großes Interesse, Teil der Schulband zu werden. Dennoch folgte er dem Lockruf des Castings. Und dort, in der großen, halligen Aula der Eichendorffschule angekommen, stellte er seinen Amp auf, schloss seine Gitarre an, und brachte – wortwörtlich aus dem Stand – viele der Anwesenden zum Staunen und Grübeln. Der Junge war ein Naturtalent.
Das damals noch gar nicht geläufige „Downbending“ der Gitarre, also die abrupte Höhenänderung des Tons mit Hilfe eines Vibratos während eines laufenden Songs, das auch, viel später, gern von Eddie Van Halen als Stilmittel eingesetzt wurde, gelang René – diesem verrückten Hund – völlig mühelos. Und das ganz ohne Vibrato, sondern ausschließlich durch die Verwendung der Stimmmechaniken an der Kopfplatte der Gitarre.
Und so setzte dieser Teufelskerl zum Solo an, wechselte auf die E-Saite, kurzer Kniff an der Mechanik, und schon klang der Ton aus heiterem Himmel völlig anders. Und wieder ein kurzer Dreher, schon ging es rauf mit dem Laut. Und dann tiefer. Und wieder höher. Technisch einwandfrei, ohne Störgeräusche oder Irritationen. Während Matthias dasaß und perplex war, gaben sich die „wahren“ Musik-Virtuosen aus dem Lehrerkollegium und der streberhaft-besserwissenden Mitschülerschaft ob der „Schändung der musikalischen Ästhetik“, die René dort „frivol zum Besten gab“, entsetzt.
Ne Kleiner, komm jetzt. Das war ja ganz nett, aber geh besser wieder heim.
So schickte man dieses Genie wieder nach Hause, hat ihn eiskalt abblitzen lassen. Mindestens ein Jahrzehnt war dieser Typ mit dem Oberlippenbart und der viel zu großen Bomberjacke den großen Gitarristen voraus. Modisch war er eh längst in den Achtzigerjahren angekommen, obwohl diese Dekade noch gar nicht begonnen hatte.
Der Moment, viele Jahre später, in dem das damals anwesende Kollegium und die Mitschüler angesichts der aufstrebenden Glam-Rock-Bands gemerkt haben dürften, was für ein Talent sie dort, an jenem Nachmittag, in der Schulaula mit Nichtbeachtung gestraft hatten, muss umwerfend komisch gewesen sein …
Das alles war für Matthias Motivation genug, noch tiefer einzusteigen. Eine eigene Band zu gründen. Und auch endlich den Plan, die über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Musikszene in Kelkheim abzuchecken, in die Tat umzusetzen. Raus aus der Taunus-Liederbach-Reihenhaus-Idylle, rein in die „echte Welt“, die in seiner Vorstellung von Menschen bevölkert wurde, die so drauf waren wie er selbst. Deren Lust und Treiben in der Musik einen großen, gemeinsamen Nenner fand.
Und die zum heiligen Geist des RockʼnʼRoll beteten. Vor seinem Altar der Riffs, Licks, Soli und tretenden Bässe niederknieten und seine Bibel, die Songtexte, verinnerlichten. In allen Facetten. Das war keine langweilige Fachsimpelei über Akkorde oder Noten, die eh kaum jemand lesen konnte, sondern echtes Herzblut und Engagement. Autodidaktischer Erwerb verschiedenster Spielarten. Tonleiter rauf und Tonleiter runter.
Doch die ersten Begegnungen verliefen anders, als Matthias gedacht hatte. Hier, im Herzen einer jungen, dynamischen Künstlerszene, interessierte man sich nicht sehr für den jungen Röhr. Die älteren und erfahreneren Musiker, Aficionados allesamt, orientierten sich an Bands und Musikern wie Black Sabbath, Deep Purple, ELP, Focus, Johnny Winter, UFO, Fleetwood Mac, Bob Dylan, David Bowie oder Led Zeppelin. Die Stones gingen schon auch klar – von allen geliebt wurden sie deshalb noch lange nicht.
Jagger und Richards spalteten die Gemeinde und wurden kontrovers diskutiert. Manche mochten sie aufgrund ihres Erfolges und des damit verbundenen Arschtritts in das Hinterteil der englischen Upper-Class, andere wiederum lehnten sie genau deshalb ab. An Glaubwürdigkeit mangelte es ihnen aber keineswegs.
Generell konnte man der Kelkheimer Szene eine große Offenheit bescheinigen. Es gab keinerlei Einschränkungen. Jeder hörte das, was er hören wollte.
Und jeder gab Plattentipps. Auf modernen Schallplattenspielern wurde das neue Zeug aufgelegt. Es wurde analysiert und verglichen. Was spielte der Gitarrist von Chicago? Was spielte Tony Iommi von Black Sabbath. Und, wichtiger, wie spielten die?
Nach der kurzen, aber durchaus intensiven Phase des gemeinsamen Abtastens mit den neuen Bekanntschaften in Kelkheim fing Matthias schnell an, Konzerte zu besuchen. Die Pubertät brachte natürlichen Freigeist mit, der durch die steten Erzählungen von Musiklehrer Ullrich, seiner Klassenkameraden und der älteren Teenager in Kelkheim nur noch genährt wurde.
Die Haare wuchsen. Sie wurden immer länger, und Matthias weigerte sich vehement, einer Friseurschere zu nahe zu kommen. Schon nach wenigen Wochen trug er eine schulterlange Matte. Weniger zur Freude der Eltern, die nicht nur seine haarige Entwicklung jeden Tag mitbekamen, sondern auch den Leistungsabfall in der Realschule höchst sorgenvoll zur Kenntnis nahmen.
Die Hoffnung, dass sich Matthias irgendwann für ein geregeltes Leben entscheiden und diese ganze Taugenichts-Ästhetik hinter sich lassen würde, wurde immer geringer.
Und was war, wenn ihr Sohn auch noch anfangen sollte, Drogen zu nehmen? Haschisch und Marihuana gehörten zum guten Ton und zur Grundausstattung vieler neuer Freunde von Matthias, der es – nach einigem Probieren – jedoch vorzog, beim Alkohol zu bleiben.