Gonzo. Matthias Röhr

Gonzo - Matthias Röhr


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      You can’t arrest me,

       I’m a rock star

      (Sid Vicious)

      Irgendwann kam jeder Mann an den einen, entscheidenden Punkt in seinem Leben, der ihn unweigerlich dazu zwang, alles zu hinterfragen, was bislang als feststehendes Gesetz (moralischer oder ethischer Natur) in ihm schlummerte.

      Veränderungen, die ihn dazu nötigten, seine bisherige Vita komplett zu hinterfragen.

      War ich bislang wirklich frei? Mache ich mir eigentlich irgendetwas vor, indem ich mir kontinuierlich einredete, ich sei glücklich? Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ich diese oder jene Abzweigung nicht gewählt hätte?

      Diese Fragen mochten für manche von geringerer, für andere von größerer Bedeutung sein, aber keiner konnte sich wirklich vor ihnen verstecken: Sie führten dich auf die Straße der Selbsterkenntnis, übernahmen dein Lebenssteuer, und wenn du es zuließt, brachten sie dich ein Stück näher ans Ziel. Egal, welches das auch immer war oder wo dieses auch immer liegen mochte.

      Und was ebenfalls stimmte: Die Fragen nach den essentiellen Bausteinen des eigenen Lebens tauchten bei manchen später, bei wenigen zu spät, bei anderen hingegen sehr früh auf.

      Matthias stellte sich diese Fragen schon zu einer Zeit, als Gleichaltrige noch auf der Suche nach sich selbst im Treibsand der Pubertät stecken blieben. Und er beobachtete genau, wie manche dieser Mitschüler sich erst mit ausgetreckten Armen und wild um sich schlagend aus dem Klammergriff der Schule befreien konnten. Oder aus dem Würgegriff der Eltern.

      Junge, es wird langsam sehr ernst. Du musst dringend eine Ausbildung finden. Aber wie willst du das ohne Abschluss schaffen? Meinst du, dafür haben wir dich auf die Realschule geschickt? Dass du keinen Abschluss bekommst?

      Nachdem dieser Junge in den Jahren 1976, 1977 und 1978 alles an Gitarrenmusik konsumierte, was nicht schnell genug vor ihm davonlaufen konnte, und nachdem er eifrig und mit unstillbarem Durst den Texten der großen amerikanischen Rockkünstler gelauscht hatte, verspürte er den Drang, sich weiterzuentwickeln.

      Dazu passte, dass diese Welt der Erwachsenen, die sich vor ihm auftat und in die er jetzt eigentlich hineingleiten sollte, irgendwie nach Fäulnis roch. Erst war es ein leichter, süßlicher Geruch, den man nur mit jeder Menge Konzentration wahrnehmen konnte. Doch mit der Zeit wurde er präsenter. So lange, bis sich dieser Mief nicht mehr ignorieren ließ. Kein Sagrotan konnte übersprühen, was derart stark verrottete. Ein Gestank, der von nun an immer über den Dingen hing, die ihm eine Lehr- oder anderweitige „Respektsperson“ erklären wollte.

      Waren die Schuljahre zuvor schon kaum auszuhalten, glichen sie jetzt, so kurz vor dem Ende der zehnten Klasse, purer, menschenverachtender Folter. Matthias kam alles, das Autorität und Obrigkeitsgehorsam ausstrahlte, komisch vor.

      Er mochte keine Lehrer, keine Staatsgewalt, keine Parteipolitik, aber noch viel weniger hatte er Verständnis für diejenigen, die sich all diesen Irrungen und Wirrungen unterwarfen, ohne sie zu hinterfragen.

      Von acht Uhr morgens bis dreizehn Uhr fünfzehn war krassestes Aus-dem-Fenster-gucken-und-Träumen angesagt. Auch der Musikunterricht konnte ihn nicht mehr retten, so gern er auch Herrn Ullrichs Ausführungen zuhörte. Ihm würde Matthias auf ewig dankbar sein. Dafür, dass dieser eine coole Lehrer ihn an die progressiven Rockbands herangeführt hatte, unter denen Deep Purple noch die zu ihrer Zeit harmloseste war.

      Die neunte Klasse musste er schon zwei Jahre zuvor wiederholen, und die Mittlere Reife stand im Sommer ʼ79 mehr als nur auf der Kippe. Es gab gutes, kaltes Dosenbier in den Pausen, auf die er immer so sehnsüchtig wartete wie der Häftling auf den Besuch seiner Liebsten. Diese kurzen zwanzigminütigen Momente der Freiheit rochen zwar noch immer grauenhaft-übel, besonders dann, wenn man den Jungentoiletten zu nahe kam, aber diese Momente gaben Matthias auch die Möglichkeit, seine ganze Ablehnung dem System gegenüber zur Schau zu stellen.

      Und wie er das genoss.

      Direkt angrenzend an das Schulgelände lag der Sportplatz mit seiner angeschlossenen Vereinsgaststätte. Hier trafen sich dreimal wöchentlich die Ingos, Kalles, Günters, Haralds und Dietmars des Ortes, um ordentlich abzupumpen und um zwischen zwei Schoppen die Ballkünste der eigenen Söhne zu kommentieren.

      „Nimm ihn nisch mit de Pick, verdomm nochmoar!“

      „Bub, jetzt schieß endlisch!“

      „Eieiei … aus deinem Jung wird nie ei gescheider Fussballeeer, gloob mir.“

      Der Wirt hieß Klaus W. und war eigentlich ein ganz guter Typ. Nach ein paar Wochen des Abtastens dauerte es nicht mehr lange, da hatte W. – pünktlich zum Große-Pause-Klingeln –, das Bier für Matthias und seine Kumpels auf der Theke stehen. Und dann wurde der Kopf in den Nacken gelegt, das Maul weit geöffnet und das Bier geext.

      Nachdem man festgestellt hatte, dass man auch in weniger als zwanzig Minuten mehr als einen Liter Gerstensaft trinken konnte, hatte sogar die Lehranstalt etwas Gutes.

      Die Realschule hörte unwiderruflich nach der zehnten Klasse auf, doch blieb man als Schüler in den Vorjahren mindestens einmal „kleben“, so war man automatisch immer ein Stückchen älter, stärker und größer als der Rest. Und man gab den Ton an.

      Zusammen mit Oliver, der schon immer als der Klassenstärkste galt, und einigen anderen „Null-Bock-Typen“ wurde geraucht, gepöbelt und gesoffen. Pünktlichkeit? Das Einzige, was Matthias zu dieser Zeit pünktlich wahrnahm, war das Klingeln zum Schulschluss.

      Und weil das begierige Warten auf den Nachmittag auch unweigerlich dazu führen musste, dass man sich kaum noch mit zu machenden Hausaufgaben beschäftigen wollte, war die logische Konsequenz klar. Und sie bedeutete eben nicht nur, dass man ihm den Realschulabschluss im Sommer 1979 verweigerte, sondern auch, dass man diesen ungehobelten, immer nach Nikotin und Alkohol riechenden, in Jeans und US-Army-Hemden gekleideten, langhaarigen, unerziehbaren Halbstarken zusammen mit fünf weiteren Krawallmachern von der Eichendorffschule schmiss.

      Das hatte gesessen.

      Damit sah es für das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland nach einem Sieg innerhalb von nur wenigen Runden und für Matthias „Gonzo“ Röhr nach einem Knock-out aus. Das Land verpasste dem rebellischen Teenager hier, der partout weder hören, geschweige denn zuhören wollte, einen ersten harten Schwinger, der ins Schwarze traf. Das war schon kein Warnschuss mehr. Die Faust traf direkt auf den Solarplexus.

      Daheim gab es eine Standpauke vom Allerfeinsten.

      „Ist das dein Ernst, Sohn? Wie soll es jetzt weitergehen?“

      Eigentlich war Matthiasʼ Rausschmiss aus dem Schulsystem nur folgerichtig. Besonders, wenn man die Entwicklung berücksichtigte, die er bis hierhin genommen hatte. Weniger als Trost, sondern vielmehr aus der Not heraus überreichte man ihm zähneknirschend einen Hauptschulabschluss, mit der Bedingung, sich in den letzten Wochen nicht mehr in der Schule sehen zu lassen.

      Das Zeugnis fiel genau so aus, wie man es erwartete. Und schon damals war der Abschluss der Hauptschule nicht unbedingt der Garant für einen Ausbildungsplatz. Joachim Röhr war nicht amüsiert. Ganz und gar nicht.

      Die letzten Schulwochen über ließ Matthias, der sich von nun an immer häufiger einfach Gonzo nannte, seine Tarnung fallen. Er gab einen Scheiß auf den Abschluss, den man ihm nicht geben wollte. Ihn kümmerten jetzt überhaupt keine Noten mehr, keine Klausuren, keine Hausaufgaben. Der gezielte Treffer der Eichendorff-Realschule in Kelkheim wurde von Matthias zwar registriert, aber danach konsequent ignoriert.

      Was andere Schüler schon bereut hätten, nachdem ihre Eltern ihnen die Hölle heißgemacht hatten, löste bei ihm nur ein desinteressiertes Schulterzucken aus. Ein kurzes „Abbutze und weidermache“, das warʼs.

      So was kam zuhause nicht gut an. Das konnte nicht sein Ernst sein, nicht als ältester Sohn der Familie. Nicht als der, der seinen drei Brüdern als Vorbild dienen und mit ihnen in die Zukunft schreiten sollte. Der Unfrieden kehrte in die eigenen


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